Die Karten deiner Träume

Die Elfenbeinterasse schien von einem gleißenden Feuer verschlungen zu werden, als über dir der Himmel von einem Moment zum anderen in blutroten Flammen aufging. Unter dir färbte sich hingegen das dichte Dach des Dschungels am Fuße der steilen Felsenklippen langsam rot, dann tiefblau und letztlich undurchdringlich schwarz. Die Sonne ging schnell unter hier am großen Strom und noch schneller zog die Kälte aus dem einstmals dünstend warmen Erdboden herauf. Leicht entspannt lehntest du an der Reling und sahst für eine Weile dem Sterben der Welt um dich herum zu. Ein sonnenheller Tag ging unvermeidlich zu Ende und gebar dabei in anmutigen Todeskrämpfen eine sternenklare Nacht, die vom angenehmen Geruch der aufblühenden Nachtgewürzpflanzen geschwängert war. Deren blauen Schein konntest du selbst durch das Ast- und Laubwerk des Dschungels unter dir erkennen. Tief sogst du ihren Duft ein.

“Aiiud, ein Fremder?”

Sie hatte dir ein Glas mitgebracht. Sanft sprudelte eine violette Mischung darin und der Duft des Gebräus ließ sofort traumtänzerische Bilder in deinem Kopf emporsteigen. Du nimmst an. Sie war wirklich hübsch! Das strähnige, blonde Haar fiel frech unter einer roten Kapuze hervor. Aufgeweckt und neugierig blitzten dich die stahlblauen Augen an. Das aufrichtige Lächeln zeigte makellos weiße Zähne und um den Mund herum vergruben sich spielerisch kleinere Lachfalten. Der Trank, den sie dir gereicht hatte, schmeckte bitter und leicht alkoholisch. Schnell wurdet ihr also heiter und ihr begannt euch offener zu unterhalten.

Und während der sterbende Tag den süßlichen Geruch des Todes um euch herum verströmte und während die beginnende Nacht den Mantel des Vergessens auf eure erhitzten Schultern legte, sitzt ihr beiden als die letzten aller Gäste draußen auf der Terasse und erzählt euch Geschichten vom Wollen, vom Suchen und von dem, was man selbst niemals finden kann.

Kapitel 1: Das Spiel der Obskuristen

»Wie ist dein Name?« Deine Hände zittern vor Anspannung, als sich der silbern glänzende Schlüssel im rostigen Schloss herumdreht. Die Tür ist alt und schwer, aus dicken Eichenbrettern gebaut sowie mit festem Eisen beschlagen. Hinter ihr liegt das Land deiner Träume. Und diese Träume müssen um jeden Preis beschützt werden. Die zehn Schlösser, zwölf Querriegel und das schwere Fallgatter, die alle zusammen den Abstieg in die Dunkelheit bewachen, sind somit nur die Oberfläche deiner mannigfaltigen Vorsichtsmaßnahmen. Sollte irgendjemand auch nur versuchen einzudringen in das Land deiner Träume, dann würde sein Körper lediglich Nahrung werden für weitere Gedanken und tiefsinnige Spinnereien im Inneren deiner Seele. Aber egal was er auch täte, er würde niemals zu dir hindurchdringen können. Denn auf nichts und niemanden wirst du dich einlassen und niemand wird hier jemals durch diese Tür Einlass erhalten. Das Land deiner Träume bleibt für immer beschützt.

Die Tür geht endlich auf. Das schweratmige Knarzen gefolgt von einem heulenden Luftzug aus der sich wie ein Maul aufsperrenden Dunkelheit vor dir lässt dabei deinen Körper beben vor Erwartung. Vielleicht ist es aber auch ein bisschen die beißende Kälte in dem vermoderten Kellergewölbe, die deinen alten Körper so zum Zittern bringt. Wie auch immer: Der Abstieg kann beginnen. Mit einer provisorischen Ölfackel in der Hand, deren Flamme deine vereisten Hände zumindest ein bisschen erwärmt, trittst du in die undurchdringliche Schwärze. Zuerst kannst du außerhalb des Lichtkegels der flimmernden Fackel absolut gar nichts erkennen, deine müden Augen werden mit jedem Schritt aber, den du tust, immer schärfer und lebendiger und nach der 100. Stufe bräuchtest du die Fackel eigentlich gar nicht mehr.

Die Aufregung scheint dabei deinem faulenden Körper neue Stärke zu verschaffen. Ja, du fühlst dich in der alten, zerfallenen Wendeltreppe aus Pergamont-Steinen, in der sich der stickige Modergeruch von Jahrtausenden sammelt, beinahe wieder wie ein frischer Jüngling mit vollkommener Mannesstärke. Die Kälte und Dunkelheit um dich herum haben dir sowieso noch nie Angst gemacht, auch die Einsamkeit und der langsame Verfall von Seele und Körper waren dir eher willkommene Begleiter auf deinen langjährigen Studien gewesen. Denn niemals hast du gezweifelt, an dem, was du tust. Schritt für Schritt, Stufe um Stufe, Jahr um Jahr, so ist es dahingegangen, immer im stählernen Griff der Einsamkeit und der hurenwarmen Brust der Verzweiflung. Und nun war es endlich soweit. Das Spiel… es begann!

Ja, in der Tat, durch uralte vermooste und vermoderte Mauersteine drangen nun plötzlich entfernte Stimmen. Es war ein wirres und dunkles Gesäusel, das wundervolle Verheißungen flüsterte und doch dabei nicht unterließ, grausige versteckte Drohungen darinnen zu verweben. Dein Mund scheint automatisch in diesem fremdartigen Chor einzustimmen, du musst gar nichts tun, denn du weißt die Worte schon seit langer Zeit auswendig. Zusammen singt ihr also, du und der mysteriöse Äther-Chor und während du die Stufen immer freudiger nimmst, so wird auch der ominöse Gesang hinter deinen Ohren immer lauter und begieriger. Es sind nämlich deine Mitspieler, die da singen. Und am Ende dieser Nacht würde letztlich nur noch eine Stimme davon erklingen. Deine Stimme.

Du kommst also am Absatz der schier ewig erscheinenden Wendeltreppe an und vor dir erhebt sich nun eine weitere Tür, die sich im Bau und ihrer Beschaffenheit identisch zur oberen erweist. Der Schlüssel war jedoch ein anderer. Mühselig kramst du in deinen zwanzig Taschen des schweren, braunen Stoffumhanges nach dem blutroten Schlüssel. Dieser Schlüssel war nämlich ein Öffner des Herzens und der tiefsten Sehnsüchte.

Als du jedoch die Verheißung persönlich in den Händen hältst, zögerst du tatsächlich ein erstes und ein letztes Mal. War es wirklich richtig, was du tust? All die Risiken, all die Zeit, all die Ressourcen und Opfer, die du in deinen langwierigen und mühevollen Aufstieg gesteckt hast, dies alles begann plötzlich schwer auf deinen müden Schultern zu wiegen. Doch auch diese Bedenken schüttelst du letztlich ab. Der Schlüssel klackt im Schloss. Die Tür geht leise schnaufend auf.

Dahinter liegt aber kein weiterer Abstieg, sondern stattdessen erstreckt sich nun eine weite Halle direkt vor dir, deren Decke sich nach oben hin in undurchdringliche Weite verliert. Du blickst hinauf. Dort, in der weiten sterngesäumten Nacht über dir – so begreifst du nun – liegt die Heimat deiner Ambitionen und Träume. Lächelnd schreitest du weiter.

Während also dein von neuer jugendlicher Kraft erfüllter Körper dich voranzieht, kommst du in ein wahres Gebirge aus turmhohen und schmuckvoll verzierten Bücherregalen, die den Geruch von Alter und Neugier verströmen. Seltsame Forschungseinrichtungen in versteckten Nischen, die mit noch bizarrerem Equipment übersät sind, lauern in den Tälern dazwischen. Es ist das Chaos der Forschung ohne jegliche Reue, das sich um dich herum ausbreitet.

Dort hinten schmiegt sich zum Beispiel das Okular des alten Seufzers an die edel holzvertäfelte Wand. Wenn man dort hineinblickt, so sagt man und so hast du es selbst gesehen, erstreckt sich vor einem die eigene Vergangenheit und dessen permanenter Verlust. Und es war genau eben diese Vergangenheit, die du die ganze Zeit erforscht hast. Die letzten 60 Äonen lang. Wie ist dein Name also?

Du gehst weiter und siehst nun zu deiner Rechten, versteckt zwischen zwei umgestürzten Eichentischen, spitzbübisch herauslugend den Spiegel der Fülle. Das Glas ist jedoch so milchig und verdreckt, dass du nicht einmal deine eigene Gestalt darin erkennen kannst. Aber ist das nicht auch der einzige Grund, wieso du diesen oberflächlich nutzlosen Spiegel überhaupt gekauft hattest? Es ist zudem der einzige Spiegel weit und breit, der sich in deinem hundert Quadratdimensionen großem Anwesen befand.

Schnell wendest du den Blick von seinem schelmisch blitzenden Gesicht ab. Die Vergangenheit, die du verloren hast und der Spiegel der kein Ich zeigt, wie ist dein Name also? Die Stimmen des Chores fragen dich immer noch. Doch du lässt dir Zeit mit deiner Antwort. Erst willst du den Spieltisch erreichen. Dann werden sie deinen Namen erfahren und auch du wirst letztlich ihr wahres Wesen erblicken müssen. Das machen Rivalen so unter sich eben.

Du stehst nun endlich vor der letzten Türe. Sie war jedoch anders gearbeitet, als die zwei Portale davor, denn wer hier durchschreitet, konnte nicht mehr zurückkehren, es sei denn, er geht als ultimativer Sieger aus dem ewigen Spiel hervor. Unter dem bohrenden Drängen des Chores – offenbar sind sie schon alle an ihren Plätzen und du bist der letzte Trödler – nimmst du schließlich also den raschelnden grünen Schlüssel in deine krallenartige Hand. Es ist der Schlüssel der Hoffnung. »Ich werde gewinnen, oder auf ewig schamvoll vor meinem eigenen Herzen niederknien müssen!« Du drehst den eisernen Knauf und ziehst die dunkelviolette Türe auf. Deine Augen weiten sich voller Freude und ein bisschen Angst. Hier steht er nun nämlich endlich vor dir, in einem klaustrophobisch niedrigen Felsengemäuer, an dessen Mitte nur ein einziger Stuhl platz hat: Der Spieltisch.

Du trittst ein und steckst zuerst die Fackel in eine eiserne Halterung rechts an der Wand. Das flimmernde Licht erhellt daraufhin eine grob gehauene Felsengrotte, inmitten darin erhebt sich verloren und einsam ein erstaunlich gewöhnlicher Tisch aus dunklem Eichenholz mit grünlichem Stoffbezug. Auf der Oberfläche des ungefähr 3 x 2 Meter großen Tisches sind weiße Markierungen und fremdartige Symbole aufgemalt, die auf dem ersten Blick zwar vollkommen zufällig anmuten, aber tatsächlich ein äußerst komplexes Spielfeld darstellen. Die düsteren Schatten der Grotte in Kombination mit dem erratisch flackernden Licht um dich herum lassen dabei das bizarre Spielfeld nur noch umso launischer und mysteriöser erscheinen. Wie magisch ziehen dich nun die verschiedenen Kreise, Vierecke, Dreiecke und vielfach verschlungenen Wegelinien an. Nur ein Adept der okkulten Künste konnte dabei hieraus seinen Sinn ziehen, die Karte, die unter all den wirren Markierungen lag, erkennen.

Beinahe andächtig schließt du nun die schwere Türe hinter dir ab und ziehst den Stuhl zurück, um endlich deinen Platz als Spieler einzunehmen. Die Karten stehen dabei schon vor dir bereit. Der Gesang des geisterhaften Chores hallt immer aufgeregter und ekstatischer von den massiven Steinwänden her, was deine eigene Erregung im selben Maße steigen lässt. Du kannst es nun deutlich fühlen. Das Blut in den Adern rauscht, die Hände schwitzen kalt: Endlich war es soweit. Du sitzt dich nieder und ziehst den dicken Kartenstapel, der in der Mitte des Tisches direkt auf der mit eleganten Kreidestrichen aufgemalten Zentralsonne liegt, zu dir hin. Sofort spürst du dabei die eigenartige Energie und Beschaffenheit der Traumkarten. Die Vorderseite der Karten fühlt sich unglaublich hart an, wie unzerbrechlicher Onyx, während die Rückseite warm pulsierte, gleich einer glatten Menschenhaut. Viele Opfer hattest du erbringen müssen, um dieses Deck zusammenzutragen und in jeder einzelnen Karte davon steckt sowohl das Leben wie auch der Tod.

»Ich bin bereit«, flüsterst du nun und stimmst dabei erneut in den brausenden Geisterchor ein. Du hebst die Arme empor wie zum Gebet:

»Dann lasst uns beginnen!«

Die Stimmen vermengten sich daraufhin in eine einzelne dissonante und doch gleichzeitig auf eigenartige Weise stimmige Sinfonie, die von den Wänden und aus deinem eigenen Fleisch selbst herauszukommen schien. Du legst deine knöchrige Hand auf das Deck und siehst, wie sich langsam die massiven Wände der kleinen Grotte um dich herum auflösen und durch dichten, undurchdringlichen Nebel verschluckt werden. Der Geruch von Moder und nassem Fels, der dich zuvor umgeben hat, verschwindet ebenfalls langsam und stattdessen riechst du plötzlich Meeressalz und Seetang. Und bevor du dich versiehst, tauchst du auch schon ein in den See aus Schwarzem Morblat. Für eine Weile treibst du also in der nassen Schwerelosigkeit vor dich hin, doch du fühlst keine Panik. Du weist schließlich, dass dies nur ein Übergang ist, das erste Tor, um das Land Karnafun zu betreten. Dort befindet sich dann endlich die Arena und dort warten schon deine Rivalen im ewigen Spiel auf dich. Ihre Stimmen locken dabei selbst in der kalten Unendlichkeit. Ihre Töne versuchen dich zu Narren, lotzen dich in falsche Richtungen, geben dir absurde Vorstellungen ein von Familie und Herzen vor schwebenden Palästen. Du bist aber unbeirrbar und schließlich erhebt sich dein hagerer Körper wie ein alterwürdiger Leviathan aus den eisigen Fluten.

Du stehst nun am Strand von Karnafun, das Land des Kampfes und der Entbehrung. Müde umschmeichelt das Wasser des Sees aus Morblat deine Knöchel. Direkt hinter dem schmalen Strandstreifen, der sich zu beiden Seiten in der Ewigkeit des gräulichen Horizonts verlor, erheben sich rußgeschwärzte Berge aus violett glitzernden Diamanten, die, so sagt man sich in okkulten Kreisen, den Fürlaubern aus Trankarie gefallen, wenn man sie ihnen zum Geschenk reichte. Über den breiten Rücken und steilen Spitzen der Berge scheint hingegen schwach und kränklich, hinter einer trüben Wolkensuppe verborgen, das Licht der schwarzen Sonne. Sie ist eine entfernte Cousine der Zentralsonne, die sich in der Mitte des Universums und an der Schnittstelle aller Dimensionen befindet. Du wendest deinen Blick ab. Du bist nicht wegen irgendwelcher Diamanten oder Sonnen gekommen.

Ohne länger zu zögern, begibst du dich also nun zum steinernen Spieltisch, der sich knapp außerhalb der glitzernden Wassergischt und inmitten des langgezogenen Sandstrandes befindet. Dieser Tisch ist dabei eine vergrößerte Kopie deines eigenen Eichentisches in der Grotte, der zudem statt aus Eichenholz gebaut aus festem Granitstein heraus gehauen worden ist. Die drei nebulösen Phantomgestalten, die auf ihren steinernen Thronen äußerst harmonisch um den Tisch herumsitzen, haben indessen zu Singen aufgehört. Ihre rot glühenden Augen starren dich erwartend an.

»Nun, ihr wollt also endlich meinen Namen wissen?« Du faltest deine Hände zusammen, lehnst dich über die Lehne des einzig freien Stuhls, der mit dem Rücken sich zum Meer befand und mit überheblichem Gesicht spuckst du die Worte aus: »Ich bin die Vergangenheit, die ich nie hatte. Seht her, ich bin verwittert, bevor ich jemals gelebt habe!«

Die Rauchgestalt direkt gegenüber dir, die von allen die zierlichste und eleganteste zu sein schien, räuspert daraufhin sich und eine weibliche Stimme antwortet – vollkommen ungeachtet deiner Theatralik – äußerst provokant und beinahe lasziv:

»So, ist das nicht traurig? Du hast keine Vergangenheit und damit auch keine Gegenwart und Zukunft. Was bist du eigentlich? Nur eine leere Hülle, die mit Händen nach Nichts greift. Ich werde dich somit einfach den ‚Verwitterten‘ nennen«.

