Der Anruf kam 3 Uhr Morgens. Der Nervschalter in der Hirnrinde schrillte und ich erwachte aus einem vagen, diffusen Traum. Fetzen und Schemen und die imaginierte Wärme von weißen Schenkeln verflüchtigten sich wie der Rauch einer Zigarette in der kalten Winternacht. Stattdessen: Verwirrung, Schmerz und Chaos – zuerst war mir gar nicht bewusst, was mir geschah, was aber noch im Rahmen des Standardprotokolls lag. Agenten im REM brauchten etwa zwei Minuten, bis die Nervschaltung den Körper auf Höchstleistung brachte – zwei Minuten Fegefeuerpause, sozusagen – bevor man ins Inferno geworfen wurde.
Mein Kopf dröhnte, als hätten zwei Hämmer ihn von zwei Seiten gleichzeitig bearbeitet und der Schweiß brach mir aus allen Poren, während das Schrillen der Nervschaltung beständig über meine Gehirnrinde kratzte wie Fingernagel auf einer Schultafel. Doch schließlich drang eine Stimme durch all die Verwirrung und den abrupten Schmerz:
»Caballero, du bist wach.«
»Ja.«
»Deine Werte sind im Arsch.«
»Du hast mich nicht aus dem Hypnos geholt, um mir vom Rauchen abzuraten.«
»Ich sag´s nur: der neue Job – der wird haarig werden, Caballero. Der Chef sagte, ich könnte auch Halger anklingen.«
»Halger?«, ich lachte. Meine Kehle war so trocken wie Schleifpapier. Ich hustete. »So fertig bin ich noch nicht. Schieß los.«
»Gut. Zieh dich dick an. Du wirst die großen Dinger brauchen. Es geht um nen K/464.«
Urplötzlich war jeder Schmerz verschwunden. Meine Sinne waren nun so scharf gespannt, als hätte ich ne Panzerschokolade mit drei Tassen Kaffee und einem Schuss NarcCola runtergespült. Ich richtete mich Kerzengerade im Bett auf und meine Finger quetschten leicht das linke Ohrläppchen. Leiser als zuvor aber eindringlicher sprach nun die Stimme direkt in meinem Kopf:
»Gut, du hörst nun richtig zu: Die Meldung kam vor ner Stunde. Ist noch richtig frisch. Die zwei Bürotürme in Old-Light-Town, 3. Ecke, kennst du die?«
»Das ist in den Hopes. Bin schon unterwegs«, brummte ich. »Sag mir den Rest unterwegs. Keine Zeit zu verlieren.«
Ich brauchte keine Lampe, um mich im Zwielicht des Zimmers zurechtzufinden – das grelle Licht hätte meinen angeschalteten Augen nur geschadet. Ich schlüpfte in meine Kramer-Unterhosen und den grauen Socken vom letzten Tag, holte meine bequeme Cargo-Jeans aus dem Schmutzsack und warf mir schließlich Hemd, Panzer und Kragenjacke über. Nicht falsch verstehen: Normalerweise hasste ich es, ohne kalte Dusche zur Jagd aufzubrechen, aber bei einem K/464? Da verlor ich keinen einzigen Gedanken an Scheiß Sauberwäsche – was in Griffweite war, war in Griffweite. Ich zog mich an und bewaffnete mich. Die Tür schloss ich mit dem Lichtpunkt ab und marschierte daraufhin hastig die Treppen des heruntergekommenen Apartmentgebäudes hinunter. In dieser frühen Stunde war glücklicherweise noch kaum jemand unterwegs, so musste ich niemand mit meinen Augen schrecken. Ich tastete noch einmal an die Hammerkrag 577, der 5-Schuss Revolver mit dem langen Lauf war selbst zu Zeiten des Akquierirungs-Konzils schon veraltet gewesen, aber die erste Liebe war bei mir die einzige geblieben.
»Sehe ich das richtig? Du nimmst nur nen Fünfer Hammer für nen K/464?«
»Auch ein K/464 blutet mit ner .577«
»Wird ne lange Nacht. Bei sowas hätte ich lieber nen längeres Magazin, sag´s nur Caballero.«
»Fürn K/464 braucht man dickere Durchschlagskraft. Ne 7mm wie die Neo-Recusants kitzeln die nur. Scheiße, bei diesen Nerfs lachen wahrscheinlich selbst die Hemd-losen Rejects, geschweige denn wirkliches Jagdwild. Gibst du mir jetzt vernünftige Infos?«
»Ich weiß, Dornrösschen is grad aus ihrem feuchten Traum erwacht, aber kein Grund so zickig zu deinem alten Kumpel zu werden, Caballero.« Die andere Seite lache trocken. »Aber gut: Ich sag dir, wie´s ist: Um ca 0150 meldeten zwei Von-Neumann-Meldestellen an der Ecke Kensington ne Realitätsverschiebung um 1 Milliardstes Grad in Richtung Qliphoth.«
»Das ist kein K/464.«
»Sagten wir auch… die OpSecs die gerade auf Schicht waren, ham da eher auf einen mittelprächtigen Kalibrierungsfehler getippt und ein paar von den Technikern rübergeschickt – zur routine Wartung. Und da ja Weihnachten is, kannst dir denken, wie lang das gedauert hat, bis man da die Kabeldreher ausm Winterschlaf geklingelt hat…«
»Haben die keinen Bereitschaftsdienst?«
»Doch, aber keine so praktische Nervschaltung wie bei dir. Wenn die aufwachen, brauchen die erst einmal Kaffee und zwei Tabletten Metaamphythamine. Ist halt nicht jeder mit einem Switch Head der nächsten Generation gesegnet.« Ich ballte die Faust. Ich konnte das dreckige Grinsen der Stimme in meinem Kopf geradezu vor mir sehen. »Und du weißt ja, wie die Technik-Fuzzies sind, die schießen selbst auf ihren Toaster, wenn der hüpft. Keine Chance, da irgendwas mit dem Gehirn zu machen, da macht deren Gewerkschaft nich mit. Wie auch immer, der Kontakt mit unseren Kabeldrehern brach Punkt 0253 ab. Zu dieser Zeit maß die Zentrale noch einmal eine Realitätsverschiebung… Dieses mal um 5,08 Milliardstes Grad in Richtung Qulipoth…«
»Scheiße…«
»Das hat dein guter Freund hier auch gesagt… und sofort dich angerufen.«
»Scheiße…«, wiederholte ich. »Decker, wo bist du gerade?«
»Bin gleich am Einsatzort in den Hopes. Im Gegensatz zu dir war ich noch nicht in Aphrodites schöne Umarmung gefallen. Ich hab mich noch vor dir auf den Sprung gemacht.«
Mein roter Ford X160 wartete in der Garage – wie immer war ich zuerst überrascht eine dicke Staubschicht auf der Karosserie meines alten Arbeitskollegen zu sehen, aber schließlich gewöhnte ich mich an den Fakt, dass ich länger schlief als die meisten. Dafür wurde ich aber auch schneller wach. Mein Herz pumpte, die Atmung beschleunigte und die Augen nahmen jegliche Farben so strahlend hell und klar und genau war, als ob sie direkt auf die Linse gedruckt worden wären. In jenen Momenten hätte ich nur zu gerne ein Ross, mit dem ich in die Nacht hinausreiten könnte oder zumindest weiche, warme Schenkel unter mir, aber mein treuer Vierräder war das nächste beste. Der Motor röhrte auf, das Zittern unter meinem Hintern gab mir das Gefühl, mein Wagen wäre genauso erpicht darauf wie ich, endlich wieder zu arbeiten. »Na gut, alter Freund. Lass uns ein Paar Freaks umlegen!« Ich gab Gas.
Der rote Ford peitschte durch die Straßen. Um Punkt 0307 war noch kaum jemand auf den Beinen, so konnte ich die Geschwindigkeit des modifizierten und nicht ganz legalen 6 Zylinders voll ausnutzen. Matschgraue Schneehaufen, blinde Fenster und das Flackern greller Neonlichter rauschten an mir vorbei. Die Reifen quietschten, als ich die Abfahrt zum Intracity-Highway viel zu scharf nahm. Ich drehte den Futuro Jazz im Radio voll auf. Ich muss zugeben, in diesem Moment fühlte ich mich prächtig: ich war wach. Ich war lebendig. Und ich war auf der Jagd. Über der Straße tauchte eine blinkende Neoninschrift auf: ‚Thank you for visitee: New Extraordinaire Hopes!‘ Das ‚S‘ in Hopes war kaputt. Ein schales Lächeln stahl sich auf meine Lippen: Seitdem die Franzosen in der Schlacht um Hudson Bay gewonnen hatten, entdeckten erstaunlich viele Politiker und Stadtplaner ihr Faible für das Französische. Aber selbst der Gestank des feinsten französischen Kaviars konnte nicht das Miasma einer enttäuschten Hoffnung überdecken, die nun an meinen Seitenfenstern vorüberzog.
Kurz gesagt: Die Hopes und insbesondere das Old-Light-Viertel waren ein Drecksloch. Es gab keine Läden, keine schnieken Restaurants, keine Firmen, die Parks waren überwuchert und die Straßen nicht in Schuss. Nichts – absolut gar nichts – schien hier warm und lebenswert. Stattdessen zeigten sich an jeder Ecke die Stigmata von Gewalt und Apathie: Hier ein eingeschlagenes Fenster, dort eine niedergebrannte Ruine und die Straßen waren gesäumt mit ausgeschlachteten Autowracks. Der Müll lag teilweise bergehoch auf den Gehwegen. Alles sprach hier die schrille und zugleich dumpf blechernde Sprache der Verwahrlosung. Von den einstmaligen Investitionen war nichts übrig geblieben. Wenn auch sicherlich durch diese ganze Episode einige wenige Anzüge sehr viel reicher geworden sind. Ich drückte meinen Fuß noch fester aufs Gaspedal. Hier war der perfekte Jagdgrund – mein Revier. Die schrille Stimme in der Nervschaltung riss mich jedoch urplötzlich aus meinen Gedanken und die obsessiven Fantasien von Blut, weißer Haut und weichen Schenkeln verschwanden für einen Moment:
»Caballero, was tust du da? Scheiße, deine Werte würden eine läufige Hündin die Schamesröte ins Gesicht treiben.«
»Ich jage.« Im Rückspiegel reflektierte das bleiche Grinsen eines Totenschädels.
Wo Magie, Glaube und Technologie aufeinandertreffen, entspinnt sich ein Mysterium, das in die tiefsten Schichten der menschlichen Existenz wurzelt. Lasse dich vom neuen Science-Fantasy-Werk aus Deutschland in eine Welt entführen, die es so noch nicht gegeben hat!
In der fernen Posthistorie: Das Grenzkönigreich von Haifun steht vor dem Abgrund. Die grausamen Voydwolfas an der Grenze, die Bedrohung durch mächtige Imperien und eine Mordverschwörung gegen seine geliebte Tochter Tschiiko selbst verleiten den König dazu, die verbannte Kriegeradelige Amalia von Tiefenfall – Führerin des berüchtigten Schwarzen Regens – aus ihrem Exil zurückzuholen.
In ihrem Gefolge befindet sich der Waisenjunge Vincento, ebenfalls ein Verbannter, der zum Sterben und ohne Erinnerungen auf der unwirtlichen und gefährlichen Exilwelt Drathin zurückgelassen wurde. Zusammen müssen die beiden nun herausfinden, wer den König und seine Familie beseitigen will. Die Zeit drängt, denn die vielen Feinde des Reiches haben ihre Netze bereits gelegt und warten nur auf den richtigen Zeitpunkt um zuzuschlagen.
Doch schnell bemerkt der junge Krieger unter all dem Wahnsinn, der sich zwischen den Ästen und Wurzeln des Weltenbaumes von Haifun abspielt, dass die enigmatische Schwarzflügel Amalia ihr ganz eigenes Spiel spielt. Kann er sich ihrem Bann entziehen? Und sind politische Gegner und Barbaren tatsächlich die einzigen Feinde? Oder gibt es auch noch andere mysteriöse Mächte – jenseits aller menschlichen Vorstellung – die danach trachten, ihren unheilvollen Einfluss zu mehren?
In einem fremdartigen Universum voller neuer und uralter Technologie – wo Vergangenheit, Gegenwart und das Zukünftige ineinanderzufließen scheinen – müssen sich unsere Helden gefährlichen Intrigen, mächtigen Gegnern, grausamen Wesenheiten aus der Dunkelheit sowie der eigenen Vergangenheit stellen.
Kennzahlen und Daten:
Manuskriptseiten: ca. 800
Wordcount: ca. 340.000
Zielgruppe: Männlich, zwischen 15-25 Jahren
Genre: Science-Fiction, Fantasy, Mori-Punk
Geplante Bände: 3
Erscheinungsdatum: Ca. Frühjahr 2026
Was erwartet dich?
Tauche ein in eine fremde Welt voller schräger Gestalten, Intrigen und gefährlicher Liebe, bizarrer Monster und heldenhaften Rittern!
Lass dich von der dichten Atmosphäre eines Universums in den Bann ziehen, das zwischen Realität und Surrealität wohnt!
Kämpfe dich bis zu den erschreckenden Tiefen eines mysteriösen Komplotts vor!
Wichtige Figuren:
Amalia von Tiefenfall: Die enigmatische Führerin des Schwarzen Regens. Als Schwarzflügel ist sie die letzte ihrer Art und scheint doch für die Sache der Menschen zu kämpfen. Zumindest legt ihre Konvertierung zur Una Sancta dies nahe.
Prinzessin Tschiiko von Haifun: Die Prinzessin und einzige Tochter des derzeitigen haifunischen Königs. Wegen ihres ausgeprägten Demuts, ihrer Bescheidenheit und ihrer großen Fürsorge für die Armen und Kranken ist sie äußerst beliebt bei dem Volk und gilt zudem aufgrund ihrer geflügelten Mutation als Kind Gottes. Wer könnte nur ihren Tod wollen?
Vynz/Vincento: Ein Halbstarker, der sich auf der Exilwelt Drathin dem Schwarzen Regen anschloss. Mutig und entschlossen neigt er jedoch auch zuweilen zu Arroganz, Überheblichkeit sowie Brutalität. Welche Seite seiner Seele letztlich gewinnt, kann nur einer entscheiden.
Der König Vittorio I von Haifun: Der erste König von Haifun seit der zweiten Vereinigung der haifunischen Stämme wird von seinem Volk als erneuter Reichseiniger und Kriegsheld fanatisch verehrt. Er gilt als streng, aber gerecht. Doch sein Zorn auf Heilig Yorschka zerstörte viele – nicht zuletzt ihn selbst.
Katharina von Feuerbach / Die Pneumatrix: Rätselhaft, intrigant, grausam und über alle Maßen schön: alle diese Adjektive beschreiben die Staatshexe Haifuns genau und lassen dennoch nur die Oberfläche eines weitaus tiefer gehenden Mysteriums erahnen. Welche Pläne verfolgt sie? Was verbindet sie mit der schwarzgeflügelten Amalia von Tiefenfall? Und war sie es tatsächlich gewesen, die die Menschen von Hai Lung brennen ließ?
Der Vollstrecker: Unter den grausamen Rittern des Roten Schnees gilt er als der Unbarmherzigste. Dem Wahnsinn verfallen scheint sein Vorgehen dennoch einer eigenen düsteren Logik zu folgen. Nicht viel ist über ihn bekannt, aber das verdorbene Blut treibt ihn wohl allein zur Zerstörung und Schändung einer ganzen Nation.
Mr. Suneyes: Ein äußerst zwielichtiger Unterhändler für das Zentralkomitee für Fortschritt und Entwicklung. Seine Motive sind gänzlich unbekannt und nur er selbst scheint zu wissen, was in den Netzen, die er webt, gefangen werden soll.
Es war immer noch bitterkalt am morgen, auch wenn der Winter seinen Zenit bereits überschritten hatte. Ich stand also leicht frierend vor dem Cyaltco-Stadtkrankenhaus und rauchte mit roten Fingern die zweitletzte Zigarette aus der Schachtel. Ich blickte auf die Uhr. Ich fragte mich, ob sie mich noch erkennen würde. Ich fragte mich, ob ich sie erkennen würde. Feuchter Atem gefror vor meiner Nase.
Hatte ich die tatsächliche sie jemals gesehen oder war alles nur Gaukelspiel und Trug gewesen? Es ist peinlich zuzugeben, aber ich gestehe, ich fühlte mich in diesem Moment wie ein Teenager vor dem ersten Date, obwohl dieser Gedanke natürlich abwegig war. Ich wollte sie nur noch einmal sehen, sichergehen, dass sie sich erholt hatte und keine Narben davontragen würde. Das sagte ich mir zumindest. Und so wartete ich an der Tür meines roten Fords lehnend, während meine Augen – dieses Mal hatte ich meine Kontaktlinsen nicht vergessen – ungeduldig den Eingang zum Krankenhaus observierten. Die roten Buchstaben über den gläsernen Schiebetüren flackerten unstetig. Und schließlich, als ich schon glaubte, sie würde gar nicht mehr kommen, schritt sie durch eben jene Tür.
Sie stand da – sie war etwas zittrig und steif – aber ich erkannte ihre zierliche Gestalt sofort. Diese schwarz gefärbten und halbkurz geschnittenen Haare Jerikas, diese grünen Augen Lucys, ich würde sie nie vergessen. Und zu meiner gänzlichen Überraschung winkte sie mir zu. Ich blickte mich zuerst um und nahm an, dass sie einen anderen meinte, aber ich war alleine auf diesen Stufen – mit ihr. Ich winkte zurück und schritt zu ihr rüber. Sie zitterte wirklich. Denn es war kalt und sie trug nur ihre Arbeits-Uniform, ohne die Jacke, die wir uns gegenseitig gegeben hatten. Ihre Augen aber leuchteten auf, als sie mich sahen und ihr roter spröder Mund verzierte ein schüchternes Lächeln. Sie erkannte mich. Mein Herz schlug bis zum Hals. Sie erkannte mich wirklich.
»Ich… hatte irgendwie gewusst, dass Sie auf mich warten würden.«
»Vor zwei Tagen kam die Nachricht… dass Sie aufgewacht sind, meine ich. Die Ärzte hatten nur meinen Kontakt und ich wollte sichergehen, dass es ihnen bei der Entlassung auch wirklich gut geht. Falls Sie wollen, bring ich Sie nach Hause. Oder wohin auch immer. Sie müssen es nur sagen.«
»Das ist wirklich lieb von Ihnen… Danke… Caballero.«
Ihre Beine knickten urplötzlich ein und sie fiel in meine Arme.
»Tut… tut mir leid…«, stammelte sie sichtlich errötend. »Ich bin noch… ganz schwach und ich glaube nicht…«
»Beruhigen Sie sich, Miss Keller. Der Mutant war tief in Ihnen vergraben. Sie werden heilen, aber das braucht seine Zeit.«
Als sie in meinen Armen lag und ich das rote Schimmern durch ihre schwarz gefärbten Haare sah, da wusste ich, dass ich Lucy in den Armen hielt. Sie war die Alte und doch war sie vollkommen neu und überraschend. Ich hatte sie gekannt, aber natürlich war der Schleier des Mutanten über ihr gelegen und so hatte ich sie nur wie durch Milchglas gesehen. Sie blickte zu mir auf. Ihre grünen Augen starrten forsch.
»Darf ich Sie etwas persönliches fragen?«
Ich stellte sie behutsam wieder auf ihre Beine und schüttelte den Kopf.
»Wenn Sie keine Antwort erwarten.«
»Sind Sie ein Engel?«
Ihre spitze Nase färbte sich bereits rot unter der klirrenden Kälte, fasziniert betrachtete ich ihr Gesicht, alle ihre Merkmale: die verstreuten Sommersprossen, die hohen Wangenknochen, der zur Schnute geformte Mund sowie das kleine Grübchen an ihrem Kinn.
»Ich schulde Ihnen viel«, fuhr sie fort und nickte und überging gnädigerweise mein unhöfliches Starren. »… Ich schulde euch viel. Was ist mit Ihrem Kollegen… Herrn Decker? Ich hoffe…«
Ich schüttelte den Kopf.
»Das… tut mir leid… Ich werde seine Aschestelle besuchen, wenn ich… wieder richtig gehen kann.«
»Das müssen Sie nicht tun, Mrs. Keller. Decker – Mein Kollege, er hatt letztlich nur seine Arbeit getan.«
»Das tut aber nicht jeder.« Lucy lächelte traurig. Und wieder einmal überraschte mich ihre Stärke. Ich hatte von anderen Überlebenden des Mutanten-Gen gehört, sie waren allesamt im Irrenhaus oder für immer seelisch vernarbt. Der Umbau des Körpers, die Penetration der Seele, die schmutzige Hand eines anderen Willens direkt am Herzen – kaum ein Mann war stark genug eine solch traumatische Erfahrung zu verarbeiten und doch stand hier Lucy vor mir, zittrig und angeknickt, aber nicht gebrochen. Ein Löwenzahn der Beton zerbrach.