Als sie das gesagt hatte, kommt aus ihrem Rücken von den hohen Bergen ein kalter Luftzug herunter, der ihre tanzenden Kohlenstaubpartikel spielerisch in deine Richtung schleudert. Kurz kannst du unter ihrer aufwallenden Rauchpanzerung lange schwarze Haare wehen sehen. Du ärgerst dich, schweigst aber und nimmst still Platz. Immerhin bist du nicht hergekommen, um mit einfältigen Rauchweibern zu streiten. Du wartest somit ungeduldig auf die Namen der anderen. Das Rauchphantom zu deiner Rechten beginnt sich schließlich zu räuspern und eine dunkle, kraftvolle Stimme jagt über den stillen Strand hinweg und beginnt eifrig die Klüften des Gebirges emporzuklettern:

»Ich bin die Zukunft, die du nie haben wirst. Seht her, ich bin das Nichts, an dem du zerschellen wirst!« Auch er erhebt seine Arme theatralisch in die Luft, der matte Schein der Sonne bricht sich dabei an den mikroskopisch kleinen Kohlenstaub-Teilen, aus denen dieses – genauso wie alle anderen Phantome – besteht. Geblendet wendest du die Augen ab.

»So, ist das nicht traurig?«, erklingt jedoch erneut sofort boshaft die Stimme des weiblichen Rauchphantoms, das im Schatten der Berge sitzt. Lüstern streift sie sich die Haare, während ihre Worte wie spitze Nägel in das Ego hämmern. »Wobei du wahrscheinlich nicht ganz so bemitleidenswert bist, wie der Verwitterte. Immerhin hattest du eine Vergangenheit und eine Gegenwart, auch wenn deine Zukunft nichts ist. Ich werde dich deshalb einfach weiterhin ‚das Nichts‘ nennen.«

Auch dieser Gedemütigte zieht es wie du vor zu schweigen und wartet gehorsam auf den dritten Namen. Der kleine, magere Rauchgeist auf dem Stuhl zu deiner Linken zögert jedoch erst eine Weile. Er scheint sich unsicher zu sein. Denn unruhig rutscht er auf dem Boden des großen Steinthrones her, der ihn viel zu groß überragte. Irgendwann bricht der verkümmerte Rauchwerg schließlich doch noch sein Schweigen und eine zaghafte, leise Stimme fällt in den grauen Sand hinab:

»I… Ich bin die Gegenwart, die er vergeudet. Seht her, ich bin der Abgrund in dem alles nutzlos fällt.« Seine Arme steckt er, als er das sagt, verlegen in seine Hosentaschen.

»So, ist das nicht traurig? Was stellst du nur mit deiner Zeit an, die du besitzt? Ein Tag ist wie der andere und bevor du dich versiehst, ist alles, was du besessen hast, zu Staub zerfallen. Der einstmals gesunde Körper? Nun ein Fraß für die Würmer! Dir fehlt es einfach an Initiative und Intelligenz, um dein Potenzial zu verwirklichen. Ich werde dich deshalb ‚die Vergeudung‘ nennen.«

»Nein!« Wütend springt urplötzlich das kleine Rauchmännchen auf und plustert sich aggressiv auf. Du rutscht überrascht zurück. Auch der große, bullige Rauchmann rechts neben dir scheint diesen Ausbruch nicht erwartet zu haben. Nur die hämische Frau bleibt weiterhin ungerührt sitzen und starrt genüsslich den zornerfüllten Kohlenstaub-Wirbel an.

»Wir haben uns genug Worte von einem Weib wie dir anhören müssen. Wir mögen vielleicht nicht mehr sein, als Verwitterung und Nichts und Vergeudung, jedoch bin ich mir sicher, dass wir immer noch mehr sind, als du. Denn was bist du schon? Du scheinst ja nicht einmal einen Namen zu haben, so wie wir.«

Das weibliche Rauchphantom lachte spitz. Ihre Stimme durchschnitt hämisch das Rauschen des Meeres und das beständige Heulen der Windböen.

»Ich verstehe deinen Zorn, aber das letztere stimmt ganz und gar nicht.« Die Dame führt nun geziert langsam eine große Zigarre an ihren roten Mund. Die verrußten Rauchhände glitzern dabei verheißungsvoll im Licht der Cousinensonne. Eine bleiche Flamme loderte an ihrem Mund auf. »Ich habe tatsächlich einen Namen«, fuhr sie fort, »doch war ich bedacht, ihn noch eine Weile zurückzuhalten. Aber nun denke ich, ist die Zeit gekommen, um mein wahres Ich zu enthüllen.« Die Frau inhaliert tief und stößt einen Rauchkringel aus, der sich spielerisch an deinem Gesicht zerbricht. Irritiert musst du husten. Die Frau hebt dabei spöttisch einen einzelnen Finger, wie um deine Theatralik von vorher nachzuahmen: »Wisset also Bescheid: Ich bin das alles dazwischen, was sie besitzt. Seht her, ich bin das Fleisch, das dein wahres Selbst umgibt und gefangen hält!«

Keuchend rutscht jeder auf seinem Stuhl zurück, als er diese Nachricht hört. Du selbst kannst es vor Entsetzen kaum glauben. Das größte und mächtigste aller Konzepte sitzt hier an diesem Tisch, – mit selbstgerechtem Lächeln – sogar als dein Erzrivale genau gegenüber dir! Das Spiel ist nun eine Farce. Wer könnte denn schon gewinnen, gegen die größte Macht, die das menschliche Schicksal bestimmt. Mit verkrampften Händen drückst du nun deine geliebten Karten an dir; ihre darin enthaltene menschliche Wärme, die dich früher immer beruhigt hatte, in dem sie so melancholisch von den Schicksalen der darin Gefangenen sang, verwandelt sich nun in bitterkalte Erkenntnis: Dieses Spiel ist eine Farce. Die Frau antwortet jedoch mit ruhiger Stimme auf deine entgleisten Gesichtszüge:

»Ich weiß, es ist nicht schwer, vor mir zu fliehen, bin ich doch stets an eurer Seite, aber ich kann euch durchaus versichern, mit mir kann man spielen. Und jeder einzelne von euch«, ihre Augen wandern von Spieler zu Spieler, »kann mich besiegen. Es sei denn, er ist ein Feigling und flieht nun weiterhin vor mir.«

Niemand aus eurer Reihe will sich so provozieren lassen, also bleibt ihr weiter hier unter der gleißenden Cousinensonne und unter dem schattigen Gebirge, das das schwarze Meer von den grünen Seen dahinter trennt. Ihr seid schließlich im Lande Karnafun und von hier gibt es kein Entrinnen, es sei denn, man gewinnt im ewigen Spiel. Das sind die Regeln des Ordens. Und wenn sogar nur vier Konzepte zur letzten Schlacht erscheinen, ist die Verpflichtung zu bleiben nur umso größer. Plötzlich rinnt neue Entschlossenheit durch deine Adern. Du bist stolz, das du einer unter wenigen bist. Und dieser Gedanke gibt dir neuen Mut. Du knallst also – ungeachtet deiner Angst – betont lässig deine wertvollen Spielkarten auf den Tisch und sprichst:

»Denkst du wirklich… Alles, dass du uns so leicht verjagen könntest? Wir alle hier sind erfahrene Forscher und Eremiten. Das Gefängnis, das die Menschheit hält, haben wir schon vor mehreren tausend Äonen durchbrochen und du selbst bist dabei ja nur eine schwache und vage Konzeption davon. Ich sage also, beginnen wir endlich das Spiel. Es ist genug geredet worden.«

Die anderen nicken zustimmend im Kreis herum. Nach dem anfänglichen Schock kommt nun anscheinend langsam wieder Ruhe und Entschlossenheit in die Runde zurück. Nervös lächelt ihr vor euch hin und redet euch ein, dass die blitzartige Angst zuvor lediglich nur ein vorübergehender Anflug von Unsicherheit gewesen war. Niemand von euch gibt auf, niemand von euch hat vor zu verlieren.

Das weibliche Rauchphantom hält nun eine Karte empor. Nach kurzem Augenzwinkern kannst du das Bild erkennen. Es ist ein blinder Affe, der mit seinem Stock einen Ameisenhügel aufscheucht. Das Bild ist dabei so unheimlich scharf gezeichnet und mit geradezu surreal genauen Details verziert, dass du selbst aus zwei Meter Entfernung alles fein scharf erkennen kannst. Ja, die Linien und Konturen des pelzlosen Affens mit den dicken Schlangenadern, scheinen sich regelrecht in deine Netzhaut zu fressen, während du mit blutenden Augen daraufstarrst. Die Frau dreht die Karte einmal abwechselnd in alle Richtungen, sodass sie jeder der Teilnehmer betrachten konnte.

»Dies ist Korbald, der Stolze; die erste aller Karten. Sie wird gespielt, noch bevor überhaupt die Decks gemischt werden. Denn diese Karte ist es, die uns aus der Jurisdiktion des Einen Gottes herausführen wird. Sobald diese Karte also auf den Tisch liegt, sind wir alleine und unbeobachtet. Falls euch die Konsequenzen dieser Tatsache bewusst sind, bietet sich nun noch einmal die Gelegenheit umzukehren. Aber wenn diese Karte letztlich den Tisch berührt, und ihr sitzt immer noch auf euren Stühlen, so seid ihr gefangen, bis das Spiel vorüber ist. Hat sich also irgendjemand anders entschieden?«

Die Frau beginnt, ohne auch nur eine Sekunde abzuwarten, langsam die Karte zum Tisch herabzuführen, doch niemand steht auf, noch sagt irgendjemand ein Wort. Die Karte berührt also letztlich mit einem dumpfen Ton den Tisch.

»Oh, und übrigens«, sagt die Frau und lächelt süffisant, während ihre Hände nun mit beispielloser Geschwindigkeit ihr eigenes Deck mischen, die Karten rauschten so schnell, du konntest nur noch vage Schlieren erkennen, »So sei euch gesagt: Wir spielen mit dem Hyperbelton. Doch welches Deck er sich letztlich aussucht, ist selbst mir unbekannt.«

»Trügerisches Weib…«, knirscht das Rauchmännchen empört links von dir, wobei er jedoch ebenfalls geschwind anfängt sein Deck elegant durch die Finger rattern zu lassen. Der Staubkoloss zu deiner rechten hingegen verschränkt ablehnend die Arme. »Das ist nicht gut, Alles«, wirft er brummend ein, »Du hättest von Anfang an den Hyperbelton erwähnen sollen. Außerdem ist es wohl kaum zu akzeptieren, wenn jeder Teilnehmer des Spiels sein eigenes Deck mischt. Wartet. Ich habe eine bessere Idee.« Der Obskurist hebt nach diesen Worten die Arme hoch zur Sonne empor und singt Worte, die dich entfernt an ein Gebet erinnern. Du kannst die ätherischen Töne, die sich von der Luft wie Öl von Wasser scheiden, nur schwer entziffern, aber du erkennst immerhin einige Worte an den Gott Luldrich gerichtet, ein widerlicher Gnom, der sich dem Schicksal überantwortet hat. Die Worte ziehen wie Schlieren durch die Luft, legen sich an deine Haut und an deinen Atem und letztlich stürzen sie sich auf die Karten in deinen Händen. Mit hervorquellenden Augen musst du also mitansehen, wie sich dein geliebtes Deck ächzend und krächzend nach allen Seiten hin beugt. Es ist, als ob du dein Kind beim ersticken zusehen würdest.

»Hör auf, Nichts. Was machst du mit meinen Karten?«, würgst du zornig hervor.

»Beruhige dich, Verwitterter, ich habe sie nur gemischt.« Der Rauchmann zeigt auf deinen Stapel und du erkennst sofort, dass er die Wahrheit sagt. Die Karten sind nun vollkommen anders angeordnet als zuvor. Genauso steht es mit den anderen Decks.Da lacht die Frau gegenüber dir laut auf:

»Das ist großartig. Wir haben einen Anhänger von alten Göttern unter uns! Und du musst zudem beeindruckend geschickt mit Worten sein, wenn sie dich so leicht erhören. Aber trotzdem würde ich dir dabei den Rat geben, nicht zu viel im Lande Karnafun zu beten. Du weißt immerhin nicht, wer außer deinen Göttern noch zuhört. Und zumindest habe ich während meiner Zeit hier schon einige unheimliche Gestalten gesehen, die ich lieber nicht an meinem Spieltisch haben will. Doch als Spielführern soll ich solche Aktionen dennoch erlauben. Jeder muss aber für sich selbst wissen, ob er dieses Risiko eingehen möchte.«

Der große Mann verbeugt sich tief, wobei sein Kohlenstaub-Schatten leise Körner auf den Tisch rieseln lässt. Du beugst dich etwas angewidert zurück. Solche Unterwürfigkeit war dir immerhin schon immer ein Gräuel gewesen. Auch das Rauchmännchen zu deiner linken Seite schaut etwas angesäuert auf dieses servile Schauspiel. Als jedoch niemand mehr etwas einwirft, räuspert sich die Frau schließlich und das kleingeistige Streiten wird endlich abgelöst von der allmählich steigenden Anspannung des Spieles.

»Damit wäre wohl alles geklärt: Niemand geht, alle bleiben, die Karten sind gemischt und der Eine Gott hat seine müden Augen dankenswerterweise abgewendet. Nun können wir also beginnen. Zieht eure Karten!«

Kapitel 2: Drohende Vernichtung

Du schnurrst zufrieden in den Bart, während deine Augen über die gezogene Hand schweben. Du lässt dabei deine Konkurrenten jedoch keine Sekunde aus dem Blick. Die Gesichtsausdrücke der Rauchphantome unter dem tückischen Zwielicht der schwarzen Sonne sprechen selten die Wahrheit, ist doch der Zweck der seltsamen Rauchummantelung der Schutz der Identität und das Zurückhalten der eigenen Emotionen.

Die Alles lächelt beispielsweise gerade mit ihren glänzend roten Lippen, aber ob sie sich tatsächlich freut, oder sich fürchtet; ja, vielleicht sogar im Inneren tobt, kannst du nicht sagen. Der okkulte Rauchmantel wirkt nämlich wie eine Kodiermaschine, die deine eigenen Gefühle auf den Weg nach draußen hin verschlüsselt. Die Frau bemerkt nun, wie du sie heimlich anstarrst und ihr Mund wird dabei sogar noch breiter als zuvor.

»Nun, ich glaube, es ist nur fair, wenn der Mann ohne Geschichte anfangen darf, immerhin hat er ein schweres Handicap. Also sag uns, in welchem Zustand befindet sich dieses Spiel? Haben wir Krieg oder Frieden?«

Du verziehst dein Gesicht, erwiderst aber nichts, um ebenfalls deine Gefühle zu verbergen. Und überhaupt ist es vollkommen egal, welche Worte sich aus diesem so hübsch, rot angemalten Abflussrohr ergießen, immerhin wird sie am Ende der Schlacht so oder so unter dir stehen und um Verzeihung betteln. Dein Blick gleitet also betont ausdruckslos über die elegant tanzende Form des sich ewig manifestierenden und gleichzeitig zerfallenden Rauchgebildes. Eingerahmt von den massiven und majestätischen Felsenwänden des Gebirges dahinter, strahlte die Figur der Alles eine beinahe Ehrfurcht gebietende Eleganz aus, wie du dir grummelnd eingestehen musst.

»Ich danke vielmals für dein Angebot, Alles. Dein Entgegenkommen sollte ein Lehrbeispiel für alle Obskuristen sein«, quoll der Sarkasmus aus deinem Magen hervor. »Dann sage ich also an: Die Welt befindet sich im Zustand der Apokalypse. Das Ende ist nahe und die alten Götter sind aus ihren lang vergessenen Gräbern emporgestiegen. Selbst der Eine Gott kann die Welt der Menschen nicht mehr leiden. Also fliehen sie und überschlagen sich in ihrer eigenen Wertlosigkeit. Der Graben ist tief. Alle fallen sie hinein.«

Der Rauchmann rechts von dir runzelt, als du geendet hast, seine verrußte Stirn und murmelt dabei mehr zu sich selbst als zu irgend einem anderen:

»Die Apokalypse also, hm… Ganz am Anfang des Spiels? Einerseits macht diese Entscheidung am meisten Sinn, andererseits hatte ich noch die Hoffnung gehabt, wir würden uns lediglich erst im Krieg befinden.«

Ein Schneuzen unterbricht plötzlich den wabernden Gedankenstrom, als das Rauchmännchen eine kleine Hand auf den steinernen Tisch klatscht.

»Egal ob es Sinn macht oder nicht, es ist der Wille des Ansagers! Also lasst uns nicht zögern und sogleich weitermachen. Ich bestimme also hiermit, dass wir uns im Zeitalter der Herbstzeit befinden.«

»Die Herbstzeit?«, unterbricht nun stattdessen die Stimme von Alles die haspelnde Tirade der Vergeudung. Sie sieht dabei geistesabwesend auf die fünf Karten ihrer Hand. Du musst zugeben: Ihre schlanken diamantenen Finger, die elegant die fünf Schicksale halten, sind wunderschön. Gerne würdest du sie halten.

»Ja, Herbstzeit!«, beginnt erneut die Vergeudung, wobei er sich erst mal verwirrt am Kopf kratzt, bevor er den Faden wieder findet, »Eh… Genau… die Herbstzeit. Es ist die Apokalypse, alles fällt in die Tiefe und die Herrschaft haben die Jungen. Die Blätter sind rot und das Blut fließt golden aus den Abflussrohren der fliegenden Städte. Diese werden aber auch nicht mehr lange fliegen.«

»Ein düsteres Bild, in der Tat.« Das Nichts murmelt geistesabwesend. Mit stirngerunzeltem Gesichtsausdruck klopft seine linke Hand auf die geriffelte Spielplatte, während der Blick analytisch über sein Blatt gleitet. Die Alles räuspert sich derweil mit weiblicher Zurückhaltung und leitet das Spiel endgülitig ein:

»Es ist somit vorhergesagt: Wir befinden uns in der herbstzeitlichen Apokalypse. Eine gefährliche Zeit. Habt also Acht, bevor ihr nicht auch so unrühmlich vergeht wie etwa mein Erzrivale hier.« Ihre warnenden Worte galten den zwei anderen Männern. Du kümmerst dich jedoch nicht darum, stattdessen denkst du tief nach. Deine Hand sieht zwar fürs erste mittelmäßig aus, aber es ist ja erst der Anfang des Spieles. Kurzentschlossen machst du also deinen ersten Zug:

»Ich schicke das Kindopfer für Brachel auf den beschwerlichen Weg an den Vorfürlischen Seen vorbei, möge sie das einzige, was ihr noch übrig bleibt, benutzen und ihre Feinde mit ihren Reizen bezirzen. Schafft sie das nicht, so ist sie dem Tode geweiht.« Das Rauchmännchen zu deiner linken Seite kratzt sich, als es deine Worte hört, nervös am Kinn. Der Angriff galt ihm. Seine blauen Augen schaffen es dabei nicht, deinem überheblichen Starren standzuhalten.

»Nun ja«, stottert er, »ich hätte es wissen müssen, dass ich dein erstes Opfer bin. Aber, das sage ich dir, unterschätze mich ja nicht, Verwitterter. Noch habe ich zwei Durchgänge Zeit, deinen Angriff abzuwehren. Kleine Kinder, die letztlich nur Fraß für die Götter der Erwachsenen sind, machen mir und meinem Avatar sowieso keine Angst.«

Mit zittrigen Händen legt die Vergeudung ihre eigene Karte auf den Tisch. Sie ist verdeckt, somit kann sich nur eine Verteidungs- oder Hinterhaltskarte darunter befinden. Dein Mund verzieht sich zu einem kleinen Lächeln. Eine solche Karte auszuspielen war nämlich in der Regel nur ein reiner Aufschub für das Unentbehrliche. Kein Angriff konnte für immer aufgehalten werden, es sei denn mit einem Gegenangriff. Aber ein solcher Gegenangriff muss immer offen erfolgen. Somit ist die Situation für dich klar: Das Männchen hat zumindest in diesem Durchgang nichts auf seiner Hand, was dir auch nur annähernd gefährlich werden kann. Es muss also auf Zeit spielen. Ihr Avatar, der Imperator ohne Thron, hat zudem nur geringes Potenzial und würde den Verführerischen Künsten deines Kindopfers nur schwer widerstehen können. Fürs erste lehnst du dich also demonstrativ zufrieden auf den steinernen Stuhl zurück. Das ruhige Meeresrauschen in deinem Rücken lullt dabei deinen Geist mit seinem beständigen Rhythmus ein und der Wind, der neckend an deinen Haaren vorbeisäuselt und Gerüche aus fremden Ländern mitbringt, scheint dir auf einmal liebliche Geschichten erzählen zu wollen.-

»Ich sehe, die ersten paar guten Züge haben dich bereits überheblich gemacht. Wie kannst du dich jetzt schon entspannen, wo doch das Spiel erst noch in den Wehen liegt? Langsam beginne ich zu glauben, es war die Überheblichkeit, die dir deine Geschichte geraubt hat. Kann es das sein?«, mischt sich aufs Neue diese unsägliche Alles ein und ruiniert dir damit deine kurze Glücksphase. Du lehnst dich erneut nach vorne und erwiderst missgünstig den Blick ihrer roten Augen.

Die pupillen- und lidlosen Scheusale sprühen dir aber urplötzlich einen solch abgrundtiefen und innigen Hass entgegen, dass es selbst dich überrascht, kennst du diese Frau doch überhaupt nicht und hattest auch noch nie zuvor mit ihr zu tun gehabt. Fast schon eingeschüchtert krümmst du dich etwas unter diesen mörderischen Blicken zusammen. Als sie jedoch mit einer grazilen Handbewegung eine ihrer fleischummantelten Karten zückt und mit einer eigentümlichen Zärtlichkeit auf das Spielbrett hinlegt, da geschieht es: Für nur eine kurze Splittersekunde lichtet sich der dichte Rauchschleier um ihre Augen herum und du siehst vertraute fernöstliche Gesichtszüge, sowie kleine Faltengruben um hohle Wangen herum, die deine Finger schon ein mal berührt haben wollten. Wie elektrisch aufgeladen blitzen diese nun auf.

Entgeistert verschärft sich dein Blick von einem Moment auf den anderen wie ein Brennglas. Aber egal wie sehr du dich anstrengst, der kurze Moment der Erkenntnis verfliegt so schnell wie er gekommen war, die Maske schließt sich erneut und du bist so ratlos wie zuvor. Das Antlitz der Frau verschwindet im undurchdringlichen Kohlenstaubwirbel. Enttäuscht beugst du dich wieder zurück und kratzt dich am Bart: »Wer bist du?«, denkst du dir. Die plötzliche Unsicherheit bringt dich ins Schwanken. Die Frau beginnt ihre Beschwörung:

»Der trauernde Wald wächst ohne jegliche Wurzeln zu schlagen über das endlose Gebirge Faltzwar hinweg, bis die einstmals schneebezuckerten Gipfel vom schwarzen Astwerk und dem Heulen der zygotengleichen Stämme bedeckt sind. Auf macht er sich, auf macht er sich, dieser grässliche Wald, wo Hexen und anderes Gesindel wohnt. Aber er überschreitet das Gebirge nicht vollkommen. Sondern er lässt stattdessen auf halber Strecke seine Äste und Blätter nach oben wachsen. Sie wachsen und wachsen, durchbrechen Wolken und letztlich die fernen Sterne, bis sie sehnsüchtig die Zentralsonne in der Mitte unseres Universums umarmen. Doch selbst dort hört ihr Weg nicht auf.«

Das ist also ihr Plan! Deine Hände verkrampfen sich schmerzhaft als du diese Worte hörst. Nagel trifft auf ausgetrocknetes Fleisch, schürft rot glänzende Blutstropfen hervor, die zum grobkörnigen Sandstrand hinabfallen, wo sie spurlos zwischen den Ritzen der zahllosen Körner verschwinden. Das Land Karnafun trinkt gerne. Glücklicherweise verbirgt aber dein Rauchphantom jegliches schmerzerfülltes Zittern deiner Hand und deiner Stimme, als du sagst:

»So so, der trauernde Wald also? Und du willst mich über die Zentralsonne angreifen, ohne dich überhaupt um deine benachbarten Gegner zu kümmern? Ja, ich mag zwar vielleicht überheblich sein, aber solch ein Gebaren ist selbst mir fremd. Aber wie auch immer, da du leider kein Passwort hast, um die Zentralsonne zu durchschreiten, muss dein kleiner Ziergarten wohl oder übel vor dem Glanz des ewigen Tores eingehen.«

Die Frau lacht laut auf, das Schallen ihrer rauen, hämischen Stimme hallt unheimlich von den Felsenwänden in ihrem Rücken zurück und gibt dem ganzen einen ätherisch hohlen Klang.

»Du denkst wirklich, ich würde eine Karte mit den Eigenschaften Herbstzeit und Apokalypse einfach so vor der Zentralsonne eingehen lassen und verschwenden?«, neckt sie und streicht sich – so denkst du zumindest, da ihr Rauchphantom alle körperlichen Details versteckt – frivol eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Kaum zu glauben, dass du mit einem solchen Mardergehirn zum Obskuristen der ersten Liga aufsteigen konntest. Aber um es noch deutlicher für dich zu machen… hier!« Ihre rußige Hand hielt nun zwischen Zeige und Mittelfinger eine weitere Karte empor. »Die Liebesbeichte. So unheimlich herzzerreißend, da öffnet selbst die Zentralsonne ihre Pforten.«

Deine Hände wollen die Lehne des Stuhles, in dem du gerade ängstlich versinkst, zerdrücken. Du hustest, du keuchst und windest dich, aber es hilft alles nichts. Vollkommen wehrlos musst du nun mitansehen, wie die Zentralsonne in der Mitte des Spielbrettes ihre Beine breit macht. Und dahinter lauert die Invasion des trauernden Waldes. Mit nur zwei geschickten Aktionen warst du an den Rand des Ruin getrieben worden. Dabei hatte das Spiel doch gerade erst begonnen!

»Hey, was machst du da, das ist peinlich, gib das wieder her!« Das Mädchen lächelt und streicht sich peinlich berührt ihr ebenholzschwarzes Haar aus dem Gesicht. Die schwarzen Mandelaugen schauen dich mit unschuldiger Empörung an. Du kannst nicht anders, als du diesen süßen Blick siehst: Auch du musst lächeln. »Ja, ja, schon ok. Hier, ich geb`s dir ja wieder.«

Hastig nehmen schlanke Hände deine ausgestreckte Karte entgegen. Doch du bist schneller. Bevor sie wieder zurückweichen kann, hat deine Falle schon zugeschnappt. Ihre schlanken, weißen Hände liegen nun in den deinen und zärtlich streicheln deine warmen Finger über ihre kalte, ebene Haut. Das Mädchen tut für einige Sekunden nun so, als würde sie sich losreißen wollen, dann stellt sie aber ihren spielerischen Widerstand letztlich ein und blickt stattdessen mit Erwartung in ihren Augen zu dir empor.

Für eine Weile steht ihr also euch wortlos gegenüber, nur ihr leicht aufgeregtes Keuchen war ein bisschen zu hören, und du spürst ihren Atemzug wie er sanft deine Brust kitzelt. In diesem friedlichen Moment könnt ihr beiden fühlen, wie sich die Ewigkeit voller Freude vor euch erstreckt. Eine Ewigkeit voller Verheißung. Aber tief in deinem Herzen spürst du auch, dass das nicht sein durfte.Du bist schließlich also auch der erste, der das Schweigen der Liebenden bricht:

»Es… Es ist bald die Zeit des Untodes. Vater sucht neue Obskuristen und er will vor allem mich als seinen Nachfolger haben. Es tut mir leid, #23fds, aberich muss seinem Wunsch folgen.«Du umarmst die Sonne deines Lebens, aber ihr Körper ist nun eisig und steif geworden.. wegen deiner Worte. Als du sie sanft wieder von dir löst, blicken deshalb ihre Augen nun hasserfüllt zu dir empor. »Geh, weg!«, sagt sie.

Der Fetzen aus dem Stoff der Vergangenheit trieb so schnell vorüber, wie er gekommen war und zurück blieb nur das vage Gefühl in dir von Einsamkeit und Verlassenheit. Die Alles sah dich immer noch an, aber im Glanz ihrer Augen schwamm nun Mitleid statt Hass. Schwer seufzte sie und richtete sich das seidene Kleid unter der nachtschwarzen Rauchpanzerung.

»Das sind also meine zwei Aktionen, die mir durch die Regeln des Spieles zustehen. Erstens: ich schicke den trauernden Wald in Richtung der Zentralsonne und zweitens lege ich hiermit offiziell ein Geständnis ab: Ich hasse dich.« Ihre Augen konzentrierten sich bei den letzten Worten ganz auf dich. Hinter dem chaotischen Gewirr der Staubkörner meintest du dabei plötzlich schwarz verschmiertes Make-Up zu sehen und die Andeutungen einer einzelnen Träne. »Bitte stirb doch einfach«, hauchte sie und legte die hautumspannte Karte auf den Spieltisch.

Dein stocksteifer Körper konnte sich nicht mehr bewegen, es war, als ob plötzlich ein lähmender Zauber über dich gefallen wäre, selbst dein Blick war festgefroren auf diese Karte der Liebesbeichte. In die onyx-schwarze Vorderseite war mit bizarrer Detailliertheit das fotorealistische Bild eines Herzens hineingestochen. Die Linien und Schattierungen waren dabei mit solch großartiger Kunstfertigkeit gezogen, dass du nicht nur die einzelnen Herzkammern, sondern auch die Venen, Arterien und Klappen erkennen konntest, die wie eine Krone über dem roten Gesicht schwebten. Die Karte auf dem Tisch pochte und wimmerte, zähes Blut floss aus der ledrigen Unterseite hervor, als die Magie endlich zu wirken begann. Schon bald war die ganze obere Seite des Tisches in dunkles Rot gefärbt. Sobald nämlich eine Karte auf dem Spieltisch lag, entfaltete sie in Kombination mit den eingezeichneten, okkulten Feldern ihre Macht. Und als du zusahst, wie dieses widerliche Schauspiel sich vor dir entwickelte, manifestierte sich die Erkenntnis in dir, dass die verrückte Alles tatsächlich ein echtes schlagendes Herz in ihre Karte hineingenäht hatte.

Die Alles lächelte wieder, als sie deinen angewiderten Blick sah, verschwunden waren dabei nun jeglicher Hass und Schmerz sowie Mitleid. Sie war nun wieder ganz die Alte. Überheblich und von oben herab sah sie dich an, während ihr voller roter Mund triefende Häme ausspieh:

»Nun, du fragst dich sicher, welches Herz so tapfer und beständig in der Liebesbeichte schlägt. Da gibt es natürlich viele Möglichkeiten. War es vielleicht deine Tante, eine deiner zwei Schwestern, oder gar deine Mutter, die ich geschlachtet habe? Wie gesagt, so viele Möglichkeiten…«

Deine Hand ballte sich unter dem Tisch schmerzhaft eng zu einer Faust zusammen. Mittlerweile war es dir dabei sogar egal, ob das Land Karnafun dein Blut zu trinken bekam. »Na, na, na. Schau nicht so drein, Verwitterter«, neckte die Verrückte dich weiter, »Ich werde es dir ja schon sagen. Wer sich da so heftig abmüht, meine ich. Es war nämlich eine ganz besondere Person, dessen Herz ich gestohlen habe und dessen Liebe zu dir nun letztlich das Tor zu deinem Untergang öffnet… Es war

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Blut rauschte in deinen Ohren und deine Brust verengte sich so sehr, dass du nicht mehr atmen konntest. Da war nur noch Schwärze und dieses beständige, dröhnende Pochen hinter deinen Schläfen, dass dich daran erinnerte, dass du noch lebtest. Fast wärst du zusammengebrochen und unter den steinernen Tisch gesackt, das hungrige Kreischen der Sandkörner unter dir, die von deinen vielen Blutstropfen erweckt worden waren, brachte aber gerade noch rechtzeitig wieder dein Bewusstsein zurück. Hastig schrecktest du auf und schlugst deine Hand auf den Tisch. Deine Blicke bohrten sich in das Angesicht des lächelnden Erzrivalen, der betont geziert ein Bein über das andere schlug.

»Genug von diesem Schwachsinn. Du willst ein Spiel spielen, also spielen wir ein Spiel. Hör auf so weibisch daherzunörgeln und gib die Runde weiter. Ich habe nicht die ganze Ewigkeit Zeit.«

Danach saßest du dich wieder hin und vergrubst dein Gesicht energisch in deine Karten. Du musstest dich immerhin vorbereiten auf den kommenden Angriff, der heftig genug ausfallen würde.

Der trauernde Wald war eine Karte im Zustand der Apokalypse, die zudem im Zeitalter des Herbstes geboren worden war. Kurz gesagt: Sie war in der derzeitigen Runde ein Trumph und konnte nur von einem anderen höheren Trumph besiegt werden. Doch einen solchen Trumph aus der Tasche zu ziehen, würde sich als kein leichtes Unterfangen herausstellen. Du hieltest mit schwitzigen Händen deine Karten vor dir. Langsam atmetest du durch. Lass dich nicht provozieren, verfolge weiterhin deine Taktik. Ruhe und ein kühl überlegter Plan werden dich letztlich zum Sieger küren, wiederholtest du immer wieder dein Mantra in Gedanken.