»Erholen Sie sich einfach gut. Das würde auch mein Kollege wollen. Es ist unsere Aufgabe sie zu beschützen, immerhin.«
»Ehrlich gesagt, ich weiß nicht einmal wovon ich mich erholen sollte. Was habe ich eigentlich überlebt? Ich… erinnere mich. Aber es erscheint keinen Sinn zu geben. Die Bilder sind verwaschen und ohne Farbe. Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, dann fühle ich nur so eine tiefe Leere in meinem Herzen… Ach, Mr. Caballero, es tut mir leid, ich rede Unsinn. Sicherlich. Und doch sehne ich mich nach Antworten. Was habe ich gesehen und gehört? Was hat mir das angetan? Ich…«
Sie verbarg ihre Wut gut. Aber ich hörte das Trommeln ihres Herzens unter der weißen Haut.
»Sie haben den Tod überlebt. Machen wir es nicht unnötig kompliziert, Miss Keller. Freuen Sie sich darüber und gehen Sie weiter. Ohne Angst.«
»Mehr haben Sie dazu nicht zu sagen, Mr. Caballero?«
»Ich unterliege einem Schweigegelübde. Doch selbst wenn ich Ihnen etwas sagen könnte, würde es Ihnen nur schaden. Es ist gut für Sie, dass Sie wenig wissen. Curiositas strangulierte schon so manche Katze.«
Ich sah den plötzlichen Anflug von Sorge in ihrem Gesicht.
»Keine Sorge, Miss Keller, Sie haben nichts zu befürchten. Was meinen Arbeitgeber angeht, sind Sie kein kritischer Faktor.«
Die Flügel ihrer spitzen Nase blähten sich auf. Ihre grünen Augen blitzten unnachgiebig und da erinnerte ich mich, an das was Decker mir empfohlen hatte. Ich seufzte. Und sie sagte:
»Ich bin kein Tratschweib, Mr. Caballero. Ich will nur den Grund meiner Albträume erfahren. Habe ich denn dazu kein Recht?« Ihr Ton machte deutlich, dass sie keinen Widerspruch dulden würde.
Ich bot ihr eine Zigarette an. Sie nahm dankbar an.
»Es sind Feinde der Realität.«
Lucy trat einen Schritt zurück. Sie blickte verwirrt zu mir empor.
»Das verstehe ich nicht.« Ein verlegenes Lächeln zeigte sich nun auf ihrem Gesicht und sie strich sich eine ihrer Strähnen aus dem Antlitz. Darunter kam verschmiertes schwarzes Makeup unter den Augen zum Vorschein. Es war das gleiche wie an jenem Morgen. »Ich meine, ich verstehe, warum Menschen oft kämpfen und sich gegenseitig verletzen. Sie hungern oder hungern nicht und wollen einfach mehr. Oder Sie wollen irgendetwas beschützen, was ihnen gefällt oder zerstören, was ihnen missfällt. Das verstehe ich. Ich habe es selbst gesehen – in Midwest. Aber was hat die Realität diesen… Monstern getan?«
»Es ist eine Interpretationsfrage, Miss Keller. Mauern können als das Fundament eines wohnlichen Hauses gesehen werden. Hinter ihnen haben wir es warm, wir sind beschützt und sicher vor wilden Tieren und den Elementen. Es gibt aber nun wiederum… Andere, die diese Mauern als Gefängnis betrachten. Es gibt viele Namen für sie, aber wir kennen sie als Mutanten – diejenigen, die diese Mauern niederreißen und das Gebäude über unseren Köpfen zum Einsturz bringen wollen.«
»Und sie haben sich entschlossen, dieses Haus also zu beschützen. Haben Sie denn keine Furcht, ein Gefangener zu sein? Vielleicht haben diese… Mutanten ja recht?«
Mein Blick sagte wohl mehr als tausend Worte. Sie stotterte nervös.
»Ich meine… ich will das Opfer, dass ihr… Sie und Ihr Kollege geleistet haben nicht schlechtreden. Aber ich… ich erinnere mich. Ich war so überzeugt und es schien mir alles gut und vernünftig damals… als ich…«
»Nein«, erwiderte ich harsch und schüttelte den Kopf. »Wenn das Freiheit ist, was die Mutanten suchen, dann ist es die Freiheit, die ein Astronaut fühlt, wenn er seinen Helm im Vakuum abnimmt. Freiheit ist zu leben. Der Tod ist ein Gefängnis. Er ist kalt und einsam und leer und sinnlos. Ich fürchte ihn, das muss ich gestehen, Miss Keller. Ich vertraue deshalb darauf, dass der ursprüngliche Erbauer dieses Hauses mir genau die Freiheit gibt, die ich brauche. Sie dürfen mich dafür gerne kindisch oder auch feige nennen. Ich bin es gewohnt.«
Lucy lächelte bitter und es wahr das reinste, was ich jemals in meinem Leben gesehen hatte. »Mr. Caballero, sicherlich sind sie wie alle Männer furchtbar kindisch, aber feige wie die meisten darf Sie niemand nennen. Ganz bestimmt nicht ich… zumindest. Immerhin stehen Sie hier vor mir.«
Urplötzlich wurde ich von einem kindischen Drang zur Wahrheit übermannt. Ich sagte:
»Ich heiße nicht Caballero.«
Lucy nahm einen Zug an der Synth. Der würzige Rauch brandete gegen mein Gesicht und wärmte die gefrorene Oberfläche, brachte kleine Eiskristalle auf der künstlichen Haut zum schmelzen.
»Wir geben uns selbst keine Namen. Sie werden uns aufgezwungen. Ich nenne Sie Caballero. Also heißen Sie so. Tut mir leid.« Sie zuckte mit den Schultern.
»Dann darf ich Sie Lucy nennen.«
Erneut lächelte sie und dieses Mal war keine Bitterkeit darin.
»Soll ich Sie nun nach Hause bringen?«, fragte ich, denn ich wusste nicht, was sonst noch zu sagen war.
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich darf nicht nach Hause. Noch nicht.«
»Warum nicht?«
»Ich kann es nicht ertragen«, sagte sie und der spitze Absatz ihrer Heels würgte das Leben aus dem glimmenden Zigarettenstumpf. »Vielleicht werde ich es nie ertragen. Wahrscheinlich nie. Ich… Sie… ich bin ein Monster gewesen. Ich habe Menschen verletzt und getötet und ich… manchmal schmecke ich das Blut immer noch auf meiner Zunge. Es ist so süß und…« Ihre Augen trübten sich mit stummen Tränen und eine tiefe Wehmut lag nun in ihrem Blick. »Ich bin ein Mörder, Caballero, ich kann nicht nach Hause. Ich sollte in Sing Sing sein, wie diejenigen, die sie Rejects nennen. Ich glaube… Nein, ich muss mich den Behörden stellen.«
Ich legte meine Hand auf ihre Schulter, doch das brachte sie nur mehr zum Zittern. Aber ich zwang ihre Augen in die meinen zu schauen und ich redete eindringlich zu ihr:
»Reden Sie keinen Unsinn. Diese Taten… Das waren nicht Sie. Sie sind nicht böse, Lucy.«
»Aber ich habe das Böse in mich gelassen. Ich erinnere mich an diesen… Stern. Ich… Es war alles so dunkel, nach… dieser Sache in Midwest. Ich war auf der Flucht. Das haben Sie richtig erkannt. Und das zurecht. Es war passiert und ich war allein und auf einmal war da Licht und es war warm und ich habe nicht weggesehen. Ich habe es stattdessen in mich gelassen.« Lucy schüttelte den Kopf und legte ihre Arme um ihre Schultern. »Ja, das ist die Wahrheit, Caballero«, sagte sie und blickte zu Boden. »Ich bin kein guter Mensch. Ich weiß nicht, wofür Sie mich halten, aber ich bin es nicht. Nein, ich bin etwas ganz anderes. Ich war schon böse, lange bevor.« Ich schob ihr Kinn nach oben und ich sah die Tränen in den Augen glitzern.
»Wir alle sind gleich, Lucy. Niemand ist immun, gegen das, was sie besessen hat. Nicht Sie, nicht ihre Kollegen und auch nicht ich. Doch es gibt einen Unterschied zwischen denjenigen, die Kämpfen und denjenigen, die aufgeben. Und Sie gehören sicherlich nicht zu der Sorte, die sich schämen muss.«
Lucy schien nicht zu verstehen. »Sie müssen wissen, das Mutanten-Gen nistet sich normalerweise tief im Menschen ein. Es wandert durch die Kehle und die Speiseröhre in den Magen. Von dort geht es in den Darm und hakt sich fest und legt Eier und gebiert unzählige Tumore. Aber ihr Wurm war noch im oberen Rachen.«
Sie sagte immer noch nichts.
»Das heißt, Sie haben diesen Wurm immer wieder hochgewürgt. Nur deshalb konnte ich ihn herausziehen.«
Lucy setzte sich auf die Treppenstufen und bedeutete mir mit ihren Händen dies ebenfalls zu tun. Als ich mich zögerlich aber gehorsam gesetzt hatte, legte sie ihren Kopf an meine Schulter. Ich spürte das kratzen ihrer Haare und die Wärme ihrer Wange. Ihr ruhiger Atem schuf weiße Wolken in der kalten Luft. Für eine Weile schwiegen wir und sahen zu, wie die ersten Anzeichen der Morgenröte sich durch die östlichen Hochhausschluchten allmählich zaghaft vortasteten. Schließlich seufzte sie. Und ich muss gestehen: ich erschrak als sie plötzlich meinen Kopf nahm, ihn drehte und so trafen sich unsere Augen näher als jemals zuvor.
»Wenden Sie ihre Augen nicht ab, Caballero. Sie haben hübsche Augen. Es ist eine Sünde, der Welt Schönes vorzubehalten.«
Ich entfernte meine Kontaktlinsen.
»Das sind nicht meine Augen.«
»Habe ich meine Augen etwa selbst gemacht?«, fragte sie und ich schüttelte den Kopf.
» – Hach, ist es nicht schade«, sagte sie und entließ mich endlich aus den Fesseln ihrer vollen Lippen.
»Was?«, fragte ich und war tief verwirrt.
»Alles. Einfach alles.«
»Man kann nicht alles schade betrachten. Um manches ist es wirklich nicht zu schade«, sagte ich. Sie grunzte erstaunlich unfeminin. Sie stand auf. Ich tat es ihr gleich und sie lehnte sich erneut an meine Schulter.
»Wissen Sie was, ich habe jetzt einen Mordshunger, Caballero.«
»Ich glaube, ich habe ihn gehört.«
Sie grunzte erneut – relativ flegelhaft und ganz und gar nicht Damen-gleich.
»Ach, Caballero«, sagte sie und klang nun teils amüsiert teils verbittert und teils wütend. Ich verstand sie nicht. »Sie sind tatsächlich furchtbar kindisch.«
»Das tut mir leid, ich kann wirklich nicht mehr sein, als ich bin.«
»Wenn das so ist: Dann will ich wissen, wer Sie sind. Wollen Sie denn nicht wissen, wer ich bin?«
Ich drehte meinen Kopf zu ihr und zwang ihren Kopf rüde aus der bequemen Lage meiner Schulter. Ihre grünen Augen glitzerten wie Kristalle und zeigten tausend verschiedene Farben.
»Ist das denn überhaupt möglich?«
Sie kicherte nun offen und hielt ihre schlanken Finger vor den weiß blitzenden Zähnen.
»Wie gesagt: ich habe jetzt Hunger. Wollen wir einen Happen zum Beißen greifen? Ich könnte jetzt ein ganzes Pferd aufessen!« Sie seufzte übertrieben auf und in diesem Ton sowie in der Note ihres Parfums lag nun ein leichter Duft von Rosen.
Ich bot ihr meinen Arm an. Erstaunlich elegant – wie eine Lady, wie meine Lady – hakte sie sich unter.
»Es wäre mir ein Vergnügen, Madam«, sagte ich.
Und zusammen aneinandergelehnt hinkten wir zum roten Ford – zwei versehrte Veteranen.
»Oh, Mr. Schick, da ist ein Kratzer an Ihrem Wagen«, sagte sie.
»Ich werd´s reparieren«, erwiderte ich.
Wir stiegen ein und der knatternde rote Blitz trug uns über die Straßen und unter der Wärme einer aufgehenden Sonne schmolzen langsam Schnee und Eis. Wir verließen das Viertel über den Intra-City-Highway und am Ausgang blinkten immer noch die alten Neonbuchstaben.
Ich war sinkendes Schiff und ertrinkender Passagier. Der Sturm – schwarze Wolken und grelle Blitze… ich kenterte. Ich fiel ins Meer und erwachte. Blendendes Licht stach in meine Augen. Drei besorgte Augenpaare blickten auf mich herab und erst nach einer Weile der Verwirrung kam ich zu dem Schluss, dass ich wohl zum zweiten Mal ohnmächtig geworden sein musste – wie peinlich.
»Du lebst noch.« Deckers stinkender Atem weckte mich in der Tat auf.
»Was ist passiert?«
»Du bist umgekippt – offensichtlich. Das Gift in deinen Adern… Schläuchen ist wohl stärker als gedacht. Oder deine Hardware ist ruiniert und funktioniert nicht mehr im Overclock. Ich hab ihn zur Sicherheit ausgeschaltet. Heißt aber auch: mehr Schmerzen für dich.«
»Ich liebe Schmerzen.« Ächzend richtete ich mich an der Wand auf. Mein Kopf war schwindelig und alles drehte sich, aber ich schien tatsächlich noch zu leben. Ich sah Lucys besorgtes Gesicht, ich sah den misstrauisch starrenden Blick der Sekretärin und Deckers runzlige Rübe… aber Jerika war nirgendswo zu sehen. Und in diesem Augenblick war mir das mehr als recht, es war nur ein Traum gewesen, doch wollte ich nicht der Frau in die Augen schauen, die ich gerade vergewaltigt hatte. Jeder einzelne Handgriff hatte sich real angefühlt. Aber trotzdem musste ich fragen:
»Wo ist Jerika?«
»Du ruhst dich besser aus. Das hat so keinen Sinn mehr, mein Junge. Ich ruf Halger an. Der soll den Rest der Frühschicht übernehmen.´Das ist wohl das beste.«
»Das dauert zu lange. Schalt den Overclock wieder an. Ich bin einsatzbereit.« Es fühlte sich an, als ob ein Blitz in meinem Kopf explodierte. Ich hatte es einmal gesehen: der Baum war mitten entzwei gespalten und die Splitter lagen auf der Straße – noch fünfhundert Meter weit. Ich sackte in die Knie und Decker musste mich wieder nach oben ziehen.
»Ich weiß nicht, was in deinem System alles drin is, Caballero. Das könnte dich umbringen.«
»Tu´s einfach. Dann bringen wir´s hinter uns.«
»Nah gut, wie du meinst. Es ist dein Leben, das du wegwirfst. Hauptsache du erledigst noch zuvor deine Arbeit. Du kennst ja die Strafen für Zeitversäumnis…«
Ich spürte ein kurzes Ziehen im Magen und ein Stich im Herzen, als die Pumpe begann, die Flüssigkeiten durch die Schläuche schneller denn je zuvor zu treiben.
Lucy schüttelte nur wortlos den Kopf. Sie wusste nicht, was passierte. Sie sah aber mein grässliches Grinsen. Ihre Augen waren gerötet. »Du wurdest doch so viele Male gewarnt. Drei Schüsse vor dem Bug. Warum willst du weitergehen?«, sagte mir ihr stummer Blick.
»Ich habe auch noch etwas zu tun, heute Nacht, genau wie Sie.«
Ich wusste nicht, ob ich laut geantwortet hatte oder nicht.
»Es ist schon Morgen«, sagte sie und wendete sich ab.
Die drei ließen mich an der Wand stehen und steckten ihre Köpfe an der Empfangstheke zusammen. Mittlerweile war mir egal, was verhandelt wurde, ich wollte nur noch schnell weiter. Die Krag schmiegte sich kalt an meine Brust, sie hatte heute noch nicht genug gesungen. Noch nicht genug gedonnert. Der K/464 bat zum Duett. Alles stand in Flammen und die ganze Welt brannte.
Und dann kam sie. Sie schlüpfte aus dem schattigen Bereich, in den sie mich gezogen hatte und ich wusste nun, dass es kein Traum gewesen war. Und sie lachte. Ihre Augen glühten auf, kurz, ganz kurz, niemand sonst hatte es bemerkt. Aber ich hatte es gesehen. Und in diesem Moment fiel es wie Schuppen von meinen Augen. Dieser Hass, diese Feindseligkeit gegenüber jeglicher Ordnung und Leben und ein kompromissloser Vernichtungswille, der nur noch Zerstörung kennt. Diese Verzweiflung verzerrte ihr Gesicht. Ließ es schmelzen und in Obsididanform erstarren und dieses Schmelzwerk sah ich. Ich sah, das was ich begehrt hatte, ohne Maske. Enttäuschend? Vielleicht – doch was nützt es, eine Lüge zu erzählen? Denn es ist wahr: Es war nicht meine menschliche Intelligenz, meine Bildung oder mein Geist und Verstand, der den Feind offenbarte, aber sein unmenschlicher Stolz.
Meine Hand griff zuerst daneben. Meine Kehle war trocken und ich konnte nicht rufen – als ob ich immer noch in diesem Traum gefangen wäre. Doch schließlich umklammerten meine Finger den kalten Stahl und ich rief:
»Sie ist ein Mutant!«
Decker war tot. Der alte Mann hatte auf Lucy gezielt, doch Jerika stand hinter ihm und sie öffnete seinen Rücken. Sie schlüpfte hinein und es begann nun ein Prozess, den ich nur als eine groteske Heirat von Fleisch mit Fleisch beschreiben konnte. Der Bi-Mutant sprang auf den Tisch und streckte seine Klauen aus. Ich hörte die Stimme Deckers – verzerrt, dunkel und unmenschlich – aber es war seine Stimme, die durch den Raum grollte:
»Ich lebe.«
Die Empfangsdame schrie, ihr Kreischen zerfetzte beinahe meine angeschalteten Ohren und so zitterte meine Hand, als ich den Abzug betätigte. Die Wand hinter dem Mutanten explodierte in Splitter und Mörtel und Staub. Die Kugel der Hammerkrag ließ keinen Stein auf dem anderen, aber sie hatte nicht ihren tatsächlichen Feind gefunden. Dieser sprang mit unmenschlicher Geschwindigkeit auf die junge Frau. Ich konnte nichts tun; noch bevor ich den Lauf meiner Waffe neu ausgerichtet hatte, hatte er den zierlichen Leib schon von allen Knochen und dem Mark darinnen entkernt. Ich wusste nicht, wer sie gewesen war, – selbst ihr Name war mir unbekannt – aber sie starb wie ein Marder, der sich in der Elektrik eines Motors verbissen hatte – vollkommen unverständig gegenüber den Kräften, die sie aus dem Leben rissen – von einer Nanosekunde zu anderen. Jetzt lebte sie. Nun war sie tot. Ich hatte keine Zeit für Entsetzen, für Mitleid und zum Beten.
Das irre Grinsen des Decker-Mutanten triefte von Blut und grässliche gelbe Augen schienen wie zwei grelle Scheinwerfer durch den Raum. Sie fanden mich. Hätte ich an den Männer-mordenden Ares geglaubt, er wäre nun vor mir gestanden und Mars selbst hätte mir Sterblichen gedroht:
»Du bist bereits tot.«
Ich drückte ab. Doch der K/464 war schnell, viel zu schnell, ich hatte noch nie ein solch grässliches und doch geschmeidiges Wesen gesehen, alle seine Bewegungen waren formvollendet, effizient und zielgerichtet und mit spielerischer Leichtigkeit wich er der Kugel der Hammerkrag aus. Glas splitterte, Holz verbrannte und der Geruch von Schießpulver schwängerte den Raum. Jerika entledigte sich endlich von Decker, seine Haut fiel auf den Boden wie eine beschmutzte Arbeitsjacke nach einer langen Nachtschicht. Nun stand Athene vor mir. In all ihrer schrecklichen Verderbtheit, ihre Weisheit nur auf Zerstörung und Vernichtung gerichtet. Jerika lächelte und ihre spitzen Zähne blitzten im Licht der Neonlichter auf.
»Ah, Mr. Schick, genug von diesem Spiel.«
»Gib die Frau frei! Kämpfe mit mir. Sie hat mit unserem Streit nichts zu tun!« Ich wollte rufen, aber brachte nur ein schrilles Krächzen zustande.
»Du machst dir Sorgen um mein Kleid, Mr. Schick? Ah, dann willst du, dass ich dich stattdessen wieder anziehe? Ah, verleugne es nicht… hübscher, hübscher Mann! Du hast genossen wie ich! Als ich dich genommen habe…«
Sie zeigte – mir – nun alle ihre Formen und sie war das Wunderschönste, was ich jemals in meinem Leben gehofft zu sehen hatte. Die Erhabenheit ihres Fleisches überstieg selbst das, was meine Lust begehrte in dunklen gewaltsamen Träumen. Doch es war keine erhebende Schönheit. Nein, es war eine kalte, brennende Schönheit, grausam und unerbittlich. Die Schönheit des ewig stillgrauen Ozeans, der in die Tiefe lockte, wenn man über die Reling des Kreuzfahrt-Schiffes hinunterschaute. Ich sah nun Jerika, als das, was sie war: Ein Mutant – kein Freak – aber ein Monster. Ich wusste nicht, wie sie mich und Decker all die Zeit getäuscht hatte, aber der Punkt ist: ich war blind gewesen und nun sah ich. Ihre Lockungen fielen auf taube Ohren, nur meine Angst lähmte meine Nerven.