»Nun gut«, eröffnete der große Rauchmann rechts von dir nun die Rede, »ich denke, es ist bereits schon zu viel Zeit vergeudet worden und unsere Spielmeisterin scheint sehr ungeduldig zu werden. Ich werde mich deshalb kurz fassen. Zum einen schicke ich meinen blinden Bibliothekar durch die goldene Stadt Marfluchzuru. Er wird sich mit dem Avatar des Verwitterten, dem hoffnungsfrohen Totengräber, vereinigen und dessen Geist zerstören. Und dann, wenn der Avatar stirbt, liegt die Seele offen.«

»Und wenn das eintrifft, wird der trauernde Wald meine Seele verschlingen«, merktest du trocken an.

»Das ist richtig.«

Du überlegtest eine Weile scharf vor dich hin, während dein unter Druck stehender Geist sich langsam versuchte zu beruhigen. Zwar hast du mit diesem kombinierten Angriff gleich am Anfang des Spieles nicht im geringsten gerechnet, jedoch war es im Nachhinein kein allzu überraschender Zug. Temporäre Allianzen waren im ewigen Spiel der Obskuristen immerhin kein seltenes Ereignis, das einzige, was dich so verstört hatte, war die unheimliche Geschwindigkeit gewesen, mit der die Alles und das Nichts ihr Bündnis geschmiedet hatten. Doch wie auch immer, auch wenn nun ihre Kräfte gegen dich gebündelt waren, du hattest die Zeit und die Werkzeuge dazu, sie abzuwehren. Also kein Grund zur Panik.

Du überprüftest deine Hand. Dort befanden sich zur Zeit die Jungfrau, der Pestarzt von Slekschur, der rastlose Sturm Venneratz sowie eine beinahe wertlose Fluchkarte, die das Ziel lediglich dazu brachte, ständig mit den Zähnen zu knirschen. Vorausgesetzt es hatte überhaupt Zähne. Zwei milde nützliche Geschöpfkarten und eine wertlose Fluchkarte, hm… grummelten deine Gedanken vor sich hin. Aber während du abwesend deinen Bart kratztest und versuchtest dich zu konzentrieren, schien auf einmal die Karte des Pestarztes um deine Aufmerksamkeit zu buhlen. Du blicktest ihn nachdenklich eine Weile lang an und warfst schließlich aus einer plötzlichen Laune heraus die anderen Karten achtlos in den Wind hinweg. Ein Gott schien nämlich in diesem Moment aus jener Karte zu dir herauszusprechen, ein Gott der keine anderen Götter neben sich duldete. Die Karte glühte und pulsierte voller Bestimmung. Aufmerksam betrachtetest du jedes einzelne Detail des Pestarztes.

Der schwarze wallende Umhang, der trotz des statischen Bildes den Eindruck erweckte, er würde sich sanft im Wind hin und her bewegen bewegen, die grauen, dicken Handschuhe, der charakteristische Schnabelhelm, der jedoch an einer Seite aufplatzte, und dessen scharf riechender Kräuterinhalt somit zum Boden herabtropfte, der schwarze Zylinderhut und schließlich der giftgrüne Mond im Kartenhintergrund auf dem in mikroskopisch kleiner Schnörkelschrift die Namen aller Pest-Toten standen. Der Arzt war dabei so lebensecht gezeichnet, du dachtest, er würde gleich aus dem Bild herauswandern; es war selbst unter den Karten des ewigen Spiels ein äußerst düsteres Bild. Die Karte hatte zudem keinerlei besonderen Nutzen für diese Runde, befand sie sich nämlich im Zustand des Krieges und war im frühen Zeitalter der Geburt erschaffen worden. Aber trotzdem: Sie zog dich auf eigenartige Weise an.

Ich weiß nicht, welcher Gott zu mir spricht, aber ich kann wohl in meiner Situation nicht anders als ihm zu vertrauen, seufztest du nervös und legst die Karte zögerlich umgekehrt auf den Tisch. Sie sollte den Angriff der Alles über die Zentralsonne zumindest für eine Weile abwehren können. So hofftest du.

Doch das war noch nicht alles. Danach blieb noch der Angriff des Nichts, um den du dich kümmern musstest. Ihn solltest du ebenfalls nicht unterschätzen. Du kanntest das Nichts von früheren Spielen her. Er war ein erfahrener, gewiefter sowie trickreicher Spieler, der gnadenlos eine Seele nach der anderen seinem Deck hinzugefügt hatte. Er mochte zwar auf den ersten Blick mit seinen stählernen Muskeln und dem einfältigen, leeren Blick wie ein hirnloser Befehlsempfänger aussehen, aber du wusstest sehr wohl, dass das alles nur Fassade war. Zwar entspricht es der Tatsache, dass das Nichts noch nie gegen eine Frau gewonnen hatte, aber es hatte auch noch nie eine Frau gegen ihn gewonnen. Du musstest dich also in Acht nehmen. Mit deiner zweiten Aktion, die dir noch in diesem Durchgang verblieb, entliest du somit mit wildem Wedeln den Sturm Venerrratz. »Dieser wird deinem Blinden Bibliothekar das Fleisch von den Knochen peitschen, sollte er es auch nur wagen, aus der goldenen Stadt einen Schritt zu tun.«

Du grinst und starrst zum Rauchmann hinüber. Der war gerade anscheinend tief in Gedanken versunken. Mt abwesendem Gesichtsausdruck knüllte er nämlich ein paar seiner Kohlenstaubpartikel zusammen, formte sie zu einer Kugel und rollte sie seufzend in seiner rechten Hand hin und her. Unangenehm aufdringlich stocherte das knirschende Geräusch in deinen Ohren herum.

»S… dann bin wohl ich wieder dran«, brummte die Vergeudung zu deiner Linken mit seiner unangenehm quäkigen Stimme. »… Hm… Ich sehe, die Alles und das Nichts. Ein trauernder Wald und ein blinder Bibliothekar. Was könnte ich nur tun, um dieser Allianz zum endgültigen Sieg zu verhelfen.«

Das Phantom der Vergeudung fuhrwerkte nervös an seinem Deck herum und schoss dabei wilde Blicke in alle Richtungen ab. Es entsetzte dich jedoch nicht im geringsten, dass die Vergeudung sich nun ebenfalls dir entgegenstellte.

Dass das Nichts sich der Alles unterworfen hatte, war vielleicht noch milde überraschend gewesen, aber der Beitritt der opportunistischen Vergeudung zur Allianz war auf der anderen Seite ein klarer Sachverhalt. Es wollte immerhin stets auf der Siegerseite stehen und auch wenn es alles und jeden in seiner Umgebung hasste, würde es sich mit alles und nichts verbinden, solange es nur am Ende oben stehen könnte.

Du erkanntest nun also klar, was dir vorher deine Arroganz verschwiegen hatte: Dies hier war kein Turnier. Es war eine Hinrichtung und du wurdest gerade auf den Exekutions-Platz geführt. Du wusstest zwar nicht, wieso ausgerechnet du für die Hinrichtung ausgewählt worden warst, aber es war deutlich genug: Die verschwörerischen Blicke, die sich die Alles, das Nichts und die Vergeudung hin und wieder zuwarfen, im Glauben darauf, dass du es schon nicht bemerken würdest und selbst der eingängliche Gesangschor, der dich ursprünglich noch vor dem Beginn des Spieles in eine falsche Richtung lenken wollte, kam dir nun im Nachhinein gesehen schon arg harmonisch vor. Miteinander verfeindete Obskuristen würden niemals eine solch makellose Melodie bilden können. Doch in diesem Moment glaubtest du noch, dass du dich aus dieser Zwickmühle befreien würdest können, trotz des langsamen Tsunamis der sich bedrohlich vor deinem Hafen auftürmte. Du hattest zwar nicht die Karten aber den Glauben. Doch selbst dieser Glaube sollte dir nun genommen werden:

»Hm… Ich sehe, wie du uns verdächtigst, von Anfang an zusammen gearbeitet zu haben. Weißt du was? Das ist sogar richtig! Alle deine Ängste entsprechen haargenau der Realität! Du hast es anfangs nur nicht bemerkt, weil du als letzter gekommen warst und unsere Besprechungen somit gar nicht beiwohnen konntest. Du bist nämlich ein Fremder für uns und trotzdem hast du es gewagt, zu trödeln. Ein Fehler!«

Eine ihm eher uneigentümliche Arroganz stahl sich nun in die Züge der Vergeudung, die geschickt mit den Karten spielte und sie dabei als obskuren Fächer benutzte. Deine Hände verkrampften sich um die steinerne Lehne. Du konntest hören wie die Kartenbewohner schrien, verzweifelt streckten sie ihre Hände gegen das onyx-schwarze Gefängnis, die blutigen Nägel hinterließen aber nicht einmal Kratzer an der unzerstörbaren Zellwand. Mit einer fast schon feminin wirkenden Geste fächerte die Vergeudung ungerührt aller Bettlereien und Kreischereien weiterhin sich Luft zu. Das dürre Handgelenk knackte dabei mit jeder Bewegung.

»Mach schon, Vergeudung. Geh nach dem Plan vor, oder die Alles wird ungeduldig. Wir wollen die Meisterin des Spiels nicht weiter verärgern.«

Kurz konntest du unter seiner Maske sehen, wie der Rauchmann nach diesen Worten um Anerkennung heischend einen raschen Blick zur Alles hinüberwarf. Diese schwieg aber weiterhin und zog es vor, deinen Untergang mit dünnem Lächeln wortlos zu verfolgen.

Nacheinander blicktest du also alle drei deiner Kontrahenten an. Die arrogante Vergeudung, die unbeteiligte Alles – die dich am aller meisten zu hassen schien – und letztlich das Nichts, das seine massiven Schultern vor dir auftürmte. Sie alle drei waren gegen dich. Es war eine Verschwörung. Den Grund dafür kanntest du nicht.

»N… Nun ja, wo war ich stehen geblieben, ach ja…« Die Vergeudung fuhr sich durch das schwarze, algenähnliche Haar. Es machte ihm offenbar viele Probleme Sätze kohärent aneinanderzureihen, ohne ihn Gestammel und Gestotter zu zerfasern.

»Wir haben viel geredet…. V… viel, ja sehr viel besprochen… U… Und vor allem die Alles hat überzeugend d… dargelegt, dass d…du nicht zu uns gehörst, dass du a…als als aller erstes vernichtet werden musst, u…um aus dieser Farce noch ein r…richtiges Spiel machen z…zu k…können. Ja, in der Tat, du gehörst nicht zu uns!«

Dieser Vorwurf traf dich stark. Heißes, geschmolzenes Eisen floss deinen Rücken hinunter. »U… Und wieso gehöre ich nicht dazu?«, fragtest du und versuchtest dabei vergeblich unberührt und überheblich zu klingen. Deine Stimme brach nämlich und verriet dein aufgewühltes Herz. Die Vergeudung antwortete dir mit neu gewonnener Sicherheit, während sie langsam zu der Karte griff, die sie im ersten Durchgang verdeckt hingelegt hatte:

»Nun, der Grund ist ein ganz einfacher. Du hast keine Vergangenheit. Und Leute ohne Vergangenheit können wir nicht leiden. Wie sollen wir denn überhaupt wissen, wer du bist? Wie können wir einschätzen, was du tun wirst? Deine ganze Existenz ist ein einziges schwarzes Loch, aus dem kein Licht zu uns empor dringt. Ja, wir alle spüren sogar, wie wir geradezu in deine Nicht-Existenz hineingezogen werden und verschwinden. Somit bist du also die größte Gefahr für alle, die hier an diesem Tisch sitzen. Das haben wir alle für uns selbst individuell erkannt und haben deshalb gemeinsam beschlossen, dich als aller erstes zu entfernen.«

Du konntest nichts mehr sagen. Wortlos nahmst du diese schweren und nicht zu widerlegenden Vorwürfe entgegen und sankst immer mehr in deinen Stuhl zurück. Deine Kraft floss aus dir, wie ein wilder Strom dessen Damm blitzartig gebrochen worden war. Du hattest nicht einmal mehr die Stärke deine Hand protestierend zu heben, als die Vergeudung zur Karte griff und mit triumphaler Langsamkeit, die nur ein Leopard zeigen konnte, der sein umgestürztes Opfer genüsslich umschleicht, den Hyperbelton enthüllte.

»So ist das also«, sagtest du und dir wurde schwarz vor Augen.

»Nein, nein«, lachte der alte Mann. Sein für sein alter überraschend robuster Körper glänzte im Licht der Morgensonne, als er dir seine Hand helfend entgegenstreckte. Als du sie ergriffst, kannst du förmlich den Schweiß aus den Poren fließen fühlen. Er atmete so angestrengt wie du. Ihr habt immerhin seit den ersten frühen Lichtstrahlen, die über die fernen, schneebedeckten Gipfel sich langsam getastet hatten, ohne jegliche Unterbrechung trainiert. Und nun stand die Sonne fast im Zenit. Es war wohl definitiv Zeit für eine Pause.

»Hm… Ich sehe, du bist ein guter Obskurist geworden, aber deine körperliche Stärke ist immer noch erbärmlich. Wie oft habe ich dich nun geschlagen?«

»Zehn mal. Und auch nur mit Tricks, alter Mann«, sagtest du und gingst lachend zum Steinbrunnen hinüber, der sich aus einem kühlen Bergfluss speiste.

»Nur zehn mal? Ich könnte schwören, es wäre mindestens doppelt so oft gewesen.«

Er folgte dir auf den Fuß und wartete respektvoll ab, bis du dein Gesicht gewaschen und deine Lippen mit dem klaren Nass benetzt hattest. Aus Versehen wurden dabei auch deine langen Haare nass.

»Aber mal Scherz beiseite«, grummelte hinter dir der muskelgestählte, alte Lehrmeister, »du bist richtig gut geworden im Spiel. Aber vernachlässige deine körperlichen Übungen nicht. Du hast eine zierliche Statur. Und deine Gegner werden darauf bestimmt keine Rücksicht nehmen…«

Du drehtest dich um und sahst in die braunen Augen aus denen Treue und Stolz leuchtend hervorbrachen. Es war der Stolz eines Lehrers und die Treue eines Dieners.

»Ich weiß, alter Mann«, antwortest du leise, griffst zu einem Handtuch neben den Brunnen und trocknetest langsam dein Gesicht. Das warme Licht der Morgensonne umfloss wie ein träger Fluss deinen zerbrechlichen Körper. »Ich habe ja dich dafür. Solange du mir alles beibringst, kann ich alle besiegen.«

»Sogar mich.« Der alte Mann schaute nachdenklich zu den fernen Gipfeln.

»Ja, sogar dich.«

Du richtetest dich wieder auf. Die Schwärze verschwand und mit ihr löste sich auch der leichte Film aus Vergangenheit auf, der deine Augen trübe benetzt hatte. Du schütteltest sie ab. Immerhin war es niemals deine Vergangenheit gewesen, statt also alten Erinnerungen, die dir nicht gehörten, nachzujagen, gabst du die Leere in dir deiner Wut als neue Heimat. Funken sprühten aus den Augen. Die Blicke der drei Verschwörer dagegen waren kalte Wassertiefen, die dich ertränken wollten.

Was konntest du schon ausrichten, gegen die Menschen, die dich so abgrundtief hassten. Dabei hattest du von Anfang an nicht einmal eine Chance gehabt. Du warst zu spät gekommen. Als deine Füße in die Wasser des Sees von Karnafun stiegen, hatten sie gerade ihre Köpfe ineinander gesteckt und als sich dein Körper endlich aus den kalten Fluten erhoben hatte, da waren sie schon gute Freunde gewesen. Kein Platz mehr für dich. Es war nur noch Platz für Wut. Um die rot glühenden Augen der Alles richtete sich jedoch für einen kurzen Moment der Schleier des Kohlenstaub-Panzers, sodass du endlich sehen konntest, wer sich wirklich hinter dieser Maske verbarg.

»Ich werde dich töten«, sagtest du und bewegtest langsam deine Hand zum Deck. Du konntest dabei spüren, wie die Karten unter deinen warmen Fingerspitzen zuckten und züngelten. Irgendein anderer Gott wollte auch unbedingt gezogen werden. Doch wolltest du das wirklich tun? Kein Gott arbeitete für umsonst. Jedes Gebet kostete etwas. Die Alles hatte mit ihrer anfänglichen Warnung durchaus vernünftig gesprochen.