»Du Hure!« Meine Zähne knirschten gegen sie und meine Schwäche. »Du bist es gewesen! Von Anfang an! Du hast meine Augen getäuscht! Eine Illusion! Deshalb konnten dich Lucy und Decker nicht sehen…«
Jerika lachte und massierte spöttisch ihre vollen Brüste.
»Ah, Mr. Schick. Hübsch! Aber nicht schlau! Gen-Mutation hat drei Arten. Ich bin diejenige, die austauscht und ersetzt. Punkteinführung!«
Der Mutant grinste noch höhnischer, als er sah, dass ich nicht verstand.
»Ah… dumme Menschen. So hübsch… aber so dumm. Ich muss es einfach sagen: Hmm… Lucy-Maus… hübsch, hübsch, sie war die Illusion, die du sahst. Deshalb konnte Decker mich nicht sehen. Er sah nur mich. Lucy, das Vergangene, habe ich nur dir gezeigt, um mit dir zu spielen. Änderung aber ist das Ergebnis eines jeden Wettbewerbs!«
»Das ist eine Lüge. Lucy? Lucy! Lucy, komm heraus!«
Doch Lucy war nirgendswo mehr zu sehen. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass Jerika zumindest in diesem einen Moment und in diesem einen Punkt die Wahrheit gesprochen hatte. Lucy war nicht da. Vielleicht hatte es sie auch nie gegeben. Nur ein Gaukelspiel, um mich zu betören und zu manipulieren. Jerika hingegen saß in all ihrer schrecklichen Realität und Tatsächlichkeit auf dem zersplitterten Holz des Empfangthresens wie eine Königin und achtete nicht die Stiche und Schnitte in ihr nacktes Fleisch. Es war ja nicht ihr eigenes. Genüsslich leckte sie sich das Blut von ihrem Mittelfinger. Ich fühlte mich allein. Und so verlassen.
»Es ist wahr. Lucy ist gegangen. Vergangen… mutiert. Ich bin hier. Diese ist gewesen, nun bin ich. Warum zurückblicken? Auf das was war! Hach, ist es nicht schön, diese Verzweiflung! Zu sehen und zu vergleichen? Niemand kann zurück. Änderung geht nur in eine Richtung, Mr. Schick!«
»Du bist also tatsächlich Lucy«, sagte ich und ich konnte nicht mehr schießen. »Du warst zumindest es gewesen… einstmals.«
»Ein Bild… aus Vergangenheit. Die Statuen der Ahnen sagen doch uns heute Lebenden nichts mehr. Sie sind stumm und wir hören nicht zu. Nie im Museum?«
Jerika schritt auf mich zu. Ich konnte nichts tun. Sie war ja Lucy. Und Lucy nahm meinen Kopf in ihre sanften Hände und schmetterte ihren Kopf in den meinen. Meine Nase brach hörbar und die Wucht des Angriffes schleuderte mich zu Boden. Schmerz, Verwirrung und eine alles umfassende Lähmung ergriffen mich. Ich kroch auf dem Boden wie ein Wurm, suchte mehr von Instinkt getrieben als alles andere, nach meiner Waffe. Ein Blutschleier lag über meinen Augen. Jerika trat hingegen mit ihren langen Beinen in meine Seite. Ich schrie auf. Das Metall unter dem Fleisch verbog sich wie die Knautschzone eines Kleinautos unter der Macht eines herandonnernden Zehntonners. Lucy lachte laut auf und reckte ihre Arme zum Himmel empor:
»Seht her: Ich war schwach unter den Männern und nun fresse ich Löwen!«
Ihre Schläge prasselten auf mich nieder, die zierlichen Frauenhände, denen man nicht einmal zutraute, ein Glas Gurken zu öffnen, brachen Knochen, verbogen Metall und Stahl und ihre langen Fingernägel bohrten sich wie Krallen in das weiche Fleisch darunter. Wer hatte dieser Frau, dieser jungen Krankenschwester, eine solche Macht gegeben? Ich spuckte Blut und Schleim. Und ich war verzweifelt, denn ich wusste irgendwie, dass dieses grässliche Monster ja doch irgendwie die eigentliche Lucy war und dass diese eigentliche Lucy all diesen Aktionen irgendwie zustimmen musste. Die Liebe meines Lebens wollte meinen Schmerz.
»Lucy… warum.« Ich keuchte. Ich hatte keinen Atem mehr. Es schien ein Wunder, dass meine Lunge überhaupt noch funktionierte. Erst in den Stunden unseres Mangels wird uns der vergangene Reichtum bewusst. Ein Glas Wasser in der Wüste. Ein Hauch des kühlen Windes in der bräsigen Sommerhitze. Luft unter Wasser.
»Ah, du willst wissen, warum ich dich nicht gleich getötet habe.« Jerika kicherte und kratzte sich am Hinterkopf. »Mr. Schick, sei jetzt nicht schüchtern! Ich brauche deinen Samen!«
Ich versuchte wegzukriechen, doch sie hielt mich an den Füßen fest. »Inzucht ist der Abscheu der Evolution! Ich brauche meine Vielfalt. Ah, ich hungere nach dem Neuen! Ja, ich will dich fressen! Dich genießen. Aber nicht gleich… Du bist doch ein großer starker Mann. Steh zur Verpflichtung. Zuerst das wärmere Vergnügen…« Ihre spitzen Krallen bohrten sich in meine Schenkel.
»Nein, nein, lieber Mr. Schick. Nicht schüchtern! Nicht schämen! Ich habe nicht gelogen, als ich sagte: ich will mit dir zu den Himmeln fliegen! Zu den Sternen reisen! Wir werden sein wie Götter, du wirst sehen! In mir!«
Ich lachte. Da musste ich lachen. Die Absurdität dieser ganzen Situation – mein Körper, das Werk der perfektionistischen Wissenschaft, verdroschen von einer kleinen Frau – drängte mich in die Hysterie. Lucys spitze Nase rümpfte sich, als ich ihr mein Blut ins Gesicht spuckte. Selbst durch all den Gestank, durch all das bleierne Blut, den Brand von Pulver und Schweiß und Gewalt, konnte meine gebrochene Nase noch Reste ihres Parfums riechen – der Duft von Rosen. Ich blickte ihr in die schwarzen Augen.
»Es gab viele Menschen, die sich selbst zu Göttern machten. Aber es gibt nur einen Gott, der zum Menschen wurde. Was ist beeindruckender? Deine Hände nach den Sternen auszustrecken – für ewig unerreichbar? Oder dich selbst so klein zu machen, dass du durch ein Nadelöhr passt? Tu es also: Mach dich klein wie ein Atom. Verringere deine große Gestalt. Zeige mir das und ich glaube dir.«
Jerika stand auf, ihre nackte Gestalt ragte über meinen zerschmetterten Leib wie das erhobene Henkersschwert.
»Ach… Mr. Schick. So dumm… Dieses alte Gerede.« Und sie wollte mir ihren Absatz durch das Auge bohren. Ich rollte mich nach rechts, irgendwie fand ich durch den roten Schleier meiner Augen hindurch das silberne Blitzen. Ich packte die Krag und schoss blind dorthin, wo ich sie vermutete. Ich hatte mein Leben gerettet – für den Moment – aber von Lucy war nichts zu sehen. Sie war verschwunden in den Schatten. Nur ihr höhnisches Gelächter klang in meinen Ohren. Der Kampf war noch nicht vorbei. Vor Schmerzen keuchend und dabei jeden meiner kreischenden Nerven verfluchend zog ich mich an der Wand hoch. Ich wischte das Blut aus meinen Augen. Das Empfangszimmer war verwüstet. Über der zerschmetterten Theke hing wie ein hinweggeworfener Mantel die Haut meines alten Freundes, das Blut der zerfetzten Sekretärin klebte an Wand, Decke und Böden und an mir selbst, nur ihre Eingeweide fehlten, verschwunden in Lucys hungrigem Magen. Ich erschauderte. Mich hätte wohl das gleiche Schicksal getroffen, wenn ich damals unter dem Von-Neumann-Melder Jerikas Zigarette angenommen hätte – gesegnet sind die Unwissenden und ich war nun verflucht.
»Lucy!«, rief ich in die Schatten. »Ich weiß, dass du da bist.«
»Auch ich weiß, wo du bist«, sang Jerikas rauchige Stimme in meinem Ohr. Ich wirbelte herum, aber nur ein fliehender Schemen versank hinweg in die Schatten, viel zu schnell, als dass ich hätte reagieren können.
»Das bist nicht du! Wehr dich! Ich weiß nicht… von wem du das Mutanten-Gen bekommen hast. Aber es gibt Heilung!«
»Heilung?« Ein Hammerschlag traf mich in den Rücken. Mein über 200 Pfund schwerer Körper flog durch die Luft, als wäre es ein unter Langeweile hinweggeworfenes Mädchenspielzeug und ich krachte in die Splitter des zertrümmerten Tisches. Spitze Pfähle bohrten sich durch den Körper, dort wo noch Fleisch und kein Metall war. Die Splitter versanken in Hände, Schenkel und Hüfte. Ich schrie auf. »Ich brauche keine Heilung. Ich bin stark und du bist schwach.«
»Und hat dich deine neue Stärke glücklich gemacht?«, fragte ich und Verzweiflung und Todesangst brachen mir die Stimme entzwei. »Fühlst du dich nun besser? Du hast deine Kollegen getötet, deine Freunde gefressen. War es das wert?«
»Oh, ja!«
Selbst im Overclock-Modus brauchte es meine ganze Kraft und meinen ganzen Willen, mich wieder aufzurichten. Der Schmerz trieb mich schier in den Wahnsinn. Ich sah verschwommene fraktale Schemen und Fragmente von Farben, die nicht existierten, blitzten durch meinen Geist. Der Körper würde es nicht lange mehr machen, dachte sich irgendein abgetrennter Teil meines Bewusstseins, der wie ein unbeteiligter Beobachter über den Dingen schwebte. Ich sah mich in der Tat von oben und ich sah, wie meine zitternden Finger neue Kugeln in die Krag luden. Meine Lippen bewegten sich wie von selbst, ich sprach, doch war es meine Stimme?
»Du lügst«, sagte ich. Und ich wusste nicht, woher diese Sicherheit kam. »Du hast mir Lucy gezeigt. Doch wie ist das möglich? Irgendetwas von ihr muss noch da sein. Ansonsten hättest du diese Illusion nicht hervorrufen können. Der Künstler braucht ein Model vor sich, nicht wahr?«
Nur Stille antwortete mir. Ich grinste.
»Du hast die Wahrheit gesagt: Ich bin nur… ein dummer Mann. Ich kenne mich mit solchen Dingen nicht aus. Aber ich vermute, dass du Lucy nur deshalb zeigen konntest, weil sie tatsächlich hinter dir steht. Du hast dich für einen Moment durchsichtig gemacht, sodass sie zum Vorschein kommen konnte, nicht wahr?«
Der Wind heulte durch die zerschmetterten Fenster, Regen tröpfelte auf die heiße, brennende Haut. Ich fuhr mit der Hand durch das verschwitzte Haar. Ich erhielt keine Antwort. Ich sprach weiter:
»Du hast gesagt, dass Veränderung unweigerlich ist. Ich denke hingegen, da ist ein Kern in uns – in mir und Lucy und allen Menschen – der nicht dem Diktat der zeitlichen Mode unterliegt. Diesen hast du mir gezeigt, nicht wahr? Wie das zersplitterte Fragment eines zerbrochenen Spiegels. Du bist nicht Lucy. Du bist… eine Zwangsjacke. Oder so etwas wie eine Schmutzschicht, die den Spiegel darunter unkenntlich macht.«
Ich wusste, dass Lucy nun hinter mir stand. Doch ich konnte mich nicht umdrehen. Weitere Gewalt hätte hier keinen Sinn mehr gemacht. So endete ich meinen wohl vergeblichen Sermon:
»Was ich sagen will: Ich werde dich hinwegschrubben. Schicht für Schicht.«
Jerikas Augen glitzerten schwarzen Opalen gleich über mir. Das Mutanten-Gen spaltete die Iris entzwei. Sie setzte sich auf meine Brust, ihr zierlicher Frauen-Körper schien so schwer wie ein Schiffsanker. »Sei jetzt still, Mr. Schick. Verbrauch dich nicht. Du darfst nicht sterben, bis ich dich genommen habe.«
»Das ist keine Liebe«, keuchte ich.
»Es gibt keine Liebe auf dieser Welt. Nur Starke und Schwache und nun bin ich stark und du bist schwach. Hach, wie schön es ist, du kannst dir nicht vorstellen wie gut es tut, einem Mann Gewalt anzutun.« Lucy seufzte in Ekstase und legte ihre Krallen um meinen Hals. Und doch zögerte sie noch. Das verriet ihren Kampf. Hoffnung, ein letztes Aufbäumen legte ich in meine Worte, denn ich wusste, dass ich dem Mutanten in ihr nicht durch Körperkraft gewachsen war:
»Du lügst«, sagte ich. »Die wahre Lucy… ich hab sie gesehen. Die Wahrheit.«
»Was ist denn schon die Wahrheit?«, fragte sie und ihr Gesicht beugte sich herab zu mir, als wollte sie mich küssen, aber sie tat es nicht. Stattdessen fühlte ich ihre schlanken Finger enger um meinen Hals.
»Du kannst mich nicht töten. Du willst helfen. Du willst heilen… das ist, was du willst. Das ist die Frau, die du bist.«
»Ich bin keine Frau. Ich bin nicht Lucy. Ich bin jetzt Löwe und kann deshalb Männer fressen.«
»Du kannst mich nicht töten… weil ich dich liebe.«
Lucy drückte meine Kehle zu, die Luft entschwand so schnell aus meinen Lungen wie das Leben flüchtig war. Schwarze Schatten umfingen meinen Verstand und nur noch wie getrennt von meinem Körper wurde ich gewahr, wie dieser heftig strampelte und ankämpfte. Vielleicht hatten wir genau deshalb ihn bekommen, denn es war unser Körper der das Leben nicht aufgab, selbst wenn uns der Geist schon längst verraten hatte. Dies war der einzelne Vorzug des Leibes gegenüber dem Geist. Und Lucy beugte sich herab zu meinem Mund, ihre braunen Augen voller Sehnsucht und Bedauern und sie küsste mich. Ich zögerte nicht: Ich sog ihr das Gift aus der Wunde. Meine Zähne bissen auf ihre Zunge – nun eine schlängelnde Schlange – und diese musste in meinen Mund und Rachen hinein.
Sofort fühlte ich die Macht und die Stärke, von der Jerika gesprochen hatte. Ich rief verzweifelt, bevor der Wurm meine Stimme ersticken konnte und mich vollkommen in die tiefe der Ekstase riss:
»Lucy! Lucy! Zieh… raus! Raus! Zieh ihn heraus! Ich kann… nicht…« Ich wusste nicht, ob sie mich verstand. Ihre verwirrten Augen blickten ängstlich hin und her und ich konnte es nur zu gut verstehen: Es musste wohl der furchtbarste Kater ihres Lebens sein, plötzlich davon aufzuwachen, ein Monster gewesen zu sein. Und sie blickte mich an. Ich deutete nur auf meinen Mund und meinen Rachen. Ich flehte sie innerlich an: Zieh ihn heraus! Bitte, Lucy! Ich… ersticke!
Und ich fiel in den Stern. Gleißende Helligkeit blendete meine Augen und ich spürte die Hitze von tausend Schmelzöfen. Und ich wurde umfangen. Ich sah, die Ebenen und Bergesgipfel zu der Zeit, bevor das Nass alle Welt wie ein Leichentuch überdeckte, ich hörte die kampfeslustigen Stimmen der Riesen rufen und ich vernahm das Geschrei des ersten geborenen Kindes. Und ich wusste, dass dieser Stern noch älter war, seine Geburt lag so viel weiter zurück, als das des Menschengeschlechts, dass verglichen dazu, ich den ersten Menschen meinen Bruder in der Zeit hätte nennen dürfen. Alt und erhaben und mächtig war jenes grausame Licht, eine höhere Existenz als selbst der größte Eroberer, schöner als meine verflossene Liebe und gleichzeitig so viel weiser als alle Forscher und Sucher zusammengerechnet. Und dieses Licht sprach zu mir und sagte zu mir: All die Welt und die gesamte Zeit gehörte mir, solange diese schreckliche Flamme in mir brennen würde.
Ich war entzückt. Ich schwebte über den Wassern und stand auf dem höchsten Berg des Himalayas und ich saß auf der Zinne des alten Tempels und ich genoss die ganze Schönheit dieser Welt mit meinen Augen, als ob diese jene essen könnten. Das schimmernde Morgenrot und die seufzende Trägheit der Abenddüsternis, alles was diese berührten, lag nun in meinem Schoß wie die Spielzeugrassel im Schoß des stammelnden Kindes. Und ich hätte zugesagt, wenn nun nicht eine Hand auf meinem schreienden Mund gelegen wäre. Ja, ich wollte ja rufen, doch die zarten Hände bedeckten meine Zähne und schließlich griffen sie in meinen Rachen. Ich sah Lucy – feuerrotes Haar gekrönt vom Gleißen der Sonne in ihrem Rücken – und sie zog mir den Wurm aus der Kehle.
Ich hustete. Urplötzlich war ich zurück in dem zerstörten Büro in den zwei Türmen in den Hopes und verschwunden war jene Halluzination, hervorgerufen durch die Gifte des Mutanten-Gen. Lucy hielt die sich windende Schlange in den Händen, ein panischer Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Ich hustete:
»Töte es!«, keuchte ich. Meine letzte Kraft. »Vernichte es!«
Lucy schleuderte den Wurm auf den Boden und ihre Absätze bohrten sich in den Kopf der widerlichen Kreatur. Ihr nackter Körper erzitterte. Sie musste frieren, doch sagte sie kein Wort. Sie blickte mich stumm mit weit aufgerissenen Augen an, als ob sie mich nicht kennen würde und schließlich sackte sie zusammen. Der Schock und die Schmerzen all der Verletzungen, die Jerika ihrem Geist und ihrem Leib zugefügt hatte, holten sie wohl auf einen Schlag ein. Ich kroch zu ihrem Körper hinüber, ging sicher, dass sie keine lebensbedrohlichen Verletzungen erlitten hatte und legte ihren Mantel über das entblößte zitternde Fleisch. Einen einzelnen längeren Blick gönnte ich mir auf das schlummernde Antlitz, bevor sich meine Nervschaltung mit der Zentrale verband:
»Verstanden, Agent P-404. Technikergruppe ist auf dem Weg zum Einsatzort. Halten sie durch. Die Kavallerie kommt.«
Ich musste fast hysterisch lachen. Die OpSecs hatten schon einen eigenartigen Sinn für Humor. Ich blickte zu Lucy. Ihr Antlitz war schmerzverzerrt, ihre Wunden bluteten immer noch stark. Die Brust hob und senkte sich schnell und heftig. Sie war nicht in Lebensgefahr, aber ihr Zustand verschlechterte sich von Sekunde zu Sekunde. Sie brauchte Hilfe. Und zwar schnell.
»…noch etwas.«
»Wir hören:«
»Eine… verletzte Zivilperson. Erbitte um einen Krankenwagen. Zivilistin erlitt tiefe Stichwunden, Unterkühlung und vermutlich schwerwiegenden neuralen Schock durch ausgetriebene Mutanten-Gen-Infizierung.«
»Tut mir leid, Agent P-404, aber Zivilpersonen fallen nicht in unsere Jurisdiktion«, sagte die Stimme in einem Ton, die unumstößlich klar machte, dass es ihr absolut gar nicht leid tat. Ich seufzte. Lucy wandte sich stöhnend hin und her, schließlich drehte sich das vor Schmerzen verzerrte Gesicht mir zu. Sie murmelte irgendetwas, aber ich verstand es nicht.
»Die Prämie?«, fragte ich.
»Packet K/464-0803 wurde gesichert. Auftragshonorierung: 15.399 Neuenglische Kronen… Abzüglich der Strafe für verlorenen Handler 1308 im Einsatz und Zielzeit-Versäumnis. Vorläufig berechnete Endsumme: 1040 Neuenglische Kronen.«
Ich schlug mir gegen den Kopf und hoffte, dass der Schmerz sich durch die Nervschaltung zumindest ein bisschen übertragen würde. Das Knistern auf der anderen Leite bestätigte meinen eitlen Erfolg.
»Das muss genügen. Schicken Sie den verdammten Krankenwagen. 14. Stock. Büro 1408. Old Light Towers in den New Hopes. Sofort.«
Und dann verschwand das Licht aus meinen Augen. Ich schaltete mich ab.
Der Weg zurück verlief in Schweigen gehüllt und größtenteils ohne Zwischenfall. Nur einmal schrie Lucy – oder vielleicht war es auch Jerika –, ihre Stimme hallte spitz von den Wänden wieder und für einen Moment sah ich eine weiße Hand aus einem der komprimierten Müllwürfel ragen.
Doch ich wusste nicht, ob ich mich getäuscht hatte und Decker trieb uns weiter. Ich ging wieder vorne, denn ich war von allen nun der langsamste, auch wenn der Overclock-Modus mir einflüsterte, ich könnte die ganze Welt mit meiner Faust zerquetschen. Ein sicherlich abscheuliches Grinsen verzerrte mein Gesicht. Ich war froh, dass Lucy es nicht sehen konnte. Was mochte wohl eine Frau anderes erblicken, wenn sie in das Herz des Gegenübers sah, außer Gewalt und Einsamkeit und was sah ein Mann in den Augen einer Frau weniger mehr als unerfüllte Begierden? Letztlich wussten wir ja so wenig voneinander und doch gab es jemanden, der wusste, dass wir mehr waren als das. Und das gab mir Hoffnung. Ich schleppte mich weiter und unterdrückte mit dem zweiten Ki-Bewusstsein jedes schmerzvolle Stöhnen.
Schließlich erreichten wir wieder das Foyer des ersten Turmes. Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, seitdem ich durch die Glastür geschritten war und zum ersten Mal Lucy mit meinen Augen erblickt hatte. Ich sah mich um: Niemand war hier. Ich hatte das seltsame Gefühl, dass in der Zwischenzeit hier sich kein Staubkorn bewegt hatte – ein eingefrorenes Standbild einer früheren Realität – oder vielleicht mehr die Kopie eines Originales, das mittlerweile unter den heißen Feuerwinden von Qliphoth verbrannt war.
Wie auch immer, es schien nach all dem was vorgefallen war, beinahe sicher und behaglich zu sein: gelbe Tapeten, unscheinbare Gemälde und der Rezeptionstisch, der als Vorhof jedes Büros fungieren musste. Aber es war falsch. Wir durften hier nicht bleiben. Wir mussten nach oben. Und ich sah nun, dass sich tatsächlich etwas geändert hatte.
»Unser El Jefe hat sich befreit.«
»Vielleicht der Gastgeber?«
Wir beide waren uns unsicher.
»Ich bringe Sie beide in die oberen Stockwerke«, sagte Lucy.
»Du musst das nicht tun«, erwiderte ich und modulierte meine Stimme künstlich nach unten.
»Was ich tun muss, entscheide weder ich noch Sie und mich bindet meine Pflicht.«
»Warum?«
»Ich wollte Sie zuerst in den Tod führen.« Lucy lächelte und es war das traurigste, was ich jemals gesehen hatte. »Jetzt habe ich mich anders entschlossen.«
»Sie haben nichts gutzumachen, was nicht passiert ist, Miss Keller.«
»Auch Absichten hinterlassen Narben, Mr. Caballero.«
»Wir sind doch alle Neugierig auf das Ende«, flunkerte Jerika und setzte sich mit ihrem Hintern auf den Tisch, ihre Beine lasziv übereinanderschlagend. Aber sie hatte keine Augen mehr für mich. Ihre vollen roten Lippen öffneten sich für Decker.
»Streite niemals mit Weibern, Caballero. Zeitverschwendung. Lass uns weitergehen.«
Der Aufzug schloss seine Türen und zusammengequetscht in der engen Kabine ging es nach oben. Der Magen sackte in meinen Schritt. Ich hasste Aufzüge. Sie waren widernatürlich. Der Mensch musste Treppen steigen. Ich blickte in die Spiegel und sah viele verschiedene verzerrte Gesichter, aber nur eines von ihnen lächelte mir zu und das ließ mein Herz höher schlagen. Der Aufzug hielt und ich ging durch die Tür.
»Willkommen, verehrte Herren und Damen… Oh, Lucy, was machst du hier? Führst du etwa Gäste vom Chef durch die Büros? Davon wurde ich gar nicht in Kenntnis gesetzt…«
Es war immer wieder seltsam nach einer Begegnung mit den Kräften des Qliphoth ein menschliches Angesicht zu sehen, dass nicht vor Schmerz verzerrt war. Lucy besprach irgendetwas mit der Sekretärin oder Empfangsdame, oder was auch immer diese junge Frau hier im 14. Stock arbeitete und ließ uns zwei Männer sowie Jerika wie Kinder in der Spielabteilung eines Supermarktes stehen. Das Gespräch dauerte länger, offenbar gab es Probleme. Ich fand es nicht verwunderlich. Gäste brauchten einen Ausweis und diese Firma hier hatte offenbar viel zu verbergen. Ich hörte kaum zu.
»Deine Süße drängt sich gerne nach vorn. Mutig, aber dumm. Du wirst deine Hände voll zu tun haben«, funkte Decker über Nervschaltung.
»Deine Süße hält sich hingegen arg zurück«, erwiderte ich halb im Scherz halb im Ernst. Ich rechnete schon mit einer bioelektrischen Züchtigung. Doch Decker drehte sich lediglich mir zu. Ein gänzlich verwirrter Ausdruck überlagerte sein rotes wülstiges Gesicht. Doch bevor er etwas erwidern konnte, zupfte Jerika mich urplötzlich am Arm. Ihr Blick war kühl.
»Bellen tun Sie nicht – meinen Freund an, Mr. Schick. Ansonsten muss ich das Hündchen treten, wo es weh tut.«
»Meine Herren«, rief Lucy. Ihre Stimme war laut und kräftig und es klang falsch und hohl. Sie spielte nur. »Ich werde Sie nun als nächsten Schritt unserer Führung durch die Administration unserer Anlage führen. Ich muss Sie wiederum bitten, keine Fotos zu machen oder sonstige Audio- oder Visuelle Kopien von den hiesigen Arbeitsplätzen und Geräten anzufertigen.«
Ich reite mich hinter Lucys zierlicher Figur ein und hinter uns gingen Decker und Jerika. Ich wagte es nicht, mich umzudrehen, denn ich wollte der schwarzhaarigen Schönheit keinen Grund zum Vergnügen geben, aber ich meinte zu hören, wie sie leise tuschelten und sich gegeneinander schmiegten. Decker, so weit ich wusste, hatte schon öfters seine Frau betrogen, doch niemals während der Arbeit. Vielleicht wurde er einfach alt.
Eine Glastür öffnete sich und wir waren in den Büros des 14. Stocks. Die meisten von Ihnen waren zu dieser frühen Zeit noch verwaist. Hinter ein paar Türen hörte man jedoch das Klacken von Tastaturen und leise Stimmen telefonierten. Wohin man auch die Blicke warf, es schien alles gewöhnlich zu sein, keine Spur des fremden Einflusses, der die Müllverbrennungsanlage durchtränkt hatte. Langsam fragte ich mich, ob wir hier tatsächlich richtig waren, aber es so musste so sein. Der Feind hatte dieses Schlachtfeld diktiert. Es wäre unhöflich, nicht zu erscheinen.
»Mr… Caballero… Darf ich Sie etwas persönliches fragen?« Lucys hohe Absätze auf dem Holzboden klackerten spitz – ich musste an das Galoppieren eines edlen Pferdes denken.
»Solange Sie keine Antwort erwarten.«
Lucy hielt nicht inne, als sie weitersprach.
»Ich weiß, Sie halten mich für… so etwas wie eine Schurkin.«
»Tue ich das?«
»Seien Sie ehrlich. Ich bin der Spielchen überdrüssig. Ich bin eine Butcherin… so nennen Sie doch mich und meine Familie.«
Ich legte auf ihre Schulter meine Hand und wollte sie zum innehalten zwingen, doch Sie entzog sich meinem Griff. Ich stolperte und fiel beinahe, doch fing ich mich an der Wand ab.
»Das ist keine persönliche Frage, Miss Keller. Das ist eher ein Fakt.«
»Sie sind ehrlich. Gut. Dann frage ich also: Haben Sie schon jemals in den Büchern von… Gnade gelesen? Ich weiß, dass Sie auch aus Midwest kommen – wie ich. Wie halten Sie´s also mit der Gnade?«
»Gnade?« Ich schnaubte.
»Ja, Gnade.«
»Falls das Ihre Frage ist, so muss ich diese leider mit Nein beantworten: Ich kann nicht verzeihen.«
Eine tief verwurzelte Wut schoss urplötzlich empor, brachte Früchte und bittere Galle in meinem Innern hervor. »Nein. Weder Ihnen noch dem Bösen, das wir jagen. Mein Kollege und ich – wir sind hier, um das Gesetz zu vollstrecken. Mehr kann ich nicht versprechen.«
Lucy hielt nun doch inne. Sie seufzte und von hinten sah ich, wie sie ihre Schultern hängen ließ. Ihr rotes Haar zitterte unmerklich wie Laub im sanften Wind.
»Ich denke… es ist einfach nur ein schöner Gedanke… Und wenn er schön ist, muss er dann nicht ebenso wahr sein?«
Ich hielt ebenso inne und Jerikas spitzer Busen rammte in meinen Rücken. Sie stöhnte auf – übertrieben laut.
»Ah, Mr. Schick, verzeihen Sie«, seufzte sie. »Und verzeihen sie Lucy-Maus, sie ist jung und nicht so alt wie wir. Das Mädchen weiß nicht, dass das Gesetz so… unbeugsam und hart und… steif und unveränderlich ist…«
»Ihr Mitgefühl ehrt Sie, Miss Keller«, sagte ich schließlich und versuchte Jerikas feucht kitzelnden Atem im Nacken zu ignorieren. »Das meine ich mit voller Aufrichtigkeit.«
»Dann versprechen Sie mir nur eines: Ich hätte Sie töten können. Erinnern Sie sich daran. Egal was an diesem heutigen Morgen noch passieren mag.«
Ich versprach es und wir gingen durch die zweite Glastür hindurch. Hinter diesen erschien eine weitere Rezeption und allmählich fragte ich mich, wie viele Abteilungen alleine in diesem Stockwerk arbeiteten. Auch dieses Mal schritt Lucy voran, um ein gutes Wort für uns bei den Wächterinnen des Vorhofs einzulegen. Ich wollte mich an die Wand lehnen und zum ersten Mal und vielleicht auch zum letzten Mal für diesen frühen Morgen meine Zigarre anzuzünden, aber Jerikas Hand ergriff mein Revers – sie war erstaunlich stark – und sie zerrte mich in einen schattigen Winkel. Sie hielt meine schwielige Hand in ihren zarten, marmorweißen Fingern und führte sie an ihre Brust. Unter der Pseudotrans-Jacke schimmerte ihr Fleisch verheißungsvoll – verzerrte Andeutungen von niemals einhaltbaren Versprechungen. Ich lächelte gequält. Ihr roter Mond formte sich zu warmer feuchter Luft und seidenen Worten. Davon hatte ich geträumt, seitdem ich sie zum ersten Mal gesehen hatte – und vielleicht schon zuvor.
»Gute Dame«, sagte ich und hustete. »Das ist hier nicht die Zeit.«
»Es ist immerzu Zeit, um das zu tun, was einem gefällt. Ich muss gestehen, Mr. Schick, ich bin eine Frau, die dazu steht, das zu tun, was einem das Herz befiehlt.«
»Und was ist… ehm… mit meinem Kollegen.«
»Ah, der alte Knochen«, Jerika lachte und ihre spitzen weißen Zähne blitzten im fluoreszierenden vibrierenden Büro-Neonlicht auf. »Sie waren heiß, aber Sie haben noch nicht gekocht. Sie müssen verstehen, man muss die Männer triezen, nur dann verwandeln sich Hunde in Eroberer. Und ich will Eroberung sein. Jetzt. Ihre. Nur deins. Also halt den Mund und nimm mich!« Sie zwang meine Hand, ich konnte sie nicht zurückziehen, so war ich gezwungen, ihren festen Busen zu massieren. Selbst unter der dicken Jacke, fühlte ich ihre Wärme, ihre Hitze.
Ich muss gestehen. Es war keine Moral, die mich zurückhielt, weiteres zu tun – kein Gut, das nun höher in diesem Moment in meinem Kopf stand, als das schimmernde Fleisch unter der dicken Jacke. Es war die Logistik, die mich störte. Es gab keinen Weg, diese brennende Begierde zu stillen und dabei zu tun, als ob es niemand sehen würde. Da war Decker, da war die Empfangsdame und außerdem war da noch Lucy… Sie mochten vielleicht nicht in unser schattiges Versteck sehen, aber sie würden es hören. Meine Kehle war trocken. Meine Stimme brach als ich sprach:
»Ich kann… nicht… Sie müssen doch verstehen – Lucy und…«
»Mr. Schick – es ist wahr, was ihr Kollege gesagt hatte. Sie sind ein Bluthund! Gewalttätig, böse, gemein! Welche Paarung wäre besser für den Bluthund… als mit einer Hure?« Ihr voller Mund lächelte, ihre schwarz geschminkten Augen blitzten beinahe mit einem jungenhaften Schalk.
»Sie passen nicht zu einer Prinzessin, Mr. Schick. Auch wenn sie noch so grausam ist. Geben Sie´s zu. Sie wollen es auch. Tief in Ihrem Inneren spüren Sie auch diese Wahrheit: Sie gehören mir und nicht zu ihr.« Ein Stöhnen entrang sich ihrer Kehle und ihre tiefe dunkle Stimme brach in ein helles Quietschen. Als sie wieder sprach, grinste sie noch breiter. »Lucy-Maus ist ein feines Mädchen. So hat sie natürlich Neugierde an schlimmen Bösewichten wie Sie, aber Sie müssen doch ein schlechtes Gewissen haben, zumindest ist es Ihre Pflicht. Diese Unschuld mit ihrem gierigen – gierigen! – Schlemmermaul zu verschlingen! Sie werden sie zerreißen! Tun Sie das nicht!«
Sie breitete ihre Arme in gespielter Verzweiflung aus und lehnte sich an die Wand. Sie schloss genüsslich ihre eisblau schimmernden Augen. »Aber mit mir? Mit mir können Sie machen was Sie wollen. Es ist mir auch ehrlich gesagt scheißegal, was Sie wollen. Sie wollen mir Gewalt antun? Dann schreie ich und ich kratze und beiße. Ich kann aber auch ihre Mutter sein, mein süßer Babyjunge, hier komm her und still deinen Hunger…«
»Das hier ist Arbeit.«
»Und heute kann es unser letzter Tag im Leben sein. Sollen wir denn nicht jeden Tag leben als wäre es unser letzter? Glauben Sie mir, ich verstehe mich darauf, jeden Anspruch zu erfüllen. Doch Sie? Sie sind am verhungern. Ja, sie hungern und dürsten und viel zu lange haben sie selbstverschuldet verzichtet, auf das was doch so schön und warm und geborgen ist. Und festgehalten werden will… Verzehrt werden will… Deshalb sage ich, Mr. Schick mit den hübschen Augen, sprich nur ein Wort und reiß mich in Stücke! Friss mich. Jetzt!«
Jerika öffnete ihre Jacke – einen Knopf nach dem anderen – und zum ersten Mal sah ich ihre wahren Formen. Speichel lief aus meiner Lefze. Und beinahe hätte ich zugegriffen. Die Stimme Lucys dröhnte in meinen Ohren. Sie stritt immer noch mit der Empfangsdame. Oh, diese unsägliche Stimme! Oh, wie ich wünschte, wir wären tatsächlich nur alleine auf dieser Welt. Ich schüttelte den Kopf.
»Sie liegen falsch, Miss Mun Schoy.«
»Oh, das glaube ich nicht. Ich sehe doch den Hunger in diesen hübschen Augen. Oh, diese Augen! Wusstest du es nicht? Ich habe mich in sie und in dich verliebt. Noch bevor Sie aus dem Wagen gestiegen sind. Ich habe die wundervollen Augen durch das Fenster gesehen. Und ich wollte zu Ihnen steigen und mit IHnen wegfahren. Wollen Sie das denn nicht auch? Hach, wieso noch lügen? Sie sind hungrig. Ich bin hungrig. So hungrig!«
»Man kann nach vielem Hunger haben, Miss Mun Schoy, und die wenigsten Menschen wissen, wonach Sie sich tatsächlich sehnen. Was tatsächlich satt macht. Ich weiß es auch nicht. So entschuldigen Sie mich bitte.« Ich wollte mich entziehen, doch ihre Hand ließ mich nicht los. Sie war stark, stärker als ich in diesem Moment.
»Ah, Mr. Schick. So etwas ist dumm! Dumm! Kein Mann verzichtet immer auf seine Milch und sein Fleisch. Ihr müsst ja groß und stark werden. Komm jetzt, umarme mich. Und wenn die Blicke der anderen Ihnen zu wider sind, dann stürzen wir uns danach einfach aus diesem Fenster hier und wir müssen ihr Geschwätz dann nicht anhören. Denn wir werden fliegen, wie zwei hübsche Engel! Und so erhaben. Komm, lass uns fliegen!«
»Gravität zieht nach unten, Miss, die Naturgesetze existieren aus gutem Grund. Wir beide zusammen fallen schneller.«
»Genug jetzt von dieser langweiligen Philosophie… Ist denn nicht auf Sokrates Rücken die Hure geritten? Komm her, beherrsche mich. Sag mir, Mr. Schick, dass meine Brüste deine Sonne und Mond sind und die Atemluft, jeder Seufzer und jedes Säuseln, ja jedes Wort aus meinem Mund: dein Gesetz!«
Mein Gesicht verbarg sich in ihrem Busen, die Wärme füllte meine Wange und ich weinte.
Es hatte nicht zu meinen Plänen gehört, heute Nacht – vielleicht war es auch schon Frühmorgens – durch den Dreck der Menschheit zu waten und mit meinen Stiefeln auf schmutziges Glas, falsch entsorgte Elektronik und Geräte für sogenannte Erwachsene zu treten, aber es war so wie es war: Der Mensch hatte seine Vorstellungen, doch ein Anderer führte unsere Schritte. Es musste so sein, denn wieso sonst gäbe es das Unerwartete und das Aufregende?
»Es stinkt«, sagte Lucy und hielt sich den Schal ihrer Uniform vor Nase und Mund.
Wir ließen die beiden Damen zwischen uns gehen, ich nun hinten hinkend und Decker vorne schreitend.
»Sie haben ein feines Näschen, Missy. Man erkennt ihre Qualifikation für den Job.«
»Gefällt Ihnen Ihre Arbeit hier?«, fragte ich. Mir war es egal, wenn Decker mich zur Sau machte, aber mein hemmungslos naiver Schutzinstinkt trieb mich dazu, Lucy vor seiner Bissigkeit schützen zu wollen.
»Geld stinkt immer, egal woher es kommt«, sagte sie. »Ich hatte die Qualifikationen und jeder muss essen. Gerade die Jobs, die niemand tun will, müssen getan werden. Und das tun nur wir.«
»Ha, Qualifikationen…«, schnaubte Decker. »Nicht´s für ungut, Missy, ich weiß nicht, welchen Scheiß Sie sich einreden von Familie und Gerechtigkeit, aber ihr Chef hatte eindeutig wohl nur zwei Qualifikationen im Sinn, als er sie auf der Straße gesehen hatte. Sie sind Frischfleisch. Und dann werden die Reste weggeworfen, nachdem man das meiste von ihnen genommen hat. Wie all das hier.« Decker machte eine unbestimmte Zeigebewegung durch den weiten Raum.
»Sie sprechen, nehme ich an, aus eigener Erfahrung.«
Der Kollege schwieg. Auch ich sagte nichts mehr. Ich richtete nun all meine Konzentration darauf, nicht zurückzufallen und mit den anderen mitzuhalten. Sie schritten voran durch die Berge aus stinkendem Unrat hindurch und ich schleppte mich hinterher. Der Schmerz lauerte und peitschte ungeduldig mit dem Schwanz unter der hauchdünnen Unterdrückungsschicht der Inhibitoren. Doch sie gingen weiter. Nur Jerika wartete auf mich – unter zwei Wellblechen, die ein Dach bildend sich zueinander streckten. Ihre nackten weißen Beine schimmerten in dem ganzen aschegrauen Elend wie zwei Leuchttürme. Sie lächelte und ich wusste, dass mich kein sicherer Hafen erwartete. Ich lehnte mich an etwas Links von mir, es war schmierig und schleimig, doch es kümmerte mich nicht. Ich genoss ihr Gesicht.
»Ah, Mister Schick, auf ein Wort! Protest muss ich sprechen!«
»Protest?« Ich achtete kaum auf ihre Worte.
»Ihr Herrchen ist ganz und gar nicht so charmant und galant wie Sie. Ich wünschte, Sie würden ihn zum Schweigen bringen«, seufzte sie, den roten Schmollmund zu einer Schnute verzogen. Ihre blauen Augen glühten feixend. Natürlich meinte sie das nicht ernst, aber ich wunderte mich trotzdem. Im Gegensatz zu Lucy war sie uns die meiste Zeit schweigend gefolgt und ihr schien diese ganze Sache beinahe Spaß zu machen. Doch so seltsam war es wohl auch wieder nicht, sagte ich mir; viele biedere Hausfrauen brannten irgendwann mit Räubern und Mördern durch, der schlimmste Gegner der Frau war die Langeweile und doch sehnten sie sich nach nichts mehr als Stabilität und Ordnung. Ich zumindest fühlte mich nun nicht in der Lage, den sonderbaren und verqueren Wünschen dieser Lebensform zu entsprechen. Ich zuckte wortlos mit den Schultern.