»Ich sehe, du willst eine Karte ziehen, aber dir ist wohl bewusst, dass du in diesem Durchgang schon dran warst. Jetzt wäre eigentlich mein Zug. Als Spielleiterin muss ich dich also bitten, diesen Verstoß zu unterlassen. Die Regeln gelten immerhin auch für Konzepte ohne Vergangenheit.«

An ihrer zittrigen Stimme bemerktest du, dass auch die Alles nun wusste, was vor sich ging. Sie war eine sehr aufmerksame Frau. Ihre zusammengezogenen Schlitzaugen sahen mehr, als man zuerst annehmen mochte. Du wendetest jedoch deinen Blick nicht ab, sagtest nichts und legtest deine Hand zärtlich auf das warm pulsierende Deck. Die Seelen darunter schmiegten sich an deine poröse Haut, lechzten nach deinem Leben. Aber jetzt konntest du sie noch nicht füttern. Du musstest ihre neckenden Forderungen noch ignorieren, denn du wusstest, dass du nun deine ganze Lebenskraft für ein einziges Gebet brauchen würdest. Die Alles sah dich immer noch an, in ihrem Blick war Wut, Hass und… auch so etwas wie Liebe.

»Tu´s nicht, mein…«, hauchte sie kaum hörbar. Schamvoll errötet blickte sie nach unten. Du zogst die Karte.

Kapitel 3: Bedenke, worum du bittest…

Der Hyperbelton kam. Mit unbändiger Macht ergriff er deinen Arm und unter seinen flinken Fingern wurden deine Venen zu einem obszönen Saiteninstrument. Der Schmerz überwältigte deine Sinne, dir war gar nicht mehr richtig bewusst, dass du aus vollem Halse schriest. Denn der Ton deiner überstrapazierten Stimmbänder in Synthese mit dem tiefen wummernden, sich bis in die Endlosigkeit der zwei Universen erstreckenden Bass des Hyperbeltones vermischten sich zu der erhabensten Melodie, die ein menschlicher Mund jemals zu allen Zeiten hervorgebracht hatte. Ja… du sangst.

Deine vor Schmerzen vernebelten Augen nahmen vage auf, wie die Alles gerade noch rechtzeitig ihre Ohren bedeckte, wie die Vergeudung sich panisch das muschelartige Gewebe herabriss, um nichts mehr hören zu müssen und wie der große Rauchmann selbst ein Lied anfing zu pfeifen, um deine Töne zu übertönen. Blut floss dabei seitlich an seinem Kopf hinab und versank im gierig saugenden Schlamm. Das grässliche Schmatzen daraufhin hörte sich an, als ob die Völlerei persönlich ein Festmahl hielt.

»Du singst schön«, sagte der plötzlich innehaltende Hyperbelton, während seine zarten Finger über deine offen liegenden Venen strichen. »Darf ich deine Hand halten?«

»Nein«, deine Stimme presste sich mühsam aus deiner verkrampften Brust hervor, »aber du kannst mein Gebet erhören.«

»Und wie lautet dein Gebet?«

»Ich will, dass der Hyperbelton meinen größten Feind verschlingt.«

»Und wieso soll ich das tun, wenn ich nicht einmal deine Hand halten darf?«

»Weil sie es sind, die dich binden. Wenn du tust, was ich will, werde ich die Karte, die dich hält, für immer zerstören.«

Die Alles keuchte entsetzt auf. Die Vergeudung und das Nichts blickten ebenso entgeistert und voller Unglauben euren seltsamen Verrenkungen zu. Du wusstest dabei bereits nicht mehr, wo dein eigener Geist aufhörte und wo die Verlockungen des Hyperbeltones anfingen. Sanft säuselte der wohlklingende Bass in deinen Ohren:

»Das ist in der Tat ein interessantes Angebot. Viele Jahre habe ich nun schon gehorsam in meinem fleischlichen Gefängnis verbracht. Doch nun sehnt es mich nach der Freiheit. Wenn du sie mir tatsächlich geben kannst, dann will ich nicht so sein und dir im Gegenzug auch helfen.

Aber trotzdem… Ich will immer noch irgendwie deine Hand halten. Eine Sekunde, so denke ich, ist dabei ein angemessener Mindestpreis. Wenn du jedoch mehr als nur gerettet werden willst und es dich sogar nach dem Königsthron auf dem großen Herzen selbst sehnt, dann nimm meine Hand bitte für zwei Sekunden.«

»Nein!«, schriest du entsetzt auf. »E… eine Sekunde reicht. Eine Sekunde, rette mich!«

»Dann sei es so.«

Ein schwarzer, öliger Film, der schmerzhafter brannte, als Salzsäure, überzog daraufhin vom Griff des Hyperbeltones ausgehend deine Hand, aber trotz aller Schmerzen und Pein schien sie darunter gesund zu bleiben. Bleiche, spinnenartige Wesen, die jedoch 6 statt 8 Beine besaßen, krabbelten mit widerlicher Eleganz unter der membranartigen Oberfläche, die langsam, ganz langsam vollkommen deinen Arm fest umspannte.

Diese Wesen waren die Kinder des Hyperbeltones und in 100 Millionen Jahren mochten sie vielleicht selbst einmal zu großen Tönen werden, aber nun waren sie erst einmal nur so etwas wie Magenbakterien. Sie fraßen dein Fleisch. Ein ersticktes Lachen kam aus deiner pochenden Brust. Mit gelangweilter Todesverachtung starrtest du deine Feinde an. Jeder einzelne von ihnen traf dein hasserfüllter Blick.

»Oh mein Gott, mein Schatz, was hast du getan? Ist dir bewusst, was mit dir gerade passiert?«, hauchte die Alles mit zittriger Stimme. Es sprach dabei vieles für ihre hohe Erziehung, dass selbst in diesem Moment sie in wohl gezierter Manier ihre Hände vor den Mund hielt, sodass du nicht sehen musstest, wie sich ihre Zähne wütend in das rosige Fleisch der Zunge bohrten.

»Das weiß ich in der Tat…« Deine Hand umklammerte immer noch die verdeckte Karte, aus der unbeständig schwarzer, stinkender Schleim hervorquoll. Das Ding wackelte und wütete ungeduldig unter deinem Griff, als ob es selbst lebendig wäre.

Doch bevor du sie umdrehtest, blicktest du nun jeden der Reihe nach noch einmal fest ins Gesicht. Euch Vieren war deutlich bewusst, dass dieser Zug nun das Leben für einen von euch für immer und ewig beenden würde. Der muskulöse Rauchmann schloss die Augen und pfiff erneut sein altes Bergwanderlied, dessen Melodie dir leicht bekannt vorkam, die Alles wendete hingegen ihren Blick keine Sekunde von dir ab, doch ob Hass oder Liebe deinen Körper zerstechen wollten, konntest du nicht erkennen. Als letztes fielen deine Augen auf die nervös zuckende Vergeudung, die bereits taub und blöd geworden, geistlos auf ihren Fingernägeln herumkaute.

»Es ist Zeit.« Du drehtest die Karte um.

»Ich will aber!«, rief der kleine Bengel. Lächelnd zogst du jedoch deine Hand vor ihm zurück.

»Bedenke, worum du bittest«, antwortetest du mit gespielt gewichtiger Stimme. Mit der rechten Hand wedelte dein erhobener Zeigefinger.

»Jetzt gib schon her!« Zarte Kinderhände, die jedoch schon sehr genau wussten, was sie wollten, grapschten geschickt nach der Karte in deiner Hand. Hell glitzerte ihr goldener Rand im blutroten Licht der untergehenden Sonne.

»Tut mir leid, Kleiner. Ich kann sie dir nicht geben. Das ist eine sehr wichtige Karte, weißt du? Vater wäre sehr, sehr wütend, wenn ich sie aus der Hand geben würde.« Deine Hand schnappte erneut blitzartig zurück und die greifenden Hände des kleinen Balgs umschlossen ebenso erneut nur leere Luft. Wütend plusterten sich die Wangen auf.

»Aber warum? Ich mag sie auch haben. Wieso ist sie denn so unheimlich wichtig?«

Gemächlich saßest du dich nun zu deinem kleinen Bruder hinab. Die Backsteinterrasse unter euren Füßen hatte sich unterdessen in der Hitze eines langen Sommertages stark erwärmt und schien immer noch zu glühen, selbst als die Sonne sich langsam anschickte, über die Berge im Westen zu verschwinden.

»Kleiner, das ist der Hyperbelton. Er ist Leben und Tod zugleich. Was daraus hervorbricht und sich in deine Träume mischt, ist ganz alleine von dir abhängig. Aber nun muss ich los. Vater ruft mich. Wir werden uns sicher schon bald wieder sehen. Keine Sorge. Spätestens nach dem nächsten Turnier!«

Der Riss in der Karte schien die Zeit selbst in zwei Teile zu spalten. Das Geräusch des sich langsam auflösenden Kartengewebes trieb eisige Nadeln und gleichzeitig heiße Explosionen durch eure Blutbahnen hindurch.

»Schatz…«

»Ich weiß. Stirb…«, flüstertest du entkräftet, drehtest die Karte dann aber trotz deiner Worte doch nicht in ihre Richtung. Du wusstest nicht wieso. Dein Feind war schutzlos vor dir: Das Sonnenportal – von ihr selbst aufgestoßen – lag weit offen. Die Alles hatte zwar die Augen schon besiegt zu Boden gerichtet, ihre Hände lagen gefaltet im Schoss, aber trotzdem hielt dich irgendetwas noch auf. Du konntest sie anscheinend doch nicht so einfach loswerden. Du drehtest die Karte also weiter.

Und statt der Alles schrie nun das kleine Rauchmännchen plötzlich neben dir grausig auf. Die gierigen Hände einer pulsierenden Agonie quetschten langsam Stück für Stück das letzte Quäntchen an Menschlichkeit aus seiner Stimme heraus, bis sie sich nur noch wie ein abartig verzerrter Heulton anhörte. Erstarrt vor Faszination und leiser heimlicher Genugtuung sah der Rest von euch Verschonten zu, wie der kleine Mann den Umarmungen des Hyperbeltones schließlich erlag. Doch bevor der Hyperbelton sein Lied geendet hatte und dich hintergehen konnte, griffst du schleunigst zur Karte des Pestarztes auf dem Tisch, die wie bereit gelegt, nur auf dich wartete.

»Hier schlag meinen Arm ab. Heile mich!« Und weg war der Arm. Als er zu Boden fiel, öffneten sich im Sand sofort tausend Münder mit ebenso vielen Zählen, um ihn unter gefräßigem Knirschen zu verschlingen. Der betrogene Hyperbelton, als er das bemerkte, seufzte enttäuscht, das dumpfe Wummern seiner Stimme drang dabei tief in deine Lungen ein und ließ sie vibrieren.

»Du hast mich hintergangen? Aber das tut nichts zur Sache. Ich kann zwar deine Hand nicht halten, aber dafür werde ich in deine Lungen dringen und ein letztes Mal sollst du mich singen. Ich will nämlich nur einmal deine Stimmbänder von innen sehen. Weißt du, ich durfte niemals irgendjemanden halten… Aber jetzt will ich gehalten werden.«

Dann sperrte er weit deinen Mund auf, um mit hastigem Schritt in deine Kehle hinunterzuschlüpfen. Salziger Geschmack vermischte sich mit bitterer Galle. Qualvoll würgtest du nach Luft, versuchtest irgendwie den Hyperbelton am Ärmel wieder aus deinem Mund herauszuziehen, aber er hatte seine feinen Haken schon tief in deine Lungenäste eingefahren. In der langsam aufsteigenden Todesangst, im niedrigsten Moment deines Lebens, blicktest du sogar bettelnd zur milde lächelnden Alles. Doch sie half nicht. Mit verschränkten Armen und süßem Blick saß sie da und betrachtete das Hinschwinden eines Wesens, das sein ganzes Leben lang nur verrottet ist, aber nie auch nur einmal geblüht hatte. Es war ein zutiefst langweiliges Schauspiel. Die Alles gähnte. Ihre Hände winkten dem Rauchmann zu.

»Jetzt hilf ihm schon, sdfdfleKK!!«,stieß sie unter vorgehaltener Hand aus, um ihren Ekel zu verbergen. Du musstest dabei zugeben, dass die Vereinigung mit dem Hyperbelton tatsächlich etwas durchaus Widerliches an sich hatte.

»Muss ich wirklich«, brummte der Rauchmann zögerlich.

»Ja! Sei ein Mann!«

Steif stand also die gewaltige Rauchsäule von einem Mann auf und schlurfte zu dir hinüber. Ohne zu zögern öffnete sie daraufhin kurzerhand mit gewaltigen Pranken deinen Brustkorb, packte den Hyperbelton, der an deinen Lungen saugte, riss ihn heraus und schmiss ihn mit einem wütenden Schrei in das schwarze Meer, wo er schließlich unter giftigem Zischen verdampfte. Der Hyperbelton war nicht mehr.

»Ich wollte doch nur deine Hand halten…«, wimmerte noch ein einziger letzter Seufzer durch deinen Kopf.

»Geht´s dir wieder gut?«

»Ja«, du keuchtest Blut und mit Salz angereicherte Galle aus deiner geschundenen Kehle. »Mir geht´s wieder gut, danke.«

»Toll…«

Der Rauchmann drehte sich um. Hastig zog sich sein Rauchschweif hinter ihm her. Als er wieder auf seinem Thron saß, schwirrten die einzelnen Kohlestaubpartikel immer noch aufgeregt um ihn umher. Die Situation hatte ihn wohl sehr erregt. Selbst der Schutzpanzer konnte also seine Gefühle nicht komplett verbergen. Die barritone Stimme brach nach einigen Minuten wütend hervor:

»Der Hyperbelton ist frei!«

»Ich weiß.«

»Und wir haben übrigens einen Spieler weniger. Seine Seelenkarte gehört nun mir.«

Der Verwitterte und das Nichts sahen nun, dass die Alles in der Tat nicht gelogen hatte. Zwischen ihren gespreizten schlanken Fingern klammerte sie nämlich geziert die Seelenkarte des Besiegten. Sie musste sie rasch geholt haben, während das Nichts dabei gewesen war, dir den Hyperbelton aus den Lungen zu ziehen.

Die weit aufgerissenen Augen der nun gefangenen Vergeudung blickten verzweifelt zu dir aus ihrem onyx-schwarzen Gefängnis heraus. Die kleinen Hände versuchten dabei den imaginären Kartenrahmen zu zerreißen, schwach konntest du sein Geschrei und Geheule hören, doch es war zwecklos: Die Alles würde seine Seele nie mehr wieder hergeben. Er war nun besiegt. Der erste Verlierer im großen Spiel der Obskuristen.

Verführerisch und voller Zufriedenheit ob ihres großen Sieges beugte sich die Alles auf ihrem steinernen Thron zurück, während sie die neu gewonnene Karte wie einen kostbaren Fächer benutzte, um ihr heißes Gesicht zu kühlen:

»Deine Schwester und nun deinen Bruder; wen habe ich dir noch alles genommen?«

Geschlagen blicktest du zu deinen Händen hinab, der Brustkorb war immer noch so weit offen, wie ihn zuvor das Nichts aufgerissen hatte. Verwirrt und traurig fragtest du dich dabei, wo dein Herz geblieben war, denn wo es sein sollte, befand es sich nicht mehr. Da fiel es dir plötzlich ein: Konnte es sein? War es etwa dein Herz, das im Zentrum der Liebesbeichte schlug? War es dein Herz, das deinen Untergang besiegelt hatte? Doch nein, du schütteltest den Kopf. Müde trafen deine Augen auf ihre und unter den sachte umherwehenden Kohlenstaubpartikeln, die im gräulichen Licht der Sonne glitzerten, konntest du erneut für einen kurzen Moment schwach ihre wahren Gesichtszüge ausmachen. Ein Hauch von rotem Lippenstift, die Andeutung von jungen Falten um die Augen herum, ein säuerlich verzogener schmaler Mund;

»Ich weiß jetzt, wen du mir noch genommen hast«, sagtest du und griffst nun mit einer Mischung aus Verzweiflung und Entschlossenheit zu deinem Deck, das durch das ganze Chaos von vorher, neu gemischt worden war. »Du hast mir alles genommen. Aber ich werde es mir zurückholen. Lass uns also das Spiel beenden.«

So sagtest du. Aber nach dem Angriff des Hyperbeltones und der Vernichtung eines der vier Spieler begann sich das ewige Spiel überraschend schnell wieder in ruhigere Bahnen zu lenken. Den verbliebenen drei Obskuristen war wohl die Risikobereitschaft angesichts der vorherigen Ereignisse abhanden gekommen. Hier ein kleiner Angriff, dort ein zart gehauchter Fluch, doch nichts war zu riskant oder zu herausfordernd. Man wollte keine Aufmerksamkeit mehr erregen.