»Ah, braver Doggie, traut sich nicht gegen Herrchen zu bellen. Wuff wuff! Mach wuff wuff! Ah… das machst du nur gegen böse Monster… Ich mach nur Spaß!« Sie zwinkerte mir zu und in diesem Moment hätte ich Sie nur zu gerne genommen. Aber das ging nicht. Arbeit war Arbeit. Und die anderen befanden sich in Sicht- und Hörweite. So wanderten wir vier Verlorene still und schweigend weiter durch die aufragenden Mülltürme. Dichter Nebel und Dunst umhüllte uns und der Gestank war beinahe nicht auszuhalten. Mir war es zumindest möglich, die Sensitivität meiner Geruchssensoren manuell herunterzuschrauben, was die anderen für eine Hölle durchleben mussten, wollte ich gar nicht wissen. Die Hammerkrag war stets in meiner Hand und meine Augen sonderten die vielen schattigen Winkeln und Ecken ab, die sich in fraktale Dimensionen verzerrten. Und indessen kam das Ungetüm immer näher. Hoch ragte er über unseren Köpfen empor. Ein dräuender Riese im Nebel.
»Unter dem Trichter ist es gefährlich. Der Kran läuft automatisch. Wollen Sie das wirklich tun?«, flüsterte Lucy. Unangenehm laut hallte ihre Stimme von den Bergen aus Müll wider.
»Der Feind versteckt sich, wo er Schutz und Fressen hat. Es gibt keinen besseren Ort für ihn. Wir werden ihn schon bald finden.«
Ich hörte ein Rascheln zu meiner Rechten, etwas Metallisches schepperte und fiel zu Boden. Der Lauf meiner Krag fand hingegen nur Dunkelheit und Leere.
»Sie beobachten uns, Caballero«, flüsterte Decker. Seine monotone Stimme verbarg eine Angst, die selbst Fort Red nicht gekannt hatte. Und wer mochte es ihm verdenken? Nicht der Tod wartete auf uns, falls wir scheiterten und selbst das Schicksal der erstickten und lobotomierten Arbeiter im Raum A7 schien gnädig im Anbetracht dessen, welche Pläne der K/464 für uns sicherlich in diesem Moment nun entwarf. Mutanten waren über alle Maßen rachsüchtig. Sie wollten, bestrafen, quälen und Opfer sein. Ich schoss. Der Schemen verschwand im Nebel und Dunst.
»Spar dir deine Munition. Du wirst sie nicht treffen, solange sie nicht angreifen.«
»Ich habe ihn gestreift. Ich hab Blut gesehen.«
»Bleib hier! Geh nicht dort hinein! Das will er nur, dass du glaubst. Wir dürfen uns nicht ablenken lassen. Weiter! Zum Turm!«
Decker pfiff. Wir marschierten weiter. Zwei Männer und zwei Frauen, vier Narren sicherlich, die ins Totenreich hinabstiegen… um was zu suchen? Ich hatte es vergessen. Ich fühlte nur dumpf pochenden Schmerz, ich roch nur noch Gestank von Müll und Unrat und jede meiner Zellen schrie danach, umzukehren und zu fliehen. Aber Decker trieb uns weiter, der alte Schinder. So befanden wir uns schließlich am Fuße des gigantischen Mülltrichters, gerade verschwand eine weitere Ladung vom Kran im gefräßigen Maul. Ich blickte nach oben. Ein einzelner Regentropfen platschte dabei auf meine Nase. Ich schnupperte nasse Asche in der Luft.
»Was jetzt?«
»Ich weiß nicht.«
»Guter Plan.«
»Sie müssen das hier nicht tun«, sagte Lucy.
»Sie auch nicht.«
»Ich muss auf Sie aufpassen.«
»Ich kann auf mich selbst aufpassen, Miss.«
Wie um meine Worte Lügen zu strafen, schoss der Schatten vom Aschehügel herab. Ein lähmender Schmerz bohrte sich in meine Schulter, als die Kralle des Mutanten tief in meinem Fleisch versank und schließlich das Knochenbein darunter brach. Ich ging zu Boden, die Hammerkrag entglitt meinen urplötzlich tauben Fingern. Mein Kopf war ein leerer Kasten indem jemand nur noch Schmerz gesetzt hatte. So gern ich es auch wollte, mein Körper – trotz aller Modifikationen und schöner neuer Technologie – war am Ende und ich wollte schreien, aber nur ein erbärmliches Stöhnen entkam meinen gesprungenen Lippen, als der massige Körper des Mutanten auf mir kniete. Ich hörte Deckers Beatrice knallen. Der Schatten über meinem Gesicht verschwand im gleißenden Licht, die Dunkelheit musste sich dem blendenden Glanz von Feuer und Hitze beugen. Heiße Asche bestäubte meine Stirn, als der Mutant unter jämmerlichem Kreischen verbrannte. Ein weiterer Schuss hallte von den Bergen und Türmen wieder und wurde erwidert vom Schrei des letzten Mutanten. Sein Körper sackte in die Asche und den Schlamm, direkt neben mir, die kleinen Augen starrten mich an, während der Körper in die andere Richtung blickte. Decker hatte auch Delgado erledigt. Aber so war ich es auch. Ich lag am Boden und Blut strömte aus mir. Strömte und strömte, vermischte sich mit dem Wasser aus den dunklen Wolken und trieb treulos hinweg.
»Mr. Caballero!« Ich wurde herumgerollt. Lucys Antlitz beugte sich über meine fiebrigen Augen. Ja, mit diesem Anblick konnte ich sterben. »Mr. Caballero. Bleiben Sie wach. Warten Sie! Sie haben einen Schock. Ihr Herz rast!« Ich wusste nicht, was sie tat, aber mein grenzdebiles Grinsen, schreckte sie aus irgendeinem Grund nicht ab. Sie hantierte und fingerte herum und legte mir schrecklich kaltes Eisen an meine Brust und ich wurde vom Blitz getroffen.
Ich musste mein Bewusstsein verloren haben, denn als ich wieder wach wurde, war das elfengleiche Gesichtchen Lucys verschwunden und stattdessen starrten mich die tiefen Runzelfalten Deckers an. Ich spürte neuen Schmerz und neue Verbände. Ich versuchte mich aufzusitzen.
»Du siehst beschissen aus«, sagte ich.
»Übertreibs nicht, Caballero, ich hab noch Kugeln für dich übrig.«
Typisch Decker, der alte Killer, er konnte sich über alle lustig machen, aber Späße auf seine Kosten verstand er nicht. Ich lachte und spuckte Blut.
»Beruhige dich, Witzbold. Nur die schlechten Komiker lachen über die eigenen Witze.«
»Das musst du gerade wissen«, erwiderte ich.
»Spaß beiseite. Wir sind wieder am Anfang.«
»Die Mutanten sind erledigt.«
»Der K/464 ist immer noch da draußen.«
»Der alte Feind.« Ich grinste und Decker seufzte.
»Ich wünschte, die Kleine wäre es gewesen. Du musst ja schließlich auch ein mal Herzschmerz erleiden, Caballero. Ist gut für die seelische Gesundheit. Hoffnung ist ein zweischneidiges Schwert. Die Schwachen klammern sich dran, doch wird man einmal enttäuscht, fällt man doppelt so tief.«
»Du bist tot, Decker. Ohne Hoffnung.«
»Und du bist unverbesserlich, Caballero, ich möchte dich ja nur zu deinem Besten demoralisieren, bevor es die Kleine oder sonst wer tut.«
»Wie lange habe ich noch?« Ich hustete erneut. Mein Rachen brannte fürchterlich, offenbar verlor das Antigift in meinen Adern allmählich den Kampf gegen die schwärende und brennende Galle, die die Klauen in mein Fleisch gespritzt hatten. Doch ich war noch nicht bereit aufzugeben. Noch nicht. Noch gelüstete mich der Kampf mit den Mächten dieser Welt. Ich wusste selbst nicht warum. Das Herz galoppierte, geschunden von einem rasenden Reiter, aber es zerbrach nicht. Noch nicht.
»Kommt drauf an. Du hast einiges an Rot verloren. Du brauchst Wartung. Und natürlich das Gift… Ich hab den Overclock-Modus angeschaltet. Das heißt, du wirst wieder stehen können. Fürs erste. Wackelig… aber aufrecht.«
»Mister Caballero… Sie leben. Hey, Sie da, scheuchen Sie sich weg. Er braucht Luft und keinen stinkigen Zigarettenqualm!«
»Da muss ich widersprechen, Miss«, lächelte ich. »Ich könnte jetzt definitiv eine Kubanische brauchen.«
»Sie brauchen Ruhe und sonst nichts. Halten Sie den Mund.«
Bevor sich Lucy in den Dreck setzen musste, zog ich mich nach oben, jede Faser in meinem Körper schrie vor Protest, aber der Overclock-Modus sang mir Arien von Zerstörung und mein Grinsen stimmte ein in den Chorus, der den ehrenwerten Untergang besang.
»Du bist wahnsinnig«, sagte Lucy, aber es scherte mich nicht, denn nun war ich wieder größer als sie und Zornesfalten von oben herab gesehen waren außerordentlich hübsch.
»Wahnsinn ist es, den zersplitterten Spiegel als gebrochen wahrzunehmen. Es sind die Gesunden, die sich der heilen Illusion hingeben. Die Pflicht ruft, Miss Keller. Lucy.«
»Sie müssen das nicht tun! Ich sagte es doch. Ich weigere mich. Ich glaube es nicht…. Ihr Kollege redet wüsten Unsinn, wissen Sie!«
»Was hat denn mein Kollege gesagt?« Ich warf einen Blick zu Decker, dieser hielt aber meinen angeschalteten Augen stand. Es überraschte mich nicht. Er war absolut überzeugt von seiner Meinung über mich und ich konnte es ihm nicht verdenken. Wir hatten sieben Mal zusammengearbeitet. Wir beide waren so gut wie verheiratet.
Und doch hatte er mich gekannt, bevor ich ihn gekannt hatte.
»Mr. Decker sagte, Sie seien gefährlich. Sie wären nichts mehr als ein Bluthund an der Leine und je länger man Sie draußen lässt, desto wahrscheinlicher reißt sie. Er hat mir auch gesagt, dass das… was auch immer man mit Ihnen gemacht hat… unweigerlich zu religiösem Wahnsinn führt und man Sie einschläfern müsste… wie einen Hund.«
»Und?«
»Ich glaube nichts davon.«
»Dann tut es mir Leid, Lucy, ich habe Sie angesteckt.«
»Mr. Schick, meine Lucy ist hell aber auch dumm… Sie weiß es besser, aber ihr Herz schlägt anders… hach… wie soll ich sie nur wieder einfangen.« Jerika lehnte seufzend an Deckers Schulter. Ihre weiße Wange rieb an seinem stoppeligen Bartschatten.
»Der kämpfende Soldat ist Gott näher als der Zivilist, denn Leid und Tod heißen die Pforten zu ihm«, murmelte ich und war gekränkt.
»Mr. Schick, solches Gerede verstößt gegen das Gute-Glauben-Gesetz. Sie wollen doch nicht verhaftet werden, das würde Lucymaus sicherlich das Herz brechen.« Jerika hatte ihre Arme um Decker gelegt und schmiegte sich an seine Brust. Offenbar wurde sie müde, aber sie lächelte mir zu mit ihren weißen Spitzen Zähnen. Das war wohl ihre Rache für Lucy. Doch bevor ich etwas erwidern konnte, schrillte ein derber Schrei durch alle unsere Ohren. Geistesgegenwärtig schraubte ich noch die Sensibilität meiner Hörgänge herunter, doch der schallende Ruf zwang mich trotzdem in die Knie. Die Erde bebte. Und mit ungläubigen Augen sah ich, wie der Mülltrichter, der Riese im Nebel, sich unter Staub und Asche erhob und den massiven Kran wie ein Streichholz hinwegknickte. Wie eine Rakete entleibte er sich von Mutter Erdes anziehendem Hunger und gewann rasch an Höhe. Wir alle starrten mit stummen, vor Ehrfurcht geöffneten Mündern empor, als aus dem schwarzen Zylinder ein heller gleißender Stern über unseren Köpfen wurde, ein Licht, das die Sonne selbst zu überblenden schien. Aber der Stern geruhte nicht, nein, er nahm Kurs auf die zwei Türme und blieb zwischen ihnen stehen. Dort schien er, verlockend und einladend, seine gleißenden Arme uns zur Umarmung ausgestreckt.
»Das Meeting hat endlich einen Konferenzraum, wie es scheint«, sagte Decker und nahm die zierliche Jerika in die Arme, beugte sie nach hinten und küsste sie voller Leidenschaft auf den roten Mund.
»Unser letztes Schlachtfeld«, sagte ich.
»Für heute. Dann haben wir endlich Feierabend«, erwiderte mein Freund.
»Oh, Sie sind hoffentlich nicht böse auf mich, Mister Schick.« Jerikas blaue Augen blitzten auf wie Kristalle im Mondlicht. Sie paffte eine von den Synths – aber eine edlere Marke.
»Madam«, sagte ich. »Warum sollte ich böse auf Sie sein?«
»Ich bin nicht mutig, wie mein süßes Mäuschen. Nein, nein, Mister Schick – große Männer gehen mit schweren Waffen in dunkle Räume, da… ich habe mich lieber versteckt…«
»Sie sind wohl um ein gutes Stück schlauer als ihre Kollegin, das ist alles«, erwiderte ich. »Werden Sie uns ebenfalls weiter begleiten? Ich kann es nicht empfehlen. Wie Sie sicherlich gemerkt haben, ist unsere Gegenwart gefährlich.«
»Ich bin immer da, wo Lucy-Mäuschen ist. Ich bin ihre Vorgesetzte«, insistierte Jerika, als ob dies irgendetwas erklären würde. Der würzige Rauch der Synth gemischt mit einer Note ihres Parfüms stieg in meine Nase. »Ich kann sie nicht mit Männern wie ihnen alleine lassen. Nein, ganz bestimmt nicht.«
»Das ist ihre Pflicht.« Ich nickte und Jerika nahm die schluchzende Lucy erneut in ihre Arme. Sie tätschelte ihre Schulter und streichelte durch das rote Haar. Ein gehauchter Kuss auf eine glühend heiße Stirn – ich fragte mich zum zweiten Mal in dieser Nacht, ob diese beiden Frauen etwas zu drehen oder zu wenden hatten oder ob es sich dabei nur um die typische Hand-basierte Zärtlichkeit zwischen diesem Geschlecht handelte, auf die wir Männer manchmal neidvoll blickten. »Alles ist gut, Lucy-Maus. Alles ist gut. Alles… gut. Tut dein Magen immer noch weh?«
»Caballero, lass das Weib stehen und komm hier rüber.«
»Jawohl, Sir.«
Ich schritt hastig zu Decker. Dieser musterte gerade stirnrunzelnd den Korridor, der tiefer in die Büroanlage führte. Graue Böden, weiße Wände, graue Türen und ein subtil flimmerndes Licht. Was mochte uns noch erwarten? Die Umgebung war so nichtssagend, dass ich beinahe das Gefühl hatte, sie schwieg mit voller Absicht und wollte uns nichts verraten.
»Wir müssen da rein.«
»Jawohl, Caballero, was für ein scharfes Köpfchen du doch hast… wenn du nicht gerade einem gewissen fetten Wackelarsch hinterher starrst.«
»Ich bin voll einsatzbereit«, insistierte ich über die Gehirnrinde.
»Wie oft haben wir mittlerweile zusammengearbeitet? Vier Mal, fünf Mal?«
»Sieben Male«, sagte ich.
»Der Punkt ist: Ich kenne dich. Du starrst, Caballero, daran ist nicht´s böses, mach ich auch, bin ja auch ein Mann und die Behörde ist kein Mönchskonvent, verstehste? Aber das hier… das ist etwas anderes.«
»Ich bin nicht kompromittiert, falls Sie das meinen, Sir.«
»Genau dasselbe hörte ich auch in Fort Red. Nicht von dir… aber der selbe Blick, verstehste?«
Ich erwiderte nichts. Für eine Weile blickten wir den stickigen Korridor entlang: das Licht flackerte müde an und aus und wieder an. Der Morsecode schien uns in die Dunkelheit locken zu wollen. Ich dachte nach: Es waren letztlich nicht die Laute, die Wörter und Sätze ergaben, sondern die Pausen dazwischen. Was war also die Dunkelheit denn mehr als eine Pause zwischen Licht und Licht? Decker hatte Recht. Ich war kompromittiert – infiziert, das Schlimmste, was einem im Einsatz passieren konnte. Man mochte sich für immun halten – ich hatte es wie alle Agenten auch getan – bis es dennoch einen traf und man vollkommen wehrlos war gegenüber diesem Lächeln, der schmelzenden Stimme und selbst ihr Parfüm schien sich wie ein Leichentuch über die ganze Welt zu liegen, sodass man nur noch mit allen Sinnen Sie wahrnehmen konnte. Ich seufzte. Das durfte mir nicht passieren.
Ich hatte den Abschlussbericht von Fort Red gelesen – auch sie war eine Butcherin gewesen und er zum Verräter geworden. Mein Herz aus Blut und Fleisch hatten sie im Rahmen der Majestifizierung herausgerissen – nun hatte ich eines aus Stein. Ich sollte auch so handeln. Ich war ein Bluthund auf der Jagd, kein streunender Köter auf der Suche nach einer läufigen Hündin. Decker klopfte mir auf die Schulter.
»Das ist die richtige Einstellung, Caballero. Es gibt Arbeit zu erledigen und wir Armen schließlich kennen keinen Feierabend.« Er lachte trocken seine Spinnweben von der Kehle.
»Meine Herren!«, erklang von hinten die helle und doch so kraftvolle Stimme Lucys. Wir drehten uns beinahe synchron um. Decker hatte das Glück, dass das schummrige Licht im Gang seine weiten Pupillen verdeckte, aber ich mit meinen angeschalteten Augen hatte nicht das selbe Privileg. Der Trieb war der Trieb und selbst in diesem Krieg kann der Mann nichts anderes tun, als dem weh zu tun, was er liebt. Doch Lucys strenges Antlitz verriet nichts von ihrer weiblichen Schwäche. Nur ihre leicht geröteten Augen bewiesen, dass das Vorgefallene nicht spurlos an ihr vorübergegangen war und dass ich mir ihre Tränen nicht eingebildet hatte – ähnlich wie man an der Öffnung einer ausgeschütteten Vase noch den duftenden Inhalt riechen konnte. »Meine Herren, ich werde Sie nun zur hinteren Verbrenneranlage führen. Wir müssen dafür um den Bunker und den Kessel außen herumgehen. Das ist sicherlich sicherer.«
Decker nickte. »Wie Sie wollen, Missy, aber ich muss Sie – um meines guten Gewissen Willen – noch einmal darauf hinweisen, dass Sie hier Ihr Leben auf´s Spiel setzen. Vielleicht mehr als das.«
»Sie jagen einen bösen Mann, das weiß ich«, sie nickte entschlossen. »Aber auch ich muss zu dem stehen, was ich sagte: Ich kann nicht zulassen, dass noch mehr Menschen hier heute Nacht ein Leid geschieht.«
»Genau deshalb sind wir hier«, log ich ihr schamlos ins hübsche Gesicht.
»Dann will ich Sie beide mit voller Kraft unterstützen.« Sie deutete nach vorn. »Wir müssen diesem Korridor folgen. Erste Abbiegung rechts. Nächste Links. Dann sind wir an der Ostseite der Mülltrennung.«
Jerika ergriff die zitternde Hand, als wir losgingen. Da ich nun keinen Grund mehr hatte, die Hammerkrag zu verbergen, nahm ich sie hervor und schritt voran, während Decker sich nach hinten fallen ließ. Er wollte wohl die Mädchen und mich im Auge behalten. Ich war hingegen nur froh, dass Lucy das tat, was sie vorher versprochen hatte und sich brav hinter meinem Rücken versteckt hielt. Fünf Arbeiter waren tot. Schlimmeres mochte hier lauern. Meine angeschalteten Augen wichen nicht vom Weg ab.
Das Bürogebäude vor der Verbrenneranlage erwies sich indessen als ein wahres Labyrinth aus eintönig grauen Gängen und verwaisten Büros. Hätten wir Lucys Führung nicht gehabt, so musste ich zugeben, wären wir schnell in die Irre gekommen. Und je länger wir unterwegs waren, desto schwerer schlug die Stille und Einsamkeit der nächtlichen Schicht auf das Gemüt. Nur die Töne und das Fiepen schwerer Bildschirme drang aus den Büros und das eintönige Summen der Frischluftversorgung wummerte hypnotisch über unseren Köpfen.