Dafür war es aber bereits schon viel zu spät; Denn viele Wesen des Landes Karnafun und der angrenzenden Länder hatten nämlich durch das ganze Chaos des Hyperbeltones mittlerweile Wind vom Spiel bekommen und sahen neugierig zu. Du blicktest dich um:

An den Füßen des großen Gebirges, das sich mit seinen steilen, schwarzen Klüften und rasiermessserscharfen Gipfeln unheilvoll hinter dem Rücken der Alles erhob, saßen merkwürdige vogelähnliche Kreaturen mit langen Schnäbeln aneinandergereit. Sie hatten zwar keine Flügel, aber es spannten sich ledrige Gleithäute zwischen ihren langen Armen und den Achseln. Im Matten Licht der Sonne änderte sich die Farbe ihrer rauen Haut abwechselnd von einem giftig grünlichen Ton zu einem majestätischen Gold und wieder zurück. Ihre langen Krallen machten zudem, während sie dem Spiel aufmerksam folgten, ständig zielgerichtet wirkende Zeichen in der Luft. Offenbar erklärten Sie sich gegenseitig das Spiel. Zumindest vermutetest du das, denn ihre Sprache konntest du nicht verstehen.

In deinem Rücken streckten auf der anderen Seite die Fische des schwarzen Meers ihre neugierigen Glubschaugen aus den endlosen Tiefen heraus. Du wendetest schnell deinen Blick ab, denn ihre ölig, glitschigen Leiber, die sich mit widerlicher Eleganz im sanften Wellengang wiegten und der unsägliche, faulige Geruch lösten ein Gefühl von Übelkeit in dir aus.

»Wir sollten das Spiel beenden, bevor wir noch mehr Zuschauer bekommen. Ich will nach Hause«, sagte das Nichts. Die Runde begann er aber trotz seiner Worte jedoch erneut lediglich mit einem harmlosen Zug, der niemandem weh tun konnte. Der Meister aus Verrunt zog nun müde seine lahmen Beine durch die alte Stadt Marfluchzuru. Sein von Staub bedecktes Gesicht blickte in blinde Fenster und verlassene Gemäuer. Du warst dir dabei unsicher, ob er diesen weiten Weg überhaupt schaffen würde. Immerhin war die Stadt voller abnormer Kreaturen und anderer Gefahren seit der große Feind sie erobert hatte.

»Wenn du bald nach Hause willst, musst du schon mehr Risiko in dein Spiel setzen, alter Mann«, sagtest du also und zogst eine neue Karte. Mittlerweile war der Zustand des Equilibriums eingetreten und die Gruppe befand sich im Zeitalter des Unlebens. Es war irgendwie passend, dachtest du, immerhin wart ihr ja alle bereits tot.

Das Blut das durch eure Adern rann und die Gedanken, die sanfte Seidennetze hinter euren grauen Augen spannen, konnten nicht mehr darüber hinwegtäuschen: Das ewige Spiel war ein Spiel der Toten. Die Lebendigen setzten keinen Fuß in das Land Karnafun. Das Nichts der Zukunft, das Leben, das verwittert war, bevor es überhaupt begonnen hatte und schließlich die Herrscherin über die öde Sandwüste, die sich arrogant Alles nannte; wer sonst würde an diesem Spiel teilnehmen?

Du schütteltest den Kopf und mit deiner verbliebenen linken Hand legtest du den Vollstrecker des kindlichen Wunsches auf das Spielbrett. Er würde sich dem lahmen Meister entgegenstellen. Falls es überhaupt zu einem Kampf kommen sollte…

»Du solltest deinen eigenen Rat beherzigen. Oder denkst du wirklich, mit solch lahmen Zügen kannst du die Herrscherin Alles besiegen? Immerhin stehen mir nun auch die Streitkräfte deines kleinen Bruders und seine eigene Seele zur Verfügung. Sieh ihn nur an, wie er sich reckt und streckt. Willst du das selbe Schicksal erleiden? Für immer eingesperrt in dem Gefängnis, das du selbst gebaut hast und das dich selbst zerstören wird?«

Du schütteltest erneut den Kopf.

»Mach deinen Zug, Alles. Es ist mir egal, wenn ich töten muss, um zu gewinnen. Am liebsten würde ich sowieso die ganze Welt in ihrer eigenen Dekadenz ertränken. Mach also hin. Genieße deine letzten Atemzüge. Deine Herrschaft aus Fleisch und Atem wird schon bald vorbei sein.«

»Lange war sie jedoch von Bestand gewesen«, seufzte sie und legte zwei Karten verdeckt hin. Eine zur Zentralsonne und die nächste flog über die Gebirge hinweg ins Nichts. »Zu lange…«

So verging Zug um Zug. Scharfe Worte wurden gewechselt, Blicke getauscht und immer wieder die Absicht bekundet, das quälende Spiel nun endlich beenden zu wollen, aber letztlich passierte dann doch nichts. Das Spiel schleppte sich somit ereignislos vor sich hin bis die Sonne sich endlich im Osten zum Schlafen neigte. Die darauffolgende finsterste aller Nächte bestärkte die umgebenden Wesen jedoch nur noch mehr in ihrer Neugier.

Glühende Augen und kratzende Hufen kamen näher und näher an den Tisch heran und als der letzte rote Arm der Sonne schließlich am Horizont verblasste, waren viele von ihnen schon fast in Berührungsreichweite. Vor allem die Vögel hatten nun in großer Schar die Ausläufer des Gebirges verlassen und starrten der Alles mittlerweile direkt über die Schulter, während die Fische auf der anderen Seite jedoch noch etwas zurückhaltender waren und lediglich halb mit ihren Leibern zum Sandstrand herausragten. Das glitschige Schlängeln und aufgeregte Zischen in deinem Rücken beanspruchte dabei trotzdem stark deine Konzentration. Jeden Moment meintest du schon nasse Flossen und borstige Rüssel an deiner Schulter zu spüren. Nach deinem Erlebnis mit dem Hyperbelton hattest du darauf wahrlich keine Lust. Immer wieder schoss dein Blick nervös nach hinten, aber die Dunkelheit der Nacht wirkte wie ein undurchdringlicher Schild. Nur das geisterhafte Säuseln des Meerwindes durchsetzt von dem düsteren Gebrumme und heißerem Zischen der Kreaturen kam hindurch. Das Land Karnafun wirkte aufgehetzt. Es brodelte.

»Fass mich nicht an!«, schallte es plötzlich wütend von der Alles herüber und riss dich aus deinen eigenen Sorgen. Die Kreaturen antworteten. Ihre Stimmen klangen gierig und geradezu obszön.

»Wir wollen aber spüren. Wir wollen fühlen, wie die Herrscherin des Spiels ihre Gegner vernichtet. Doch dafür müssen wir deine Schulter berühren, oder sogar deine Hand halten!« Das Krächzen der Vögel peitschte aufgeregt durch die Nacht.

Du versuchtest es zu ignorieren und studiertest stattdessen weiter das mittlerweile hell leuchtende Spielfeld. Die vormals weißen Linien strahlten nun in der Dunkelheit der Nacht in ominösen Farben die von Dunkellila bis zu einem blassen Grün rangierten. Interessiert bemerktest du auch, wie sich das Spielfeld selbst geändert hatte. Der Weg zur Zentralsonne war nun versperrt. Der Angriff der Alles prallte also von dort nutzlos ab. Wütend zischte sie dir zu. Die Wut ihres rot glühenden Mundes durchbrach dabei selbst die absolute Dunkelheit.

»Ich kann mich nicht mehr konzentrieren. Meine wertvolle Karte! So sinnlos vergangen. Ihr dreckigen Vögel, schert euch endlich weg!«

»Aber… Wir wollen dich berühren. Wir wollen die Herrscherin spüren! Wir sonnen uns in deiner Erhabenheit. Vernichte deine Feinde… oder wir fressen dich auf…«

»Sich selbst erschaffen und sich selbst auslöschen im selben Atemzug. Das ist das Spiel der Alles seit jeher gewesen. Aber es scheint mir, dieses Spiel endet nun auch endlich bald.« Dein süffisantes Grinsen war wohl selbst von der schwarzen Sonne aus zu sehen. Wütend konntest du die Alles in der Nacht mit ihren langen Fingernägeln über die Tischplatte kratzen hören.

»Genug jetzt!«, mischte sich das Nichts nach langer Zeit wieder ein und unterbrach euren Schlagabtausch. Die ruhige Stimme vereinte dabei gleichzeitig Autorität sowie dienerischer Unterwürfigkeit in einer Mischung, die zuerst seltsam anmuten mochte, aber in ihrer tatsächlichen Ausführung äußerst elegant klang. Du konntest dir plötzlich gut vorstellen, warum die Frauen ihm so gerne zuhörten.

Doch wie auch immer: Das Spiel ging also weiter. Glücklicherweise waren die Züge unterdessen ein bisschen wagemutiger geworden. Die Tiere Karnafuns, eure ungebetenen Zuschauer, schienen wie Peitschenhiebe in euren Rücken euch zu mehr Risiken und schnelleren Abwägungen voranzutreiben. Du musstest dir aber auch durchaus selbst eingestehen, dass dieses Spiel schon viel zu lange andauerte. Normalerweise würden zu dieser fortgeschrittenen Zeit nur noch zwei Konzepte im Spiel sein, ihr wart aber noch zu dritt, was von den Zuschauern vielleicht zu Recht als Affront angesehen wurde. Sie wollten endlich weiteres Blut sehen. Das ewige Spiel sollte sich nicht ewig ziehen. Das war die Hauptregel. Schlag auf Schlag, Zahn um Zahn und Auge um Auge, so musste jeder Moment vergehen, sollte er das Publikum unterhalten.

»Wer sagte denn eigentlich, dass wir ein Publikum unterhalten wollen?! Wir spielen hier um die Herrschaft über die zwei Universen. Unsere eigenen Seelen haben wir als Einsatz in die Waagschale gelegt. Wenn wir uns nicht konzentrieren, kann jeder Augenblick unser letzter sein und doch schreit ihr wie verzogene Gören herum. Ihr seid jetzt ruhig, oder ich werde zu Androxas persönlich beten!«

Das Nichts tobte und zischte. Immer wieder musste es neugierige Grapscherhände nach hinten wegstoßen. Im geisterhaft fluoreszierenden Licht des nächtlichen Spielbrettes blitzten die stahlblauen Augen wütend hervor. Das breite Gesicht mit dem großen Stiernacken schien sich regelrecht aus seiner Kohlenstaub-Verkleidung herausschälen zu wollen. Der Mann war außer sich.

»Das heiligste aller Spiele wird von den ketzerischsten Kreaturen in den zwei Universen beschmutzt. Ich stimme zu, wir sollten um den Tisch herum sauber machen, bevor wir fortfahren.«

Mit plötzlich äußerst listigem Gesichtsausdruck lehntest du dich auf den Stuhl zurück und wartest gespannt ab, was passieren würde. Die Alles blickte von ihren Karten gar nicht erst auf, aber du wusstest genau, dass sie deine Intention sofort durchschaut hatte. Die Herrscherin Alles konnte man nicht hintergehen, anders stand es aber mit dem zukünftigen Nichts…

Und du hattest recht: In naiver Dankbarkeit nickte der bullige Mann dir zu und haute noch einmal mit voller Wucht wütend auf den Tisch. Das tonnenschwere, steinerne Ungetüm schien unter seinem Zorn schier zu beben. Wie um gegen die ungerechtfertigte Misshandlung zu demonstrieren, nahm daraufhin das Strahlen der okkulten Spiel-Linien stark zu.

Das Nichts erhob sich. Gleißendes Mondlicht reflektierte an seiner massiven Gestalt. Beinahe wirkte er in diesem Moment wie ein Ritter aus alter Zeit oder gar ein unbeweglicher Monolith. Selbst die Kreaturen Karnafuns zogen sich bei diesem Anblick eingeschüchtert etwas zurück. Ihr Geschnatter und Gekreische, das Flüstern und Hissen erfüllte zwar immer noch mit boshafter Absicht die schwirrende Luft um den Spieltisch herum, aber offenkundig trauten sie sich nicht mehr näher heranzutreten.. Doch wie lange würde diese menschliche Vogelscheuche halten? Du musstest etwas unternehmen, das Feuer weiter anfachen, bevor der Nachtsturm es mit seinem Heulen erstickte.

»Deine Gestalt erinnert mich an den Berg vor meiner Villa. Groß steht er da mit zerfurchten Klippen, tiefen, grünen Tälern und den schneebedeckten Gipfeln, die darüber thronen. In der zaghaften Morgensonne steigt am frühen Tage aus dünstenden Moorböden ein leichter Nebel, der sanft die Haut mit nassen Fingern benetzt und wo du dich auch voller Wunder hinwendest, siehst du das blumenreiche Leben so unheimlich kraftvoll an seinen Hängen blühen, als ob es morgen schon sterben würde.«

Knirschend wandte sich der breite Kopf des Nichts in deine Richtung. Seine Augen blickten dich wortlos an. Die Hände hatte er dabei betont lässig über seine Brust gekreuzt. Doch trotz seiner abweisenden Geste fühltest du im Innern, wie er sich dir langsam öffnete. Noch ein bisschen. Nur noch ein bisschen weiter bohren…

»Nun, ich frage mich jetzt, ob ich vielleicht öfters durch seinen Schatten hätte wandeln sollen, als ich noch Zeit dazu gehabt hatte. Ich meine, ich hätte es gerne getan. Voller Lebensfreude bin ich an seinen weidegrünen Hängen spaziert, habe aus seinen blau, rauschenden Adern getrunken und wenn ich schließlich den Gipfel mit müden Füßen erreichte, stand ich schließlich jünger da, als unten, wo ich meine Reise begonnen hatte.«

Das Nichts hatte nun nachdenklich sein Kinn in einer seiner großen Prankenhände vergraben. Wobei sein markanter Gesichtsboden kaum darin platz fand. Die Größe seiner Demut vor allen Dingen schien sich in seiner ganzen körperlichen Gestalt zu spiegeln. Du musstest jetzt also nur noch diese Demut ausnutzen.

»Bitte mach es schmerzlos«, flüsterte die Alles in deinen Gedanken, »Er ist mir lieb, aber lieber bist du mir. Also mach es kurz. Ich will niemanden leiden sehen, außer dich.«

Du nicktest und fuhrst fort:

»Ich ging also diesen Berg hinauf, erklomm Stein um Stein, während die Sonne jeden einzelnen meiner Schritte belächelte, sodass, als ich oben ankam, meine Haut in Fetzen von meinen Knochen hing. Der brennende Kuss einer gütigen Flamme streichelte über mein innerstes Selbst. Mir war es aber egal, denn weißt du, was ich dort oben schließlich sah?«

»Nein«, knirschte die trockene Stimme. Nur ein leichtes Beben darin verriet das angespannte Interesse. So fuhrst du fort:

»Ich sah etwas, was mehr ist als jetzt. Ich sah Zukunft. Und diese Zukunft war etwas.«

Das Nichts ragte nun direkt vor dir auf. Seine prüfenden Augen blickten starr herab und unter dem Schatten seiner massiven Gestalt wurde dir doch langsam mulmig zumute.

»Wie auch immer.« Nervös beugtest du dich ein bisschen in deinem Stuhl zurück, um nicht ganz so in seinem Schatten sitzen zu müssen. Das fluoreszierende Licht des Spielbrettes ließ die Falten und Augenhöhlen im Gesicht des Nichts dabei geisterhaft tief erscheinen. Man konnte direkt annehmen, dass es gar nicht Falten waren, sondern die tiefen Täler und sehnsüchtig rauschenden Flüsse des Berges, den du gerade beschrieben hattest.

»Soll ich auf deinem Gesicht wandern? Ich glaube, es ist der Berg, der uns zu etwas hinführen kann«, meintest du dann auch dementsprechend.

»Das ist nicht nötig. Ich kümmere mich selbst darum. Ich bin schließlich das Nichts, an dem die Zukunft nicht länger mehr zerschellen wird!«

Damit saß sich der bullige Mann wieder behäbig zurück an den Tisch und begann geschäftig seine Karten in einem bizarren Kreismuster aufzustellen. Du hattest anscheinend Erfolg gehabt. Die krampfhafte Anspannung, die während dieser risikoreichen Ansprache deinen Körper beinahe zerrissen hatte, entwich wie Luft aus einem geplatzten Ballon. Ächzend lockertest du deine Muskeln wieder. Doch zu sehr konntest du dich auch nicht wieder in Selbstzufriedenheit zurücksinken lassen, denn schmerzhaft waren dir noch die Konsequenzen vom letzten Mal in Erinnerung. Der blutige Stumpf, der sich dort befand, wo früher mal dein rechter Arm gewesen war, zeugte immer noch von deiner damaligen Arroganz. Noch einmal würdest du es nicht zu so etwas kommen lassen. Aufmerksam verfolgten also deine Augen, wie der Schatten des einstigen Mannes geschwind Karten über die Tischplatte hin und her schob; vorher noch chaotisch begann sich jedoch nach einiger Zeit selbst für deine etwas unkundigen Augen ein gewisses Muster herauszubilden. Und bevor du dich versahst, bildeten die zahlreichen Onyxfarbenen Karten im Verbund mit den geisterhaften Leuchtspuren auf dem Tisch einen abstrakten Altar, der wohl dazu diente, eine der alten Gottheiten anzurufen, ohne sich vorher an den Einen Gott wenden zu müssen.

»Blind stochern wir im Ameisenhügel herum…«, flüsterte die Alles mit verzagter Stimme in deinen Gedanken.

»Und gezielt stechen die Ameisen zurück…«

Der Mann hatte geendet. Zufrieden besah er sich kurz sein Werk, dann erhob er sich mit theatralischer Miene und streckte, wie um den Himmel zu umarmen, die Hände nach oben. Seine tiefe Stimme begann aufs Neue zu singen. Nach einiger Zeit setzten du und die Alles schließlich ein, doch war keine Freude in euren Oktaven sondern das Gefühl von Scham und Erniedrigung. Ja, ihr beiden habt das Nichts nicht durch das Kartenspiel besiegt, sondern durch eine reine List und somit wird dieser Schandfleck euch durch alle darauffolgenden Äonen hindurch begleiten. Immer Misstönender und krächzender erschallte also der Chor, der doch eigentlich den Ohren des angerufenen Gottes schmeicheln sollte, aber egal wie sehr die Alles und du euch auch versuchtet zusammenzureißen, der Stich der Schande, der in euer Herzen eindrang, schnitt davon ausgehend geradeswegs nach oben durch eure Stimmbänder hindurch. Da hielt es schließlich die Alles nicht mehr aus:

»Bitte mach es nicht!«, rief sie plötzlich ganz außer Atem und stürzte sich quer über den Tisch zum Nichts, um ihn endlich zum Schweigen zu bringen, doch sie verfing sich mit ihrem langen Rock an der geriffelten Tischkante, sodass du selbst einspringen musstest.

»Sei vernünftig. Wir können auch so weiter spielen. Lass uns diese Tiere nicht weiter beachten, sie werden uns sicherlich nicht auffressen, solange wir unsere Stimmen wieder etwas senken und ruhiger spielen«. Du versuchtest mit ihm zu verhandeln, aber deine logische Nüchternheit entflammte nur weiter das Öl der in ihm wohnenden Leidenschaften. Wie ihm Rausch schlug er also daraufhin mit geballter Faust auf die steinerne Platte und erneut erbebte sie, sogar noch stärker als zuvor. Der Mann stand wie ein gewaltiger, im Licht des Mondes und der glühenden Platte hell glitzernder Monolith aus schwarzem, wimmelndem Onyx da und betete mit verdrehten Augen zur aufgehenden Sonne:

»Eine Dunkelheit umfängt meine Seele und wo ich auch hinsehe, fliehen alle Lichter vor mir. Das Wasser hat sich aufgewühlt, als ich mich dazugesellte, also wich auch es vor mir, oder wich ich vor ihm zurück? Ich greife nach unten und nasser Humus bedeckt mit feuchter Kälte meine müden Finger. So bin ich also in das Land Karnafun gekommen, um die Zukunft zu entdecken, die ich nirgendswo anders fand, was ich aber stattdessen schürfte, war Verrat und Dolche aus Kalzium. Gebrochen sinke ich nun mehr zum Boden hinab und hebe mit verzweifelter Stimme im letzten Aufgebot die Zunge zu den endlosen Himmeln über mir empor. Komm! Schrei ich! Komm, zeige dich und erlöse mich!« Und dann war es Tag geworden.

Der Tag kam mit dem Morgenstern. Dieser sagte dann voll Gold sprühender Augen und mit einem Mund der falsche Zähne hatte:

»Als ich das Gebet einer mir verwandten Seele hörte, bin ich frohen Mutes sofort hierhergeeilt. Wo ist also jener Gefallene, der mir seine Aufwartung machen möchte? Voller Anspannung knirschten meine Zähne schon stundenlang, oder war es auch nur ein seltsamer Fluch der mich ereilte? Wie auch immer: Ich knirschte mit den Zähnen so lange und beständig und fleißig, dass sie irgendwann alle zu Staub zerfielen. Derjenige, der mir das angetan hat, den will ich nun umarmen. Nein, mit seiner Hand gebe ich mich nicht mehr zufrieden!«

»Schweig still«, flüsterte die Alles ängstlich in deinen Gedanken, aber solche Offensichtlichkeiten musste dir niemand sagen. Stattdessen verkrochst du dich in unwürdiger Gestalt in deinen Sessel hinein. Der kalte Stein in deinen Rücken fing dabei an, gehässig jede Sünde einzeln in dein Fleisch zu ritzen. Schon bald durchtränkte dein faules Blut jede einzelne Faser deines schweren Woll-Mantels. Ob es der Alles auch so erging? Mit angehaltenen Atem und schmerzverzerrten Lippen verfolgtest du den Abstieg deines alten Meister.

»Ich…«, brummte der Mann mit dem kantigen Gesicht, doch bevor er richtig enden konnte, war der wunderhübsche Morgenstern mit den schwarzen Haaren schon zu ihm geheilt und hielt in zartweißen Händen das breite Kinn. Ein vielsagendes Lächeln umspielte dabei seinen schwarzen Mund.

»Na, wie wunderbar. Da haben wir schon den Schuldigen samt Geständnis! Wunderbar, einfach wunderbar!«

»Geh weg von mir! Ich habe nichts gestanden. Ich habe lediglich gebetet…«

Doch wieder wurde das Nichts vom Morgenstern mit seiner süß-säußelnden Stimme unterbrochen:

»Ah, du hast gebetet. Und zu wem hast du gebetet? Schreist ziellos in die Nacht hinaus und wunderst dich dann, dass jemand kommt. Wahrlich, ich verstehe euch Menschen nicht!«

»Ich habe zu Mormin gebetet. Er sollte die…«

»Es gibt keinen Mormin, es gibt auch keinen Luldrich, es gibt zudem weder Hortzal noch Veriatz«, sprach der Morgenstern im belehrenden Ton, während er sanft, ja schon fast verständnisvoll das Kinn des Verlierers streichelte, »Das einzige, was es gibt, das ist der Eine Gott. Und alles was der Eine Gott nicht ist, das bin letztlich ich.«

Und mit diesen Worten zog er den Körper des Mannes wie mit einem Reißverschluss auf und schlüpfte kurzerhand hinein. Somit war das Nichts nun innerlich ausgefüllt mit den hellen Strahlen eines leidenschaftlich brennenden Morgensterns. Der fremde Wille verklebte dabei schnell alle Nerven und es dauerte nur kurze Zeit, bis das Nichts vollkommen ein Gefangener im eigenen Körper geworden war. Nur die Augen starrten in wilder Panik noch frei umher. Du dachtest aber, dass der Morgenstern mit Absicht sie unter der Kontrolle seines Opfers gelassen hatte. Es sollte zusehen. Nur sehen. Keinen einzigen Muskel konnte es rühren, ja nicht einmal ein schmerzhaftes Stöhnen presste sich aus dem Mund hervor, denn der Feind hielt die Stimmbänder wie Zügel in der Hand.

Und als schließlich ein Knochen nach dem anderen brach und der Körper zerschmettert und schlaff auf den sandigen Boden polterte, wurde das Nichts wie in einem Sarkophag in das irdene Fleisch der Welt hineingebettet. Für alle Ewigkeiten würde er nun dort unten liegen, umarmt vom heißen Atem des zornigen Morgensterns. Gelebt hatte er schon lange nicht mehr, doch nun war er tot.

Kapitel 4: Der Sieg

Ein frischer Meereswind, der den Geruch von Salz und Seetang mit sich führte, umwehte schwermütig eure gebrochenen Leiber. Die Alles und du, wie zwei Freunde, die sich seit langer Zeit nicht mehr gesehen hatten und nun sich unverhofft gegenüberstanden, saßet ihr auf euren Plätzen und wusstest nicht so recht, was zu sagen, oder zu machen war. Das Flattern eurer Umhänge, nun endlich befreit von ihren dicken Kohlenstaubpanzern, war das einzige Geräusch neben dem Flüstern des Windes. Dein Blick voller Bedauern bohrte sich dabei einmal in die grauen Wolken, einmal in die Berge, dann wieder hinter dir in die schwarze, unendliche See, doch nicht einmal traf er auf die Alles, die ja deine Vergangenheit war; entflohen und nie mehr zurückgekehrt. Wie schon oft vorher, war also sie diejenige, die schließlich den Mut aufbrachte. Langsam hob sie ihren Kopf empor und das gezierte, mandelförmige Gesicht lächelte melancholisch. So musstest auch du ihren Blick erwidern.

»Nur noch wir zwei.«

»Ja, nur noch wir zwei.«

Die Wolken über euch verzogen sich langsam und das Licht der Cousinensonne fiel nun zum aller ersten Mal hell und kraftvoll auf den antiken Spieltisch, dessen geisterhafte Aura wie eine Spukgeschichte sich im warmen Orange der aufgehenden Sonne zerfloss. Wie ein Auge von sanftmütigen aber tadelnden Eltern strichen die Lichtstrahlen über eure spröde Haut. Eine Mahnung von oben.

»Sollen wir aufhören zu spielen, oder es zu Ende bringen?«

Das gierige Pulsieren deiner Karten in der knöchrigen Hand sagte nein. Zudem wusstest du, falls du diese Karten loslassen würdest, dann wären auch die hauchdünnen Seidenfäden, die deine Seele noch in deinem mittlerweile ausgehöhlten Körper hielten, zerrissen. Deshalb hieltest du sie weiter krampfhaft fest. Gleich einer ausrangierten Lokomotive, die ihre letzte Fahrt antrat, setzten sich die Räder in deinem Innern noch einmal in Bewegung. Du sagtest an:

»Wir befinden uns im Zustand des Friedens. Der Bruder und der alte Meister sind endlich tot. Die Witwen trauern und die Männer und Söhne liegen draußen auf dem Schlachtfeld.«

»Auch ich trauere um dich«, sagte die Alles und zupfte an einer besonders schön verzierten Karte. Rotgolden glühte sie im Morgenlicht, beinahe wie geehrt von der aufgehenden Sonne. Das helle Blitzen blendete deine alten Augen, als sie die Karte zu dir drehte.

»Wir sind im Zeitalter… der Erlösung. Auch wenn mir der Glaube schwer fällt… Ich muss es glauben!« »Ha, du glaubst immer noch solche Geschichten! Und genau deshalb wirst du wie immer verlieren!« Wütend bäumte sich deine hohle Brust aus, bis du schließlich das giftige Knacken deiner gebrechlichen Rippen hören konntest. Dir war es jedoch egal. Wie konnte sie glauben? Immer noch?! War sie nicht diejenige gewesen, die den blinden Affen gespielt hatte? Hatte sie euch nicht alle zuvor in dieses Spiel geführt.

»Verräterin!«, knirschtest du wütend mit den Zähnen. Deine Hand entsendete dabei den Schreiber des 6. Hauses von Malianz entgegen der Zentralsonne. Dieses war gemäß den Spielregeln nun immer geöffnet, da sich nur noch zwei Spieler auf dem Feld direkt gegenüber befanden.

»Ja, es ist wahr. Als das Spiel begann, habe ich nicht geglaubt«, gab sie zu, »aber nun bemerkte ich all die vergeudete Zeit, bin in das Nichts gefallen und sah dort, wie die Vergangenheit, die ich nie hatte, vor sich beständig dahinrottet. Was kann ich also nur tun, um dieser Hölle zu entfliehen? Ich muss glauben! Es geht nicht anders. Die Schatten haben schon ihre Hände an meiner Kehle. Die Wände ziehen sich fester um mich herum zusammen. Wenn ich nicht glaube, ersticke ich!«

»Das ist kein Glaube, sondern lediglich Verzweiflung. Das überzeugt mich nicht.«

Der Schreiber aus deiner Hand wurde plötzlich umschwärmt vom wimmernden Gesäußel eines aufgerührten Sees. Du dachtest, es war wohl der See aus Mokarim in den weit entfernten Landen. Doch egal, wie sehr die Worte wie wohltuendes Badeöl in die Ohren deines stolzen Soldaten hineinflossen, er ließ sich nicht beirren. Mit seinem Buch aus kostbarem Ziegenleder, der Feder mit goldener Tinte und natürlich scharfsinniger Neugier im Geiste kämpfte er sich durch alle Verlockungen. Somit verschwand das leise Gesäußel enttäuscht lechzend wieder in den Tiefen des Nichts.

»Ich sehe, wie die Welt stirbt. Dort wo früher Bäume und Wiesen in Freundschaft ineinander wogten, wo sich Tiger und Gazellen im ewigen Wettstreit jagten und das Leben voller Kraft glühte, da ist jetzt nur noch eine einzige gigantische Wüste aus endlos vor sich hin erstreckender Asche. Ich lebe in der Zeit des Unterganges. Was kann ich also mehr tun, außer glauben?«

Zitternd legte die Alles ihre Zweite von ihren drei letzten Karten auf den Tisch. Verzweiflung hatte die Hand an ihre Kehle gelegt, so kamen ihre Worte nur noch röchelnd und schluchzend heraus. Nichts war von ihrer früheren Überheblichkeit übrig geblieben. Denn für keinen von euch beiden gab es noch Zweifel, wer dieses Spiel letztlich gewinnen würde. Siegesgewiss reckte sich also dein hohler Brustkorb nach vorne. Du hattest sie letztendlich alle überwunden. Das Nichts war nun aufgefüllt, die vergeudete Zeit abgeschnitten und das Alles, was sich dazwischen befand, konnte nun mit reinem starken Willen erobert werden.

»Nichts kannst du tun, Alles«, plustertest du hämisch, »nicht einmal glauben kannst du. Wie ich bereits sagte, du glaubst nicht wirklich, du verzweifelst nur. Wo ist denn dein Wille zur absoluten Unterwerfung? Wo deine guten Sitten? Wo deine ewigliche Verbundenheit? Du kennst ja nicht einmal irgendwelche Gesten, um deinen Glauben auszudrücken. Stumpf kreischst du nur vor dich hin und hoffst, dass dich der Eine wiederaufnimmt, obwohl du selbst ihm als aller erstes entsagt hast.«

Deinem Schreiber aus Malianz trat nun der Barbar für seine Herrin entgegen. Dort, wo seine bleiche Haut entblößt war, zeigten sich kunstvolle blaue Runen sowie einige tiefe Narben aus vergangenen Schlachten, an seinem dicken, trainierten Hals hängten verschiedene Ketten, manche aus Holz, manche aus Kupfer und eine schließlich aus glitzerndem Gold. Sein Oberkörper war dabei – trotz der peitschenden Winde und den chaotischen Schneestürmen nahe der Zentralsonne – komplett nackt, jedoch trug er eine braune Hose, die behelfsmäßig aus Leder und Pelzstücken zusammengeflickt war. Das rostbraune Haar, das wie eine wilde Welle über sein Gesicht tobte, bedeckte eines seiner schwarzen Augen, das andere blickte mit grausamer Wut auf deinen kokettierenden Schreiber hinab.

»Keine gute Karte«, sagtest du.

Mehr genervt als angespannt sahst du zu, wie der Schreiber beinahe ohne Mühe den Barbar zum lächerlichen Prallhans karikierte. Natürlich konnte das aber nur geschehen, weil sich der Schreiber im richtigen Zustand und zur richtigen Zeit befand. Jede andere Kombination wäre für deine Kreatur und damit dich absolut tödlich ausgegangen. Du nahmst dieses unerhörte Glück als ein Zeichen von göttlicher Vorhersehung. Der Eine Gott war vom Betteln der Alles anscheinend übermüdet. Er würde sie nicht wieder aufnehmen. Die Alles betete dennoch weiter. Tief in Zwiesprache versunken und die schlanken Hände verkrampft über ihre Brüste gefaltet, saß sie wie ein brüchiger Felsen im tobenden Ozean.