»Während der Frühschicht sind eigentlich alle Büroangestellten in den zwei Türmen… so nennen wir… ehm… die beiden Bürogebäude am Eingang, wissen Sie? Aber an der Verbrennungsanlage müsste eigentlich stets eine Rumpfcrew von sechs Kollegen sein. Die Anlage darf niemals stillstehen, müssen Sie wissen«, erläuterte Lucy zu keinem Bestimmten.
»Was verbrennen Sie hier eigentlich?«
»Restmüll natürlich. Also Asche, Keramik, benutzte Alufolie und Hygiene-Artikel und Hinterlassenschaften von Klontieren vornehmlich.«
»Das ist alles?«
Decker lachte. »Sicher! Gibt nichts sauberes als eine Müllverbrennungsanlage im Slum.«
»Mister Decker, ich verbitte mir solche Anschuldigungen!«
»Sagen Sie, was Sie wollen, Missy, aber es gibt einen Grund, warum wir heute Nacht ausgerechnet hier – in ihrem geschätzten Establishment – den Kammerjäger spielen müssen. Gewalt lockt Gewalt an und Lügen folgen immer Lügen.«
»Der Teufel geht hier um, da stimme ich meinen Kollegen zu«, sagte ich und sicherte den nächsten Korridor ab. »Wir sorgen dafür, dass Gott heute Nacht das letzte Wort behält.«
»Mr. Schick, Sie wissen doch, dass Nennung von religiösen Artefakten durch das Gute-Glauben-Gesetz strickt verboten ist! Oh je, noch einmal so ein Fauxpas und ich muss die Behörden verständigen!« Jerikas rauchige Stimme streichelte meinen Nacken. Ich drehte mich nicht um. »Den Teufel mag es geben – man weiß es nicht – aber Gott fällt nur durch seine Abwesenheit auf. Oder sind sie etwa schlauer als selbst die Großen Vordenker?«
»Den Teufel gibt es, Miss – und ich glaube, niemand, der dem tatsächlich Bösen jemals gegenübergestanden ist, wird dies verleugnen. Ich selbst habe den Teufel gesehen. Und wenn es den Teufel gibt, dann muss auch Gott sein. Eine ätzende Säure greift gewisse Güter und Materialien an, doch sie löst sich nicht selbst auf. Also muss es einen Unterschied zwischen Säure und Nicht-Säure geben – zwischen dem was angreift und zersetzt und dem was einfach ist. Man kann über vieles streiten Miss, aber die Existenz von Teufel und Gott sind so sicher, wie Sonnenaufgang und Sonnenuntergang.«
»Ruhe jetzt«, bellte Decker. »Wir sind hier nicht im Erstsemester Philosophie. Augen nach vorn und weiter!«
»Und halt gefälligst dein blödes Maul«, funkte er noch über die Hirnrinde hinterher.
Ein Schatten war urplötzlich über mich gekommen.
Sie hatten uns aus den Lüftungsschächten angegriffen – das begriff ich noch wie betäubt und mein Gehirn von einem gleißenden Blitz umnebelt. Ein Spitzer Schrei – ich glaubte Lucys – hallte in meinen Ohren wider und riss mich aus der Schockstarre, bevor der Schatten und die Dunkelheit mich vollends umfassen konnten.
Ein heftiger Schlag traf meinen Rücken und schleuderte mich nach vorn.
»Runter!« Deckers Beatrice knallte und ein Lichtblitz erhellte den Gang und in diesem Licht sah ich sie zum ersten Mal. Es waren die vier Schichtarbeiter. Sie hatten ihre Särge verlassen und waren uns gefolgt.
Sie kletterten an den Wänden und schlängelten sich an der Decke – was man ihren Körpern angetan hat, davon kündeten als treue Boten die zur wilden Agonie verzerrten Augen. Ich presste mich vom Boden ab, sprang empor und betätigte den Abzug. Einer der mutierten Freaks fiel zu Boden, sein Mund formte grässliche Schreie, während der Körper in grellen Farben verbrannte. Er knirschte mit den Zähnen und heulte und konnte doch nichts tun. Er hätte in seinem Sarg bleiben sollen, doch falsche Versprechungen hatten ihn hervorgelockt und so erlitt er den schlimmsten aller Tode, den zweiten Tod.
Meine Hammerkrag knallte noch zwei weitere Male, einer fiel zu Boden. Doch da hatte der nächste mich erreicht, er packte mich und gegen die Macht eines wütenden Mutanten war selbst der majestifizierte Körper nicht gefeit. Er rang mich zu Boden, der Vierte kroch an der Decke hinweg – in meiner Panik dachte ich, er hätte es auf Lucy abgesehen. Ich hörte Decker irgendetwas rufen und brüllen. Doch ich hatte meine eigenen Probleme zu lösen. Ich hob meine Ellbogen und versuchte zumindest mein Gesicht vor den Fäusten und Krallen und Zähnen der Mutierten zu schützen. Jede einzelne Sekunde prasselten auf meinen Armen und meine Brust Schläge von einer Wucht nieder, die selbst der Stoizismus von Stahl nicht hätte ignorieren können. Und es wäre wohl aus mit mir gewesen, wenn Decker nicht den Freak mit einem einzigen sauberen Schuss geköpft hätte. Hitze, die direkt aus einem Schmelzofen zu kommen schien, schlug mich für einen Moment nieder und der Mutant der auf meiner Brust kniete, verging im jämmerlichsten Geheul, das ich jemals gehört hatte. Doch schließlich hatte ich genug Freiheit. Ich trat den brennenden Menschen mit meinem Stiefel in den Magen, rollte mich herum, packte meine Hammerkrag und schoss. Und der Freak verstummte.
Der Kampf war vorüber. Nur rauchende Aschehäufchen und bestialischer Gestank von verbranntem Fleisch und Knochen kündeten von dem schrecklichen Überfall. Irgendwo hinter mir hörte ich Lucy schluchzen.
»Alles in Ordnung bei euch?«, fragte ich und bereute es sofort. Meine Brust fühlte sich an, als hätte ein übereifriger Arbeiter eine Wellblechplatte mit einem Stahlhammer bearbeitet, was irgendwie auch der Wahrheit entsprach. Ich zog mich an der Wand hoch.
»Ging mir nie besser, als ob ich direkt ausm Wellness-Urlaub komme«, brummte Decker. »Zwei von diesen Scheißkerlen sind davongekommen.«
»Meinst du, der K/464 war darunter?«
»Nein. Die Gesichter kannte ich alle.« Ich hörte eine dumpfe Erschütterung. Decker betrachtete verwirrt seine Hand, als müsste er erst entscheiden, ob er den Schmerz und den harten Widerstand der Wand verspürt hatte. »Verdammich, Caballero, du hast geschafft, was ich nicht konnte. Dein blödsinniges Geschwafel hat unseren gemeinsamen Freund zur Weißglut gebracht.«
»Es war kein überlegter Überfall«, stimmte ich ihm zu. Ich fingerte nach einer Zigarette.
»Kein überlegter Überfall, sagt er…«, Decker stieß Luft durch die Nase aus. Es hörte sich an, als würde der Staub und Nikotinabsatz von Äonen aus seiner Kehle hinausbefördert. »Das war ein Verzweiflungsangriff – das Zähnefletschen eines in die die Ecke gedrängten Tieres! Er ist offenbar in der Nähe, dieser verdammte Reject. Mit irgendetwas scheinen wir ihm Angst gemacht zu haben. Wir müssen jetzt schnell weiter! Den Druck nicht nachlassen. Dann begeht er wieder einen Fehler… seinen letzten Fehler…«
Ich gab auf, zu suchen. Ich glaube, ich hatte meine letzte Synth in Jerikas roten Mund geschoben. Eine Ewigkeit schien es her zu sein. Oder hatte ich zwischendurch doch noch eine geraucht?
»Beruhige dich, Mäuschen. Die Männer haben sie verjagt«, hörte ich ihre Stimme nun – ein schmelzender Gletscher, dessen Wasser sich über meine Seele ergoss. Sie kniete und streichelte über Lucys bleiche Wangen, die ohne die zahlreichen Sommersprossen wohl so weiß wie Schnee gewesen wären. Zu meiner Erleichterung schienen beide unverletzt zu sein.
»Was… was ist mit ihnen? Was… was ist passiert. Warum schreien sie so? Warum… Was passiert nur mit uns? Oh mein…Magen tut so weh. Ich glaube…« Lucys Stimme brach. Sie riss sich an ihren Haaren.
»Miss Keller, Sie sind unter Schock. Ich werde Sie zurückbringen.«
»Caballero! Aus!«
»Nein… nein… das geht nicht. Noch nicht. Ich… ich kann das nicht… Ich muss es rauskriegen! Oh, Sie dürfen nicht gehen. Sie brauchen Hilfe.« Lucy hob ruckartig ihren Kopf, ihre geröteten Augen blitzten mich an. »Sie… ich darf Sie nicht alleine… Sie verirren sich… ohne mich.«
»Wir finden den Weg auch alleine – In diesem Zustand ist sie nur Ballast für uns. Ich werde Miss Lucy nun aus diesem Gebäude geleiten. Wir haben sie genug Gefahren ausgesetzt, das war schrecklich unverantwortlich von uns gewesen.«
»Sie kann den Weg zurück selbst finden. Wir dürfen jetzt nicht nachlassen, Caballero! Dein Teufel ist auf dem Rückzug. Gute Arbeit!«
»Er nimmt nur Anlauf«, erwiderte ich. »Und außerdem, sie ist unter Schock. Sie wird in diesem Zustandnicht den Weg zurückfinden. Nein, ich kann sie nicht alleine gehen lassen. Nicht mit einem frei herumlaufenden K/464und seinen Horden.«
»Der hat´s auf uns abgesehen, Caballero. Wenn sie ihre hübschen Beinchen in die Hand nimmt, wird sie´s schon machen.«
»Ich werde Lucy zurückbegleiten. Ich bin ihre Vorgesetzte.« Jerika erhob sich. Sie verschränkte ihre Arme und verbarg ihren Busen, die stahlblauen Augen musterten uns fordernd. »Sie gehört mir… zu.«
Decker seufzte geschlagen.
»Ach, verdammich. Weiber im Job bringen immer Unglück. Ich wusste es.« Seine Hand fuhr durch das verschwitzte schüttere Resthaar. »Ich begleite die gnädige Mademoiselle vor die Tür«, sprach er schließlich. »Du, Caballero, sicherst derweil die Umgebung. Aber beweg dich nicht zu weit. Wir haben den Feind erschreckt – nicht seine Moral gebrochen.« Ich nickte.
Und zu meiner Erleichterung wehrte sich Lucy nicht, als Jerika sie an der Hand nahm und behutsam den Weg zurück führte. Missmutig stampfte Decker ihnen hinterher.
Ich hatte meine eigenen Gedanken, aber ich tat wie mir geheißen. Ich war der Bluthund, aber ich war nicht der Jäger. Ich war kompromittiert, aber ich tat mein Bestes, meine Aufgabe zu erfüllen.
Als erstes überprüfte ich die näheren Lüftungsschächte – nichts außer Kratzer und Staub, danach blickte ich in die verschiedenen Räume zu beiden Seiten und kundschaftete den Korridor weiter nach vorne aus, doch die Spur der mutierten Freaks verlor sich ins Leere. Sie hatten sich wohl in das Innere der Verbrennung zurückgezogen, vermutete ich. Dort gab es Verstecke und viele schattige Winkel zwischen den stählernen Eingeweiden der Anlage. Meine Hammerkrag senkte ich trotzdem keine Sekunde auch nur einen Millimeter. Der Angriff war zu leicht zurückgeschlagen worden, dachte ich. Ich war nicht so optimistisch wie mein Vorgesetzter, was mich verwunderte, denn normalerweise war das andersherum. Für mich stank hier alles nach einer Falle. Was machte Decker so rastlos? Doch was auch immer in den nächsten Stunden passierten mochte, ehe diese Nacht vorüber war, würde uns ein weiterer blutiger Kampf bevorstehen. Das war sicherer als der nächste Sonnenaufgang. Es war besser, dass die Frauen uns nun verließen, auch wenn dies unseren Weg und unsere weitere Suche erheblich erschweren würde.
Ein Geräusch weckte plötzlich meine Aufmerksamkeit. Meine scharfen Ohren vernahmen das Rascheln von Blättern – irgendwo in der Nähe – doch es gab hier drinnen keinen Wind. Ich öffnete die Tür zu meiner Rechten. Ein verwaistes Büro lag vor meinen Augen: aufgeschlagene Akten und Blätter lagen auf dem Tisch wirr hin und her verstreut, der eingeschaltete Rechner summte vor sich hin. Die Schränke enthüllten nichts besonderes. Hier hatte kurz zuvor noch jemand gearbeitet, ob ich diesen jemand auch kurz zuvor mit der Hammerkrag erwischt hatte, wusste ich nicht. Da ich nichts Verdächtiges vorfand, schloss ich die Türe wieder und hatte das Gefühl, als würde ich eine Gruft versiegeln. Oder hatte ich mich in ihr eingesperrt?
Der öde nichtssagende Korridor lag wieder so vor mir wie zuvor – ehe ich die Klinke ergriffen und die Tür geöffnet hatte und doch war alles anders. Der gleiche vergilbte Putz, die gleichen Türen und der gleiche ausgetretene Teppich – über die Jahre hinweg von vielen schmutzigen Stiefeln versaut. Aber es war etwas gekippt. Das wusste ich sogleich. Ich befand mich nun woanders. Es war, als ob die ganze Welt um wenige Grade anders stand als noch wenige Momente früher – wie ein Uhrzeiger der ruckartig nach vorne gesprungen war. Der Gang erstreckte sich also wie zuvor, doch am Ende dieses langen weißen Tunnels hörte ich nun Maschinen schnaufen und das Zischen von Dampf und das Knistern von Feuer. Ich musste irgendwie näher an die Verbrennung rangekommen sein, sagte ich mir, um meinen Verstand zu schützen.
Ich blickte mich um. Weder Decker, noch Lucy noch die schwarzhaarige Schönheit waren irgendwo zu sehen und ich wagte es nicht, zu rufen. Ich hätte es auch nicht gekonnt. Ich war urplötzlich stumm wie in jenen Albträumen, in denen man aus ganzer Kraft Schreien wollte, aber keine Stimme fand. Wie war ich nur in die Höhle des Löwen geraten? Keine Zeit zu fragen und lange nachzudenken. Mit der Krag im Anschlag schritt ich voran. Das silberne Metall leuchtete in der flackernden Düsternis.
Es stiegen mir nun Gerüche in die Nase, die wenig erbaulich waren: ich roch verbrannte Federn, faulendes Fleisch und beißend brennenden Gummi und die Atemluft selbst schien urplötzlich ätzend zu sein. Ich musste husten. Aber ich wagte es trotz allem weiter voranzudringen. Was auch immer der Feind mit mir gemacht hatte, Zögern und Angst würden ihm nur nützen, so entschloss ich mich trotz der lähmenden Furcht weiterzugehen. Hitze und Gestank schlugen mir dabei wie wütende Fäuste entgegen. Ich war ganz nahe. Die Falle musste nun jeden Moment zuschlagen. Ich wischte mir den schweren Schweißfilm von der Stirn. Und dann erreichte ich das Ende des Korridors und beinahe wäre ich gefallen, aber meine Hände umfassten gerade noch die Reling.
In der Ferne sah ich die gigantische Silhouette des Trichters im Dunst und Nebel verschwinden. Der massive Kranarm schwankte darüber im Wind sachte hin und her, wie ein Betrunkener der seine Schritte suchte. Eine urplötzliche Neugierde übermannte mich, denn ich war ein Mann, so beugte ich mich über die rostige Reling und blickte hinab in das Meer aus Müll und meine Augen verloren sich für eine Zeit in das, was der Mensch dem Feuer überantwortet hatte. Ich sah nichts konkretes, nur Schemen und Formen und Farben und der Gestank war fürchterlich und doch erfüllte mich eine seltsame Art von Traurigkeit. Es war, als ob ich mein eigenes Grab sehen würde. Der Müllbunker erstreckte sich vor mir.
»Brav bist du gefolgt, Hund.«
Ich drehte mich um. Einer der mutierten Arbeiter stand vor mir, sein Mund triefte von Blut, die Augen gelb wie die meinen und seine zum Elfenbein-Dolch geschnitzten Finger zeigten auf mich. Er versperrte mir den Weg zurück.
»Ich gehe dahin, wohin man mich schickt. Das ist alles.«
»Das Band um deinen Hals erfüllt dich mit Stolz. Du bist ein Sklave.« Die kehlige Stimme erstickte beinahe an Abscheu und Verachtung. Ich lächelte und das Lächeln schmolz zu einem schmerzenden Grinsen.
»So ist´s.« Ich nickte und zielte mit dem silbernen Lauf auf ihn. Ich fragte mich, wieso er nicht angriff. Die eigenartig feuchte Hitze dampfte um uns herum, benässte meine trockenen Lippen. »Wir beide dienen – nur unterschiedlichen Herren wie es scheint.«
»Nichts verbindet uns. Rein gar nichts. Ich bin frei. Endlich frei. Ich kann tun, was ich will. Das ist Freiheit.«
»Kannst du das nicht tun, was du tun willst?«
Ich sah den Glanz in den mutierten gelben Augen. Ich sah das Zögern. Etwas war noch da von dem einstmaligen Menschen, ein letzter Überrest des Verstandes, den die Nadel durch das Auge nicht hatte penetrieren können. Und dieser letzte klägliche Rest schien mir etwas sagen zu wollen, hatte ich das Gefühl: Der Mutant wischte sich über das Gesicht, als ob er die Hitze so spüren würde wie ich:
»Ich… will… dich töten. Gnade!…«
Mit unmenschlicher Geschwindigkeit schnellte der Mutant auf mich zu. Ein gewöhnlicher Mensch hätte bei diesem Angriff all seine Eingeweide den gierigen Klauen abgeben müssen, doch ich war so abnormal wie mein Feind. Ich betätigte den Abzug noch in dem Moment, als sich seine Knie beugten. Der Knall hallte durch den weiten Raum. Der leblose Körper schnellte aber von der massiven Kugel ungebremst auf mich zu und beinahe wäre ich mit ihm über die Reling in die Tiefe getaummelt. Mir gelang es, den Schwung und die Wucht des fleischlichen Projektils weiterzuleiten, indem ich mich blitzschnell zur Seite drehte. Der durchlöcherte Leichnam musste ohne mich seinen Weg hinab nehmen – in die vergessene Finsternis, dort wo das schönste unter all den schönen Dingen schlief, die der Mensch schuf, den es war gebraucht worden. Und im letzten Moment, bevor der Leib im Nebel verschwand, sah ich wie das Gelb aus den Augen verblasste.
Ich keuchte. Ich entfernte die leere Hülse und lud eine neue Kugel in die Krag. Das war viel zu knapp gewesen, dachte ich, als ich auf meine zitternden Hände blickte. Noch war die Sonne nicht aufgegangen und ein erneutes Mal war ich auf Messers Schneide dem Tod entronnen.
Ein Brennen durchzuckte urplötzlich meine rechte Wange. Die Kugel fiel mir aus den Händen und klimperte metallisch auf dem rostigen Boden. Ich strich mit meinem Finger über die schmerzende Stelle. Eine Wunde war von den schneeweißen Elfenbein-Klauen des Mutanten geschürft worden. Sie war nicht tief, aber sie blutete und blutete und blutete.
»Verdammter Butcher«, knurrte ich. Der Schmerz dröhnte nun voller Empörung und hörbar protestierend gegen meine eingebauten Inhibitoren, ein normaler Bürger wäre wohl konvulsierend in ein Häufchen Elend zusammengesunken, doch ich schaffte es irgendwie, auf den Knien zu bleiben.
»Caballero, mein Junge, da hast du dich versteckt.« Decker trat durch die Tür, seiner massigen Gestalt folgten zu meiner großen Verwunderung die beiden Damen. »Und du lebst sogar noch. Schön. Steh auf! Der Feierabend liegt noch in weiter ferne.«
»Du… solltest… sie doch zurückbringen. Die Frauen gehören nicht hierher…« Ich knirschte mit den Zähnen. Der Schmerz nahm nicht ab, nein, er wurde immer stärker, immer drängender, ein kleiner Bruder, der nach Aufmerksamkeit quengelte. Decker zuckte mit den Schultern.
»Du kannst dich bei der Missy bedanken. Sie hat sich doch´s anders überlegt und ich hatte keine Zeit zum Diskutieren. Du weißt ja, wie die Weiber sind, Caballero… Nun ja, du weißt es nicht, aber ich weiß es und glaub mir, ich hab in so etwas Erfahrung. Bin immerhin noch verheiratet. Also, steh auf, Faulpelz, oder willst du ewig am Boden bleiben und herumheulen wie ein kleines Mädchen?«
»Mister Decker, sehen sie denn nicht, dass Ihr Kollege verletzt ist?« Lucy, die wunderschöne Lucy – ein zorniger Engel – stürmte an Decker vorbei und kniete sich zu mir herab. Funken schlugen in der Ferne – gleißende Flügel in der Nacht. »Mr. Caballero, sie bluten fürchterlich. Warten Sie, ich habe immer ein Arztpad bei mir… Wo habe ich es denn nur…«
»Missy, mein Kollege ist… ein Mann. Der ist weniger wert als ein Hund. Verschwenden Sie doch nicht ihre hübschen Finger an dem… Der wird schon von alleine wieder, keine Sorge. Kommen Sie lieber wieder zu mir und wir können weitermachen.«
»Mister Decker, ich gebe zu, ich bin eine Frau und verstehe nicht viel von den Dingen, die sie tun müssen, doch ich verstehe auch, dass sie gerade der einzige Mann im Raum sind, der uns beschützen kann. Also gehen Sie, schauen Sie, dass sich nicht noch ein böser Mann im Schatten versteckt, sodass ich Ihren Kollegen in Ruhe verarzten kann. Ein verletzter Hund wird wohl auch nicht ihre Schafe hüten, oder?«
Lucys haselnussbraune Augen funkelten wütend und das Gleißen darin überstrahlte das Zittern und die Furcht in ihren Händen. Und zu meiner Verblüffung tat Decker wie ihm geheißen. Wortlos drehte er sich um und ging hinaus. Jerika folgte ihm. Das hatte ich noch nie zuvor gesehen.
»Der K/464 laugt uns mit seiner Row Zero aus… uns läuft die Zeit davon«, funkte Decker über die Nervschaltung.
Die spitze Nase Lucys und ihre funkelnden Augen schoben sich in mein Sichtfeld, so vergaß ich das Mosern meines Kollegen. Ihre geschickten Finger sprühten Siegelgel auf meine Wunde. Es brannte fürchterlich, aber ich versuchte den Schmerz mit einem Lächeln zu überdecken, was aber letztlich wohl herauskam war eine Grimasse, die Lucy zwang, ihre Augen abzuwenden, während sie die Wunde reinigte und versiegelte. Danach kramte sie aus ihrem Arztkit eine Spritze hervor.
»Ich hab Angst vor diesen Dingern«, sagte ich. Sie rammte mir die Nadel in den linken Arm.
»Ich denke, das hilft gegen das Gift in ihren Adern. Es sollte zumindest die Schmerzen lindern und das Schlimmste verhindern.«
Das Gegengift brannte fast so schlimm, wie das eigentliche Verderben in meinem Blut.
Ich weiß nicht, ob es ihre missbilligende Miene war, die ehrliche Sorge und vielleicht so etwas wie Zuneigung verhüllte, oder das seltsam vertraute Parfüm, das in meiner Nase selbst den Geruch von Blut und Müll überlagerte; aber irgendwie erinnerte mich diese wundersame Erscheinung an eine gewisse Begebenheit in meiner Kindheit. Ein heulender Junge in den Armen seiner schimpfenden Mutter. Ich lag mit dem Rücken an der Reling und ließ wortlos ihre Prozedur über mich ergehen, denn es war doch manchmal schön, einfach so behandelt zu werden, anstatt handeln zu müssen.
»Mister Caballero, die Blutung ist gestoppt und die Wunde gereinigt. Ich hoffe, es entzündet sich nicht. Ich hoffe auch, dass das Gegengift wirkt… Es ist nur ein universales Mittel und kein spezifisches… Wer weiß, was dieser… böse Mensch ihnen verabreicht hat – .«
»Sie machen so viel Aufriss. Und das für jemanden, der heute Nacht vielleicht sterben wird.« Ich genoss es, dass Lucys Miene noch zorniger wurde.
»Wissen Sie was? Ihr Kollege hat Recht, Mister Caballero, Sie heulen wirklich zu viel. Ich bin eine ausgebildete medizinische Assistentin. Misstrauen Sie meiner Kunst?«
»Ich meine nicht das…« Ich hustete und Blut und von Gift getränkter Schleim spritzte auf mein Hemd und meine Hose. Lucy wandte sich nicht ab. Sie konnte den grässlichen Anblick meiner angeschalteten Augen überraschend lange ertragen. Sie saß vor mir auf ihrem Hintern nun und hatte die Hände um ihre Knie geschlungen. Doch sie blickte dabei unverwandt in mein Antlitz. »Es ist eine wilde Jagd heute Nacht, Miss Keller. Und Ich bin ein Jagdhund, verstehen Sie? Solange ich das Raubtier nicht gestellt habe, solange vergönnt man mir keine Ruhe…«
»Herr… Caballero, Sie sind kein Hund.« Sie nahm mit ihren zarten Fingern meinen Kopf in ihre Hände – als wäre es ihr Spielball oder ihre Vase.
»Spürst du denn nicht das Metall unter der Haut?«
Sie legte ihr Ohr an meine Brust.
»Ich spüre da ein Herz schlagen. Ein Herz aus Fleisch und Blut und nicht aus Stein. Also müssen Sie ein Mensch sein.«
»Caballero… Miss… Keller.« Ich dachte, Lucy würde sofort aufspringen, als hätte Decker uns wie ein Teenager-Pärchen beim Knutschen erwischt. Doch sie blieb auf mir sitzen und nahm mein Kinn in ihre Rechte. Sie sagte nichts und ich wusste nichts zu sagen. Das funkeln ihrer grünen Augen wirkte beinahe hypnotisch auf meinen Verstand und schien den Schmerz zumindest für eine Weile zu betäuben – mehr als das Gegengift.
»Das ist nicht die feine englische Art, Caballero, ihr beiden seit noch nicht einmal verheiratet«, schrillte meine Gehirnrinde auf und die grimmig amüsierte Stimme Deckers dröhnte schwer auf meinem Gewissen, obwohl ich gar nichts wirklich getan hatte, außer in meinen fiebrigen Gedanken vielleicht.
»Hast du was herausgefunden?«
»Ja, ich denke, ich weiß jetzt, wo sich unser Freund versteckt hält.«
»Wo?« Der Schmerz Lucys floss von dem süßen Blick auf mich.
»Ich hab nachgedacht. Der K/464 – so sagen die Weißkittel und Eierköpfe zumindest – ist letztlich nichts mehr als ein Magen-Darm-Parasit.«
»Ähnliches sagen auch die Sonntags-Metzger«, erwiderte ich.
»Und wir sind nun ganz nah am Scheidepunkt, Caballero, zwischen Magen und Darm der Menschheit. Sozusagen. Verstehste?«
Mein Blick riss sich endlich von Lucys glitzernden Augen los und verfing sich stattdessen am Mülltrichter. Die massive zylindrische Gestalt ragte wie ein ferner Riese im Nebel auf, ein Riese mit einem weit aufgesperrten Maul, das beständig vom Greifhaken des Krans gefüttert wurde. Ein drohender Schatten auf dem Reich des Vergessens. Ich blickte zu Decker. In meinen Augen muss wohl der Unglaube gestanden haben.
Ich hörte ein heftiges Rumpeln, das Splittern von Glas. Etwas weiches fiel auf etwas hartes und ich meinte für einen Moment ein Stöhnen und Seufzen zu vernehmen, das dumpf durch das dünne Holz drang – ich wusste nicht ob Mann oder Frau. Ich wartete nicht auf Deckers Befehl.
Mein Fuß trat mit voller Wucht unter das Schloss und unter krachendem Getöse brach die Tür aus den Angeln. Mit der Waffe voran drang ich in den Raum dahinter. Ich sicherte die linke Seite, dann die Rechte. Meine angeschalteten Augen hatten sich bereits an die Schwärze gewöhnt. Es war niemand zu sehen – nur verwaiste Bänke und leere Stühle. An der Küchenzeile zu meiner Rechten floss ein Kaffee grummelnd langsam in die Kanne. Das war sicherlich nicht Lucy gewesen. Jemand anderes musste noch vor einem Augenblick hier gewesen sein.
Doch weder dieser jemand noch die hübsche rothaarige Assistentin waren zu sehen, meine angeschalteten Augen durchleuchteten den kleinen Pausenraum aufmerksam, auch die Decke und den Boden unter den Tischen scannte mein wacher Blick. Ich entdeckte absolut gar nichts – nicht einmal die Spuren eines Kampfes oder hastigen Verschwindens.
So nahm ich die nächste Tür zu meiner Linken ins Visier. Ich vermutete, dass dahinter sich der eigentliche Wiederherstellungsraum befand, während dies hier nur das Pausenzimmer für die Schicht darstellte. Ich zögerte nicht. Ich verließ mich darauf, dass Decker irgendwo hinter mir schon auf sich und Jerika aufpassen würde.
Mit raschen Schritten und die Hammerkrag nach vorne gerichtet, navigierte ich so lautlos wie eine Löwin auf der Jagd durch die Tische und Stühle hindurch – trotz der absoluten Dunkelheit. Ich blieb stehen. Meine scharf gespitzten Ohren vernahmen plötzlich erneut etwas, was wie ein Stöhnen klang. Ich wusste immer noch nicht, ob Mann oder Frau, ob Schmerz oder Genuss. Die Stimme kam unter mir, doch dies konnte nicht sein.
Schweißperlen glitten über die künstliche Membran. Ich zitterte aber nicht. Ruhig und beständig, wie ein Panzer mit Geschützstabilisierung, näherte sich der silberne Lauf der Krag der geschlossenen Türe. Ein wahrer Cocktail von Fremdchemikalien strömten durch den majestifizierten Körper, sorgten dafür, dass meine Präzision selbst in der beinahe absoluten Schwärze des Raumes Einhundertprozent betragen würde. Und doch fürchtete ich mich. Nein, ich schäme mich nicht zu gestehen, denn welcher Krieger missachtet das grausige Erz, das von den Göttern gegen uns geschleudert wird – entweder durch sie selbst oder von ihren Avataren. Ich grinste.
Meine Hand umfasste die Klinke; das Messing fühlte sich eigenartig warm an – beinahe heiß. Ich riss die Türe auf. Der Lauf der Hammerkrag richtete sich auf das, was sich auch immer dahinter befand.
Was vermochte einen Tachibana K/949 optimierten Sehnerv zu täuschen? Ich wusste es nicht. Ich sah nur, dass ich nichts sah: Nichts. Gar nichts. Einstmals dachte ich, nach der Operation und der Majestifzierung der meisten meiner Organe könnte nur an der Küste eines Schwarzen Loches mich die Blindheit treffen. Ich war arrogant und überheblich gewesen. Ich hielt inne. Es war tatsächlich, als ob ich gegen eine Wand aus Nichts geprallt wäre.
Es war nicht die natürliche Dunkelheit – eine simple Abwesenheit von Licht – die mich lähmte. Nein, diese Blindheit schien einen anderen Grund zu haben… eine sinistere Quelle als nur das Fehlen von elektrischem Fluss und Wärme. Mein Herz pumpte und pumpte und stockte. Meine Linke griff an meine Brust. Die Krag senkte sich. Für einen Moment war ich in Panik. Ich dachte, ein Schlaganfall hätte mich ergriffen – die Sünde von zu viel Asche in der Lunge und der Schändung meines Körpers. Doch diese Schwärze, die mich umgab, schien aber hinter meinen Augen selbst geboren worden zu sein, denn nichts sah ich: Keine Figuren, keine Konturen, keine Schemen und keine Ecken und Kanten: Ich war wahrhaftig blind. Selbst in meiner Vorstellung gelang es mir nicht, Formen und Farben aufzuerwecken. Und dann war wieder Licht.
Ich riss die Hammerkrag nach oben. Der silberne Lauf zielte auf den hochgewachsenen Mann vor mir. Er stand inmitten des Raumes, seine schwarze Gestalt und der schmutzige Overall kontrastierten stark zu dem dumpf weißen Schimmern der Wiederherstellungspods und der grauen Kachelwände um uns herum. Die Hände des Fremden lagen unbeweglich auf der zentralen Verwaltungskonsole.
»Hände nach oben, Delgado«, sagte ich und war überrascht, dass meine Stimme nicht brach. Delgado – das vermutete ich zumindest – rührte sich jedoch nicht. Sein Kopf war mir zugedreht, die Augen verschwanden aber unter den Schatten seiner Arbeitskappe. Das Glitzern der Iris in den tiefen schwarzen Höhlen schien mir seltsam stumpf und grau. Ich fühlte erneut den Film von Schweiß auf meiner Stirn und mein Hemd klebte fest an der Haut, die keine Haut war. Warum reagierte er nicht? Warum sagte er nichts? Er starrte nur. Keine Regung mobilisierte den offensichtlich muskulösen Körper und selbst seine Atmung war kaum zu bemerken. Der Raum schien heiß und stickig, aber trotz der vielen Schweißperlen auf der künstlichen Haut fror ich auf einmal.
»Die verdammten Hände nach oben, sagte ich! Das hier ist eine Aktion der Extraterritorialen Behörde. Im Falle von Fehlkooperation habe ich die die Erlaubnis zu schießen. Und glauben Sie mir, Butcher-Bastard, das werde ich mit Freuden tun. Wo ist Lucy? Wo ist Miss Keller? Was haben Sie mit ihr gemacht?«
Der massive Körper blieb in Ruhelage. Doch nun sahen meine angeschalteten Augen Bewegung auf dem zuvor stumpfen Antlitz. Die Muskeln um Augen und Mund herum kontrahierten urplötzlich und dehnten sich wieder aus, es war aber kein Ausdruck von Angst, Freude, Hass oder Schmerz. Es war überhaupt kein Gefühl, das ich kannte. Ja, es war mehr, als ob sein Gesicht – Haut wie Kiefer und Knochen – stetig schmelzen und sich blitzartig wieder verhärten würden. Wie Lava, das in den Ozean floss.
Ich hatte wahrlich viele Freaks in meinem Leben normalisiert, doch so etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen. Es war eine gänzlich neue Erfahrung. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich urplötzlich die Tür zu etwas aufgestoßen hatte, was eigentlich den blinden Menschenaugen für immer verborgen hätte sein sollen. Der Neumann-Melder und seine protzenden Zahlen hatten nicht gelogen hatte. Ja, ich hatte Angst.
»… Kalt…«
Die Hammerkrag zitterte.
Das Licht flackerte erneut. Ein Windstoß pfiff an meinem Ohr vorüber und Delgado kippte nach vorn. Sein Muskel-gestählter Körper schien von einem Moment zum anderen jegliche Kraft und Würde verloren zu haben. Wie eine Puppe klappte er mit dem Gesicht nach vorn auf dem Pult zusammen, glitt daran herunter und krachte schließlich einem Sack Kartoffeln gleich auf dem Boden auf. Ich senkte die Krag nicht.
»Gut gemacht, Caballero.« Decker klopfte mir auf die Schulter, als er sich an mir vorbeidrängelte. »Gute Ablenkung. Aber dein Rücken ist zu breit, muss ich sagen. Hätte fast den Somnum nicht an dir vorbeibekommen.«
Ohne Zeit zu verschwenden, fesselte Decker die Hände des Schichtarbeiters und drehte den betäubten Mann auf den Rücken. Das Antlitz des Arbeiters hatte sich nun geändert, verschwunden war das brodelnde Chaos, stattdessen weiteten sich dessen Augen nun in offensichtlicher Angst und Panik.
»K…. Kalt«, stammelte er erneut. Trotz seiner eindrucksvollen und erkennbar jugendlichen Gestalt wirkte seine Stimme wie die eines alten dementen Mannes. »… so… Kalt…« Seine Brust hob und senkte sich wie ein Blasebalg. Bei diesem Anblick hatte ich vielleicht sogar so etwas wie einen Anflug von Mitleid – selbst wenn er ein Butcher gewesen war und Butcher waren schlimmer als die Rejects.
Das Gift des Somnum-Pfeiles war wenig angenehmer als angeschossen zu werden – zumindest was die gefühlten Schmerzen anging. Es lähmte alle motorischen Nerven bis auf die Sprechmuskulatur, aber die Atmung fiel verdammt schwer. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass ich einen 10 Pfund-Stein auf meiner Brust wohl präferieren würde.
Ich schritt zu Decker hinüber und blickte über dessen Schultern in das Antlitz des katatonisch wirkenden Arbeiters. Noch immer zielte der silberne Lauf der Krag auf den Mann. Die geröteten Augen rollten wild hin und her, schließlich blieben sie an mir haften. Aber ich glaube nicht, dass Delgado direkt mit mir sprach – oder mich überhaupt in diesem Moment wahrnahm.
»Das Licht… am Trichter… Ich… wollte das nicht. Nur helfen.« Die Schultern zuckten hin und her, mechanisch wie ein Roboter bewegten sich die Arme gegen ihre Fesseln. Auf seiner Stirn glitzerten die Schweißperlen und die von der südamerikanischen Sonne gebräunte Haut sah bleich aus – beinahe kaukasisch. Was war mit dem Schichtarbeiter nur passiert?
»Ruhig, Brauner«, knurrte Decker. Falls er Angst hatte, zeigte mein Boss es jedenfalls nicht. »Wir sind jetzt hier. Du sagst uns nun brav und kurz und bündig, was hier in diesem Raum vorgefallen ist. Wo sind deine Kollegen? Und wo ist Miss Keller? Ich weiß, die Hübsche sieht zum anbeißen aus, aber du wirst wohl sie kaum in dieser kurzen Zeit verschlungen haben.«
Lucy! Ich schaffte es nun, meine Augen von dem betäubten Freak endlich loszureißen. Ich blickte von Links nach Rechts und dann wieder zurück: Vier Wiederherstellungspods, zwei an jeder Seite, das Pult… es gab keinen Winkel, in dem man sich verstecken konnte und keinen anderen Ausgang als den, durch den wir gekommen waren. Wo war das Mädchen hin verschwunden? Ich drehte mich im Kreis. Und noch einmal.
Und dann begriff ich.
Ich wusste nun, auf was Delgado geblickt hatte, auf was seine betäubten und gefesselten Hände zeigen wollten. Diese weit aufgerissenen Augen hatten mich nicht wahrgenommen, hatten mich nicht gesehen – sie hatten durch mich hin durch geblickt.
Ich wirbelte herum, überquerte die Distanz mit einem Schritt und meine Hände öffneten hastig den Schieber des Inspektionsfensters. Lucys weit aufgerissener roter Mund starrte mir entgegen, ihre grünen Augen schrien eine Panik, die ich durch die Schallisolierung nicht hören konnte. Ein Blick zur Seite verriet mir, dass der Notschalter von außen sabotiert war. Ich zögerte nicht. Ich stemmte meinen Fuß gegen die untere Kante des Pods, klemmte meine Finger zwischen Abdeckung und Kasten und riss mit meinen beiden Armen an dem Deckel. Dieser war hermetisch versiegelt. Es fühlte sich an, als würden beide Arme und alle Finger ausreißen, aber glücklicherweise hatte die Agentur nicht umsonst einen beträchtlichen Prozentsatz des Jahresbudgets in meinen Körper gesteckt. Mit einem schweren metallenen Poltern fiel die Abdeckung nach vielen quälenden Sekunden herunter und Lucys zierlicher Körper glitt in meine Arme. Sie schlug und kratzte und gebärdete sich wie wahnsinnig. Doch am schlimmsten war ihr Schreien:
»Beruhigen Sie sich! Miss Keller! Ich bin es, sie sind jetzt in Sicherheit!«, rief ich und versuchte die rot lackierten Fingernägel von meinen angeschalteten Augen fernzuhalten. Sie tobte weiter, wie Dornen schürfte sie tiefe Kratzer in meine rechte Wange, doch schließlich schienen meine Worte zu ihr durchzudringen. Die grünen Augen wurden wieder klarer. Sie sah mich nun. Plötzlich verließ die Stärke und Wildheit ihren Körper und sie sank kraftlos gegen mich.
»Mr… Caballero.«
»Sie erinnern sich an mich. Das ist gut.«
»Sie sind es… aber? Das Licht? Was ist mit…«
»Keine Sorge, Miss Keller, Herr Delgado kann ihnen nichts mehr tun. Wir haben ihn ruhiggestellt.«
Als ich mir sicher war, dass sie sich tatsächlich etwas beruhigt hatte, schob ich sie sanft von mir. Ich wandte meine Augen ab, um sie nicht weiter zu schrecken, aber trotzdem musste ich sie fragen:
»Ich weiß, Sie haben gerade etwas schreckliches erlebt. Doch können Sie uns sagen, was hier vorgefallen ist?«
»Ich…« Lucys Stimme zitterte merklich.
»Es ist gut. Sie müssen jetzt nicht gleich sprechen. Setzen Sie sich am besten in den Pausenraum, ruhen Sie sich etwas aus, während wir hier arbeiten.«
»Nein!«, heftig schüttelte die Rothaarige den Kopf. Ihre Locken peitschten hin und her wie eine Feuerlohe in der stürmischen Nacht. Ich war viel zu überrascht, als sie sich an mich klammerte, also ließ ich es geschehen. Ihre Arme schlangen sich um meinen Rücken und ich spürte die heftig atmende Brust auf meiner Brust. »Nein! Ich… ich bleibe hier. Ich… Ich kann nicht weg von Ihnen.«
»Caballero! Reiß dich von deiner neuen Freundin los und schwing deinen Arsch hier rüber. Wir haben ein Problem.« Die Nervschaltung knirschte auf. Lucy deutete wohl den Schmerz auf meinem Gesicht als ihre Schuld, denn sie löste sich urplötzlich so hastig von mir, wie sie mich umschlungen hatte. In ihren zuvor ängstlich glitzernden Augen stand nun Verlegenheit geschrieben.