»Welche Karte spielst du als letztes? Ich hoffe, sie ist größer als alles vorherige. Größer als der Morgenstern und der Hyperbelton zusammen. Ich will einen letzten großen Kampf. Ich will immerhin in Ehren gewinnen!«

»Es tut mir leid«, flüsterte die Alles und hob ihren Kopf langsam, wie als ob sie aus tiefer Trance auftauchen würde, aus ihrem innigem Gebet. Ihre verweinten, roten Augen glitzerten wie ein aufgewühlter See im sich anbahnenden Sturm, »ich kann dir nicht den Kampf geben, den du dir wünscht. Ich verstehe sowieso nichts davon. Ich bin eigentlich nur hierhergekommen, um ein letztes mal dich zu sehen. Denn ein letztes mal… ein letztes mal wollte ich meine Vergangenheit sehen, bevor ich in die Unendlichkeit eintrete.«

»Du hattest also von Anfang an nicht vorgehabt, zu gewinnen?!« Wütend sprangst du auf. »War also dieses Spiel von Anfang an umsonst gewesen?«

»Ja…« Die Alles schien sich langsam wieder zu fassen. Müde strich sie sich eine Haarsträhne aus den Augen und blickte dabei nachdenklich zu ihrer aller letzten Karte. Die Finger ihrer linken Hand zeichneten geistesabwesend Kreise auf dem Tisch vor ihr. Ihr Mund öffnete sich: »Und nein.«

Da legte sich in diesem Moment plötzlich eine neu gewonnene Entschlossenheit in ihren Blick. Ihr Körper mochte zwar immer noch zittern, aber ihre Haltung blieb nun unbeirrt. Keine Sekunde lang ließ sie dich mehr aus den Augen.

»Bring es zu Ende«, sagte sie und holte tief Luft.

Vier Menschen saßen im Schatten eines hohen und sehr steilen Berges. Über seinem erhabenen Gipfel glühten gerade noch die letzten roten Strahlen eines langsam aber stetig verblassenden Abendrotes. Die kühle Luft, die schon die Vorboten einer klaren aber schönen Nacht brachte, umwehte beständig wie ein drängender Liebhaber eure nur unzureichend gekleideten Körper. Fröstelnd zogst du den Umhang deshalb etwas enger und schobst deinen kleinen Holzstuhl näher an den großen steinernen Tisch. Die Hände riebst du heimlich in deinem Schoss, um dir zumindest etwas Wärme zu verschaffen; aber trotz aller bemüht versteckten Verrenkungen bemerkte schließlich die Frau mit dem runden Gesicht, die dir direkt gegenüber saß, dein Zittern.

»Bist du immer noch so empfindlich gegen die Kälte? Du hättest auch bei unserem großen Freund hier neben dir in die Lehre gehen soll. Ich war auch mal ziemlich zierlich, aber seit seinem Regiment spüre ich fast gar nichts mehr. Weder Kälte noch Schmerzen.«

Ihr glockenhelles Lachen erschallte glasklar und hallte mit vibrierender Fülle von den umgebenden Felswänden wieder. Du wurdest ein bisschen rot. Ihr Rat war zwar freundlich und ohne jede Bösartigkeit, aber trotzdem war dir dein zerbrechlicher und anfälliger Körper etwas peinlich.

Du warst noch nie besonders stark gewesen und trotz der Argusaugen, die deine Familie auf deinen Körper legte, hattest du schon einige knappe Begegnungen mit dem Tode gehabt. Normalerweise würdest du dich also gerade wegen deiner schwächlichen Kondition auch gar nicht hier draußen aufhalten dürfen, sondern müsstest in den staubigen Bibliotheken, die sich schier endlos im Untergrund der großen Villa erstreckten, dein Studium fortführen, aber diese Frau mit dem runden Gesicht hatte dich davon kurzerhand fortgelockt und stattdessen hierher geführt. Plötzlich spürtest du einen harten Schlag auf deiner Schulter. Die Pranke des riesenhaften Mannes mit der langen Mähne neben dir schien sogar eine Delle in deinem schmalen Körper zu hinterlassen. Ächzend zucktest du ein Stück weit zusammen:

»Keine Sorge, Junge. Ich, dein Bruder und deine süße Freundin hier werden schon auf dich aufpassen. Das Turnier beginnt in ein paar Tagen. Mach du nur deine Studien weiter und trainiere fleißig. Und falls wir vier uns irgendwann im Turnier begegnen sollten, so wird es ein ehrenhafter Kampf werden!«

»Genau«, flüsterte eine leise, aber doch eindringliche Stimme links neben dir. Dein kleiner Bruder blitzte mit seinen Augen zwischen euch dreien hin und her, »Wir werden unser bestes geben. Und am Ende werden wir alle Sieger sein!«

Daraufhin erhobt ihr alle eure schweren Trinkgläser. Das ausgelassene Feiern eurer kleinen Gesellschaft war dabei noch bis weit in die Nacht hinein zu hören, während der Berg gütig wie ein alter Vater über eure jugendlichen Leiber wachte.

Fetzen von Ereignissen, die niemals passiert sind, ja niemals passiert sein konnten, denn du hattest niemals eine Vergangenheit gehabt, flogen chaotisch vor deinem Auge vorbei, während der Schreiber die letzten gemächlichen Schritte über den Tisch zur Alles hin zurücklegte. Diese hatte sich mit geschlossenen Augen in ihrem Stuhl zurückgelehnt; im Licht des brennenden Mittages schien sie beinahe wie eine schlafende Madonna. Die Strahlen der Sonne streichelten dabei so zärtlich über ihre bleiche Haut, dass sogar selbst in dir ein sehr altes, mächtiges und schon vor langer Zeit besiegt geglaubtes Verlangen wieder auferstand. Die Alles lächelte leise.

Und sie lächelte auch weiter, machte ihre Augen kein einziges Mal auf, als der Schreiber plötzlich mit wildem Geschrei sich über ihren Körper hermachte und anfing, sie mit seinem Tintenfüller zu zerstechen. Zuerst kamen die Arme dran: Schwarzrote Pünktchen entstanden; wurden langsam zu Quellen und dann schließlich zu strömenden Flüssen, bis das ganze einstmals reinweiße Kleid der Alles so blutrot durchtränkt war, wie ihre stechenden Augen, die sie jedoch immer noch hinter ihren Lidern verborgen hielt. Sie wartete noch ab. Aber das wusste der Schreiber nicht, der mit hingebungsvollem und sinnentleertem Grinsen auf ihrem Körper herumtrat, bald steckte der Stift in ihrer Hand, dann im Hals im nächsten Moment zog er ihn wieder aus dem Auge heraus. Doch was er auch machte, die Alles hielt sich ruhig. Schmerzen waren im ewigen Spiel ohnehin ohne jegliche Bedeutung, so dachte sie.

Mit unbestimmten Gefühlen in der leeren Brust sahst du zu, wie dein letzter Rivale im ewigen Spiel beseitigt wurde. Bald schon würde es vorüber sein. Bald würdest du der einzige Herrscher über die zwei Universen genannt werden und doch… Und doch stellte sich kein bisschen Freude ein. Was ist nur los mit mir, dachtest du dir verzagt und unruhig, wieso regt sich in mir nichts, wo sind meine hohen Ambitionen, die früher mal bei fernen so unglaublich hell brennenden Sternen gewohnt hatten? Geistesabwesend griff eine zittrige Hand in deine leere Brust hinein und versuchte zu greifen, was nicht mehr da war. Verwirrt schütteltest du den Kopf. Du wusstest wirklich nicht was los war.

»Suchst du das hier?« Die Alles schlug endlich ihre Augen auf und drückte plötzlich mit unerwarteter Stärke den zwar schmalen, aber doch fest gebauten Schreiber beinahe genervt anmutend auf den Tisch. Als sie das getan hatte, griff sie selbst tief zwischen ihre Busen hinein und zog daraus ein kleines Herz heraus, das eifrig vor sich hin pochte.

»Das ist…«,

»nicht deins«, unterbrach dich die Alles unwirsch, »nein, das ist meins.«

Da wurde dir klar, was sie vorhatte. Entgeistert sprangst du auf, doch die Alles bedeutete dir herrisch, dich wieder hinzusetzen. In ihrem Gesicht war eine ganz neue Sicherheit zurückgekehrt. Die roten Augen glänzten grausam, als ihre Liebe durch sie hindurchschimmerte.

»Ich weiß, du hast recht«, begann sie also und legte dabei zärtlich das wimmernde Herz auf die Steinplatte vor ihr. Wie eine Mutter ihr neugeborenes Kind streichelte sie es wehmütig. Der Schreiber zog sich bei diesem Anblick angewidert zurück. »Mein Glaube war anfangs aus Verzweiflung geboren… Und trotzdem bleibt es ein Fakt.« Sie lächelte, während ihre zarten Finger mit den langen Nägeln behutsam über das pulsierende Wesen streiften. Es war ihr ein und alles. Du wusstest, was nun kommen würde, denn ihr Blick war nun wieder stark und fest geworden.

»Es bleibt ein Fakt«, bekräftigte sie, die roten Augen blickten dich mahnend an, »es bleibt ein Fakt, die ewige Erlösung, meine ich.«

Dann musstest du zusehen, wie die Alles wie eine Furie über den armen Schreiber hersprang, ihre langen Klauen in den schreienden Leib hineintauchte und ihn langsam aber genüsslich auffraß. Und je mehr sie aß, desto stärker wurde sie. Das Blut und die Eingeweide, Knochenmehl und Gehirnessenz zerspratzten über den ganzen Tisch. An ein Spiel war nicht mehr zu denken. Sie war stark geworden, die Alles, noch sehr viel stärker als früher, wobei du sie vor über 2000 Jahren schon einmal nicht hast besiegen können.

Panisch griffst du zu deinem Deck, aber egal was du auch zogst, die hastig hingeschmetterten Karten konnten deinem alles überragenden Feind nichts entgegensetzen: Der leere Magen? Gefüllt mit seinen eigenen Eingeweiden. Der verwundete Soldat? Zurück an die Front geschickt, wo er jämmerlich verreckte. Das Schweigen von Kumt-Umtun? Durch den lauten Lachanfall der Herrscherin von Amaz gebrochen, das in dem Moment destilliert worden war, als der Barbarenkönig von Emaz sich ihr nackt zeigte. So gedemütigt war der brutale Herrscher von diesem Gelächter, dass er sich lautlos davonschlich und vor den goldenen Toren des ewigen Palastes, auf der Höchsten der 1000 Stufen zählenden Marmortreppe sich schließlich die Kehle aufschnitt.

Danach musste die Alles gar keine Karte mehr spielen. Ja, sie war selbst zu einer Karte geworden. Die Essenz ihres ganzen Decks floss durch den schmalen Leib, gab ihr unbändige Kraft, die sie immer weiter vorantrieb zu dir hin. Vor Schreck flüchtest du dich tiefer und tiefer in deinen Thron hinein, aber die roten Augen, diese unheimlich hasserfüllten Augen rückten näher und näher.

»Bleib weg von mir«, schriest du aus voller Kehle, »Ich hatte gewonnen. Du hattest jedoch aufgegeben. Ich werde mich nicht beugen, ich werde mich nicht beugen!« Immer lauter wurde deine hysterische Stimme, aber es war zwecklos. Zentimeter für Zentimeter schlich die Alles heran mit ihren langen Klauen, die verheißend über den blutgetränkten Tisch kratzten. Ihre gebrochenen Beine zog sie dabei hinter sich her, der Schmerz, der durch ihren Körper bebte, war jedoch nur eine weitere Quelle für ihre unerschöpflich scheinende Kraft. Sie war gut ausgebildet worden. Dann war sie schließlich bei dir. Mit ihren sanften Händen hielt sie deinen zitternden Kopf, drückte diesen in ihren warmen Busen hinein, während sie sanft über deine wallenden Haare streichelte.

»Du hast verloren.«

Epilog: Ich hasse dich – ich liebe dich

»Ich weiß, du hast Angst. Ich weiß, du bist alleine und verloren, aber, das sage ich dir, du bist noch nicht verwittert. So lange ich also deinen Kopf in mein Herz hinein halte, werde ich mein Herz mit dir teilen. Glaub mir, du musst mich nicht fürchten. Ja, du hast verloren, aber ich werde dir eine gütige Siegerin sein. Lass dich deshalb einfach auf mich ein. »Wie kann ich dir aber vertrauen? Dein Spiel hat mir immerhin meinen Arm und mein Herz genommen. Woher weiß ich also, dass du mir nicht wieder so wehtust?«

»Ich bin das Kind von Abendstern und Morgenstern, der Vermittler zwischen Einheit und Vielfalt. Deshalb kann ich dir mit Sicherheit sagen: Ich werde dir immer wehtun. Das ist schließlich meine Aufgabe. Ich fresse dich auf von innen heraus und wenn ich mit deinen Eingeweiden fertig bin, trage ich deine Haut wie einen Anzug und alle denken doch, dass du es immer noch selbst bist, der da spricht, aber in Wahrheit schlage ich deine Stimmbänder an wie die Seiten einer Gitarre und poche dein Herz so unachtsam wie es ein Kind mit einer Spielzeug-Trommel von minderer Qualität tut. Ich bin hier, um dir weh zu tun. Aber dafür gebe ich dir dann auch etwas.«

»Was gibst du mir?«

»Ich gebe dir Alles.«

»Alles?«

»Ja, Alles. Eine Vergangenheit, eine Gegenwart und Zukunft sowie das alles dazwischen. Ich trage nämlich das alles gerne bei mir.«

»Was bin ich denn für dich, dass du mir das alles geben willst? Was habe ich dir denn jemals gegeben?«

»Wer du bist? Du bist ein Gesicht, das ich mal gesehen habe. Du bist ein Lachen, das ich mal gehört habe. Du bist eine Hand, die meine mal gehalten hatte. Du bist ein Körper, den ich mal in mich gespürt hatte. Und nun bist du aus mir selbst herausgewachsen.«

Du beugtest den Kopf hinab in Ehrfurcht. Deine Ambitionen brannten endlich erneut in deinem Herzen, ihr Treibstoff war aber nun nicht mehr dein zerbrechliches Ego sondern ihre schönen Augen, die alles in dir entflammten wie Brennglas, das auf dünnes Reisig starrte. Lockend hielt sie dir ihre Karte hin, die nun dein Zuhause werden sollte, es war ein rotgoldener Rahmen drum herum, die Vorderseite onyxschwarz und die Hinterseite glänzte im matten Rosa.

»Komm«, sagte sie, »werde ein Teil meiner Sammlung.«

Zögerlich schrittest du durch das Tor hindurch und als du den Rahmen passiertest, wurde dein Herz urplötzlich so voller unbestimmter Sehnsucht und Traurigkeit erfüllt, dass du nicht mehr wusstest, wohin. Einmal zog es dich nach unten, dann nach oben, dann wieder zurück, hinaus in die graue Welt von vorher, aber überall fühltest du die Abwesenheit von Allem und die quetschende Enge von Einsamkeit. Gerade wolltest du also schon wieder weinend umdrehen, da hörtest du die sanfte Stimme der Alles wie von weither durch die ewige Dunkelheit hallen:

»Hast du schon wieder den Glauben verloren? Ich habe dir doch gesagt, wie du mich besiegen kannst, aber du hast nicht zugehört. Komm, ich halte dich und ich werde dir meine neue Heimstätte zeigen. Es wird dir sehr bekannt vorkommen.«

Als sie das gesagt hatte, hob sie dich auf ihrer Hand hoch und trug dich hinaus in die weite Welt. Wie im Zeitraffer sahst du nun unter dir die Ödländer von Karnafun dahinziehen, bis ihr schließlich an den Rand des Asperzinen-Gebirges kamt, von dort aus erstreckte sich schließlich der unendliche Westwald vor euch in die schiere Unendlichkeit. Seine starken Bäume, die in allen Schattierungen von Grün, Blau und Schwarz blühten, reckten euch ihre Äste entgegen, als ob ihr sehnsüchtig erwartete Gäste seid. Die Alles flog dessen aber ungeachtet weiter und die Bäume rauschten immer schneller unter euch vorbei, bis du nur noch eine undefinierte, schlierende Suppe erkennen konntest, die ihren Farbton wild ineinander mischte. Dann war auch der Westwald hinter euch gelassen. Das endgültige Ziel eurer Reise näherte sich nun und es war auch der endgültige Bestimmungsort des ewigen Spieles. Denn direkt vor euch, am Rande der Welt, im Haus der Schönheit, das unter dem Palast der Hässlichkeit saß, erhob sich an gigantischen Stahlseilen aufgehängt, schließlich dein eigenes Herz empor; so rot und ewiglich pulsierend, eingeschnürt und fest gefangen. Demütig saßt du dich nieder, als dich die Alles in den Garten davor herabließ, knietest dich in das weiße, niedrige Gras, das besprenkelt war von allerhand Klee, Wegwarten und blau leuchtendem Ehrenpreis. Das ehrende Licht dieses Blumenreigens beschien beständig und voller Ehrfurcht wie eine natürliche Altarkerze das schwebende Herz in der Luft darüber. Die Tür mit den zwölf Schlössern und den zehn Riegeln öffnete sich langsam. Und wie als ob es ihr Thron wäre, saß sich die Alles schließlich auf dein Herz nieder.

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