»Entschuldigen Sie mich bitte, Mr. Caballero. Ich wollte nicht… Sie in Verlegenheit bringen.« Sie gab sich Mühe, so sachlich und nüchtern wie zuvor zu klingen und ich musste ihr zugestehen: Sie fasste sich erstaunlich schnell.
»Sie sind in Schock, das ist alles«, sagte ich. »Können Sie eine Weile draußen warten? Ich muss mit meinem Kollegen den Raum untersuchen und Ihren Koll… Mister Delgado befragen.« Die junge Assistentin blickte unsicher, ihre Augen schweiften durch den Raum und dann wieder zu mir zurück.
»Es ist schon in Ordnung. Wir sind jetzt hier und die Tür ist geöffnet. Es kann niemand kommen, ohne dass wir es merken. Glauben Sie mir, Miss Keller.«
»J… ja, Sie haben wohl recht. Ich… ich muss mich hinsetzen.« Ich begleitete Lucy in den Pausenraum, denn ihre Knie waren noch wacklig und ihr Gesicht war bleich – selbst für eine Rothaarige. Als sie sich gesetzt hatte, schnauzte mich Decker über Hirnrinde an.
»Schön… eine Freundin, die du nicht bezahlen musst. Und jetzt komm rüber. Der Feind bewegt sich.«
»Ich wollte das Mädchen nur beruhigen. Dann wird sie reden«, rechtfertigte ich mich lahm.
»Das hoffe ich. Denn ich wüsste nur zu gerne, was für eine Scheiße hier abläuft. Da, schau dir das an.« Decker stand auf und deutete mit seinem fetten Finger auf das Gesicht des betäubten Schichtarbeiters. Ich kniete mich nieder. Delgados Gesicht war erneut stumpf geworden, die Augen blickten ins Leere. Er schien tot zu sein, nur die röchelnden Atemzüge kündigten noch von einem kläglichen Restleben. Ich konnte dieses Rätsel nicht entschlüsseln. Ich hatte noch nie eine solch massive Auswirkung eines Betäubungspfeiles gesehen. Und dann wurde es mir klar. Die Augen waren deutlich gerötet. Sie bluteten. Winzige schwarze Löcher – kaum zu sehen.
Ich erhob mich und bekreuzigte mich. Meine Gedanken rasten, während meine Lippen geschlossen blieben:
Als ich den Raum betrat… ich spürte es. Ganz bestimmt. Es war dunkel. Ich habe aus seinen Augen gesehen, als sie blind geworden sind.
Doch obwohl ich schwieg, musste Decker meine Gedanken an meinem Antlitz gesehen haben.
»Verdammich, Caballero. Du läufst heiß. Deine fixen Ideen erschweren uns nur die Aufgabe! Reiß dich zusammen!«
»Es ist nicht die Behörde, die mich aufgeweckt hatte«, erwiderte ich in einem seltenen Anflug von tatsächlicher Rebellion. Doch es war nicht Mut, der mich zum Widerspruch trieb.
»Was ist mit meinem Kollegen? Geht es ihm gut? Ich hoffe, Sie haben ihm nicht´s zuleide getan.« Lucy stand in der Türe, ihr zierlicher Körper wirkte nun wesentlich gefestigter als zuvor und auch ihre Stimme hatte eine gewisse Bestimmtheit zurückgewonnen. Ich musste erneut der Kleinen innerlich Respekt zollen. Sie war definitiv zäh.
»Das würden wir gerne von ihnen wissen, Missy.« Deckers Stiefelabsatz kickte rüde den betäubten Arbeiter in die Seite, doch dieser schien den schmerzhaften Tritt nicht im Geringsten zu spüren. Er regte sich nicht. Die stumpfen Augen blickten starr nach oben.
»Bitte, seien Sie nicht grob mit ihm… Er hat nichts getan!«
»Nichts getan?«, fragte ich. »Er hat Sie überwältigt und eingesperrt. Welche Gründe er auch immer dafür hatte, er ist sicherlich nicht Ihr Freund.«
»Delgado… ist nicht mein Freund. Er ist aber auch kein Feind.«
»Was meinen Sie damit?«
»Er war es nicht.«
Meine Augen verengten sich. »Wer hat Sie dann angegriffen? Sie müssen schon mit uns reden, Miss, ansonsten können wir nicht anders, als falsche Schlüsse zu ziehen. Und derjenige, der das getan hat, läuft immer noch frei herum…«
Lucy seufzte. Ihre schlanken Finger strichen sich fahrig eine rostige Strähne aus dem Gesicht. Ihr Antlitz war verzerrt und ihre Hände rieben an den Schläfen, als hätte sie eine äußerst schmerzhafte Migräne.
»Ich… ich weiß es nicht… mehr. Es war alles so dunkel, so kalt. Ich bin mir sicher… ich traf Frank… Mr. Delgado im Pausenraum und dann…« Lucys Stimme brach und zitterte, aber sie hatte sich erstaunlich gut unter Kontrolle. Ihr Report war Stückwerk, aber so sachlich und nüchtern formuliert wie nur möglich:
»Er war an der Kaffemaschine. Daran erinnere ich mich. Ich habe ihn gefragt, wie es ihm geht und wo seine Kollegen sind und… Wie Sie ja wissen… sicherlich wissen: Die Kollegen müssten zu dieser Zeit eigentlich gerade ihre gesetzliche Wiederherstellungszeit einhalten. Sie wissen ja, man darf nicht länger als 9 Stunden ohne Ruhepause arbeiten. Aber weiter dann… Ich weiß nichts mehr. Ich weiß nur noch, dass es urplötzlich ganz dunkel war… Und kalt. So kalt. Und dann habe ich sie gesehen – Mr. Caballero. Ihre Augen.«
Und ihre letzten Worte verletzten mich.
»Ich hatte Angst vor ihnen.«
Lucys Mund verstummte abrupt. Schämte Sie sich, für das was sie gesagt hatte? Sie wandte ihren Blick von mir, stattdessen wanderten ihre fahrig wirkenden Augen zum Pod, aus dem ich sie kurz zuvor befreit hatte. Da erzitterte sie unmerklich. Sie trug immer noch die Jacke von mir. Oder war es jemals meine Jacke gewesen? Sicherlich war sie Firmeneigentum.
»Ich war noch nie in so einem Ding. Ich… konnte nicht atmen. Es fühlte sich an, als würde ich ersticken… und…«
»Schon gut, Miss Keller.« Ich nickte ihr zu. »Ich zweifle nicht daran, dass die Erfahrung schrecklich war, aber diese Pods sind letztlich ungefährlich. Ich denke Delgado… oder wer auch immer sie dort hineingebracht hatte, wollte Sie nicht wirklich verletzen.«
»Da bin ich mir nicht so sicher.« Deckers Stimme schnitt durch den Raum. Er schritt geradlinig zum geöffneten Pod, zielstrebig, wie jemand der seine Vermutung für Fakten hielt. »Sie sagen, Missy, Sie hätten das Gefühl gehabt zu ersticken? Kurios. Ich habe noch nie einen Fisch ertrinken sehen.« Die letzten Worte flüsterte er mehr zu sich selbst. Und mir wurde plötzlich bange bewusst, dass wir die restlichen Kästen noch gar nicht überprüft hatten. Wer auch immer hier zu Werke gewesen sein mochte, er konnte nicht weit sein.
Stumm und obszön – wie die Särge in den alten Zeiten vor dem Guten-Nachleben-Gesetz – standen die Blüten-gleichen Silberkoffer an der Wand. Die dicken Kabel und Drähte verschwanden in den gekachelten Mauern. Ich zog die Krag erneut hervor, aber mein Kollege wartete nicht auf mich.
Decker öffnete ruckartig den Inspektionsschieber. Die künstlichen Muskeln unter dem Stahl und der falschen Haut darüber verkrampften sich. Selbst hinter seinem Rücken stehend, war mir bewusst, dass Decker seine Stirn in tiefe Falten warf. Die Körpersprache des Alten war mir mittlerweile zum wohlvertrauten Dialekt geworden. Ich sah die Angst im Spiel seiner Schultern und der Nackenmuskeln. Ich sah letztlich seine Resignation.
»Miss Keller…«, sagte Decker. Die Stimme war eigenartig trocken und ließ jeglichen Sarkasmus vermissen. »Caballero… das hier ist kein Recreation-Room.« Er kickte mit seinem Schuh gegen die untere Kante des silbernen Pods. Der Ton hallte düster durch den engen Raum – wie der fast vergessene Klang von Glocken. »Das hier ist ein Leichenhaus. Und das sind verdammte Selbstermächtigungen.«
»Selbst… ermächtigungen?«
»Sie sind bereits tot«, sagte ich.
»Wir waren eh schon zu spät. Und es ist ist wahrscheinlich besser so für sie… und für uns«, erwiderte Decker und trat zurück. Bevor ich Lucy aufhalten konnte, lief sie zu dem Pod hinüber und blickte durch den Schieber. Ihr spitzer Schrei kratzte über meine Gehirnrinde, als würde sie ihre Angst und Bestürzung in meine Nervschaltung ritzten. Der zierliche Körper der jungen Assistentin stürzte über die eigenen Beine zurück und ich konnte sie gerade noch so auffangen.
»Sie… sind tot«, sagte Lucy. Decker seufze, nahm den Hut von Kopf und wischte sich den glitzernden Schweiß von Stirn und Nase. Sein Gesicht war noch roter als sonst. Seine Stimme wirkte betrunken.
»Hier hat sich wohl jemand einen makaberen Scherz erlaubt. Unsere werten Kollegen hier – sich freuend auf die wohlverdiente Pause – stiegen brav in ihre Sarkophage. Sie haben nicht männlich und tapfer gegen ihr Verhängnis gekämpft. Sie haben nichts gewusst. Und sie sind nie wieder aufgewacht. Memento Mori, nicht wahr Caballero?«
Behutsam, als wäre sie ein blindes Katzenbaby, setzte ich Lucy an der Wand ab. Sie rutschte zu Boden und und blickte ins Leere, doch ich hatte keine Zeit, mich um eine Traumatisierte zu kümmern. So löste ich rüde ihre Hand von meinem Arm.
Ich schritt zum selben Pod rüber, den Decker überprüft hatte. Und danach besah ich mir die anderen. Schließlich sah ich zu Decker, der in der Mitte des Raumes stand und einfach nur den Kopf schüttelte.
»Alle?«
Ich nickte.
»Verdammich. Und nach den Augen zu urteilen, war es sicherlich kein sanftes Einschlummern gewesen – wie aus der Werbung. Verstehste? Nicht einmal der Werbung kann man noch trauen.«
»Der Mensch hat ein Recht auf Leben«, sagte ich.
»Die Regierung behauptet das Gegenteil.«
Das Gesicht des Toten blitzte in meinem inneren Auge auf. Unter den krallenartig verkrampften Fingern sah ich die Splitter von Glas – wie feinste Sandkörner am Strand. Das Gas oder was auch immer durch diese Sarkophage geströmt war, hatte ihnen nicht ihr Bewusstsein genommen, als es Molekül für Molekül den Sauerstoff in den Lungen ersetzte. Ich musste Decker widersprechen. Zumindest in den letzten Momenten war ihnen ihr Ende Bewusst gewesen und sie hatten dagegen gekämpft. Auch wenn es bereits zu spät gewesen war. Eingesperrt und hermetisch von außen verriegelt konnten sie nur noch schreien und mit ihren Fingern gegen das Glas unter dem Inspektionssschieber kratzen. Gefangen in Dunkelheit. So heiß und das Herz rast und kann doch nicht entkommen. Ein paar Sekunden mehr vielleicht und Lucy hätte dasselbe Schicksal ereilt – wenn ich nicht gewesen wäre.
»Wie ein Dieb«, murmelte ich und bekreuzigte mich erneut. Ich hatte damals in der Armee viel gesehen und die neuen Arten zu sterben verstörten mich mehr als die alten. Da mochten die Wissenschaftler und Techniker in den Euthanasie-Zentren noch so stark auf ihre Theorie pochen.
»So kalt, so dunkel«, hörte ich Lucy. Ihre Stimme war flach und monoton, beinahe wie die eines in Gedanken versunkenen Mannes. »Gibt es denn nichts, was man tun kann?« Ihre schlanken Arme hatte sie um ihre Knie geschlungen.
»Beten«, sagte ich.
Da hob Lucy ihren roten Schopf. Der Blick der smaragdgrünen Augen traf den meinen und in diesem Moment hatte ich mehr Angst vor ihr, als vor allem anderen. Delgado lachte. Ich muss gestehen, ich war beinahe froh, dass dieser erstickte grässliche Ton mir eine Ausrede gab, meinen Blick von ihrem Antlitz abwenden zu dürfen.
»Hoy, Caballero!« Decker packte den Mann am Kragen. »Wenn du lachen kannst, kannst du reden, Freundchen. Was läuft hier eigentlich? Hast du diese Pods manipuliert? Hast du deine Kollegen da reingeschickt? Oder hast du den Jäger gesehen? Rede, du verdammter Butcher!«
Delgado gluckste – einfältig wie ein Kind. Dann war er wieder stumm und so leer und abgestumpft wie zuvor drang sein Blick durch Decker und mich hindurch. Der Kollege deutete auf mich. Ich sah das Zittern in den fetten Fingergelenken. War es Gicht oder seine Angst?
»Da, siehst du meinen Kollegen dort drüben? Ziemlich großer Bursche, was?«
Delgado sah mich nicht.
»Der kann auch ziemlich ungemütlich werden… Ja, ja, die jungen Männer von heute sind sehr, sehr unfreundlich. Keine Weiber, keine Rente, kein Haus und keine Kinder… wer mag´s ihnen verübeln. Und es schwinden – ehrlich gesagt – allmählich meine Skrupel, diese Frustration auf dich loszulassen. Ich würde vorschlagen zu reden.«
Der alte Mann schwitzte. Seine Stimme war trockener und brüchiger als sonst. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Dieser ganze grässliche Raum schien kaum Sauerstoff zu enthalten, es war etwas bedrückendes hier drinnen – eine Art von Malaise, die einem auf Brust und Herzen lastete.
»Sir,«, sagte ich. »Mister Delgado ist nicht mehr hier.«
»Ich führe das Verhör.«
»Und was, frage ich mich, hat uns ein Lobotomierter zu sagen?«
Decker zuckte mit den Schultern.
»Ein verschrumpelter Apfel hat auch noch einen Kern. Wir müssen es versuchen. Was anderes haben wir nicht.«
»L… lobotomiert? Sie meinen doch nicht…« Lucys leise Stimme hatte eine feminine Art von Verletzlichkeit zurückgewonnen. Ich deutete es als gutes Zeichen. Was auch immer hier noch vor wenigen Momenten im Raum gewesen war, musste auch sie berührt haben und doch hatte sie sich nicht gänzlich verändert wie Delgado. Ich wollte sie nicht erschießen. Sie war hübsch. Und ich musste mir eingestehen, dass ich sie mochte.
»Wer tut so etwas nur?«
»Das wollen Sie nicht wissen, Missy. Und am besten wäre es, wenn Sie von hier verschwinden und sich ab morgen eine andere Arbeit suchen. Gehen Sie nach Hause. Schlafen Sie. Und danach beginnen Sie ein neues Leben. Hier gibt’s nichts mehr für Sie zu tun, vestehste, Mädchen? Das hier ist die Angelegenheit von mir und meinen Kollegen. Sie können nun gehen.« Decker stand auf. Er schnaufte angestrengt, als er den Hut zu Recht richtete, was die bemühte Autorität in seinen Worten lahm und schwach wirken ließ. Er nickte mir zu und ich wusste, was zu tun war. Ein Hund folgte auch einem kranken Herrn.
»Nein!« Lucys bestimmter Ruf schnitt durch den Raum. Sie richtete sich an der Wand empor – wie eine Kletterpflanze oder Dornenranke, die nach oben wuchs. »Ich werde nicht hier weggehen.«
»Verstehen Sie denn nicht, Miss Keller? Es ist äußerst gefährlich hier. Und wir können von jetzt an nicht mehr für Ihre Sicherheit garantieren.«
Doch die junge Assistentin schüttelte obstinat den Kopf. Ihre verklebten rost-farbenen Locken wackelten hin und her – glühende Drähte in der Luft.
»Ich weiß, ihr beiden seid nicht von der Behörde. Aber Sie jagen offensichtlich denjenigen, der meiner Famil… meinen Kollegen dies angetan hat. Ich will helfen.«
Für einen Moment war ich sprachlos.
»Lobotomie«, erwiderte Decker trocken. »Wissen Sie, was das ist, Missy? Ein Stich und Schwupps – hat der Neocortex keine Verbindung mehr zum Restgehirn… Der Herr Kollege Delgado – wie sie anschaulich sehen können – ist bereits eine Zimmerpflanze.«
»Ich war medizinische Assistentin. Ich weiß, was eine Lobotomie ist, Mister Decker.«
»Dann sollten Sie aber noch wissen, dass meinem Kollegen und mir hier noch Schlimmeres droht. Falls wir scheitern.«
Lucys Augen blinzelten. Sie warf mir einen Seitenblick zu, den ich nicht deuten konnte. »Also, tun Sie uns allen einen Gefallen, Missy«, fuhr Decker fort. »Stempeln Sie aus. Haun Sie ab. Vergessen Sie, was Sie hier gesehen haben. Und Sie werden zumindest leben. Die Nacht und die Jagd sind die Verantwortung von uns Männern.«
»Sie arbeiten für die Regierung?«, fragte die Rothaarige und tat so, als ob die Worte Deckers sie nicht eingeschüchtert hätten. Sie richtete ihre Nase nach oben und tapfer hielten die grünen Augen dem Blick meines Kollegen stand.
»Ich würde eher sagen, wir arbeiten mit der Regierung… mal mehr mal weniger.«
»Gut, dann gehören sie zumindest zu den berechenbaren Mördern.«
Ich wollte etwas sagen. Ich blieb aber stumm.
»Und wenn ich die Lage richtig einschätze«, fuhr Lucy nun beinahe so sachlich und nüchtern wie zuvor fort, »gibt es keinen sicheren Ort in diesem Komplex als in Ihrer Nähe. Sie haben beide Waffen und Sie wissen, mit wem Sie es zu tun haben.«
Sie lächelte nervös und zupfte und strich sich ihre Uniform zurecht. Der Rock über den weißen Schenkeln knisterte. »Und nicht zuletzt sind Sie beide sicherlich Gentlemen. Sie würden doch keine unbewaffnete und wehrlose Frau alleine durch einen Komplex zurückschicken, indem ein Monster umgeht, nicht wahr?« Lucys Frage war mehr an sie selbst gerichtet, doch zu meiner Überraschung nickte Decker.
»Wir mögen Hunde sein, der Caballero und ich. Aber Sie haben recht, wir sind Gentlemen.«
»Wir können die Zivilistin nicht mitnehmen«, sagte ich. »Die wilde Jagd hat nun begonnen. Die Pforte zu Quliphoth ist offen. Ich habe es gesehen«, funkte ich über Nervschaltung. Doch da drangen Lucys grüne Smaragdsonnen in meine Seele und ich hatte das Gefühl, als würden unser beider Atemstöße miteinander verschmelzen.
»Ich weiß, wo er sich befindet«, sagte sie.
»Wie bitte?«
Lucy stieß sich von der Wand ab und schritt – ohne uns anzublicken – zur Tür. Meine Augen mussten mit ihrem Rücken vorlieb nehmen, als sie weitersprach, den Rest übernahm meine Fantasie:
»Ich bin noch nicht lange hier, das ist wahr. Aber ich kenne die Pläne dieser Anlage auswendig. Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis, wissen Sie? Ich weiß auch die Namen und Gesichter aller Angestellten.« Ihre Stimme ließ keine Widerrede zu.
»Gut. Sie kennen sich also hier aus… Aber Sie sind eine Frau. Wüssten Sie denn, wo ein Jäger sich in dieser Bruchbude verstecken würde? Wo würde er sein Nest machen und wo würde er auf seine Beute lauern?«, fragte Decker sarkastisch, doch Lucy antwortete prompt und ohne zu zögern:
»In der hinteren Verbrennungsanlage«, sagte sie. »Dort ist er verborgen vor allen Augen, hat aber alle Zugänge im Blick und im inneren der Anlage gibt es viele Fluchtmöglichkeiten… Aber Sie, meine Herren, kennen den Weg nicht. Sie werden nicht wissen, wo er auf sie lauern könnte und wo Sie auf ihn lauern können…«
»Das Ding ist gerissen«, funkte Decker über die Nervschaltung.
»Aber der Verdacht hat sich wohl erledigt.«
»Im Gegenteil.«
Offen sagte Decker:
»Sie bleiben stets hinter uns, Missy. Die Jagd hat bereits begonnen.«
»Ich komme aus Midwest. Ich kenne die Jagd. Das Opfer gehört alleine Ihnen, Mr. Decker.« Ich war überrascht, wie sarkastisch die süße Kleine auf einmal klingen konnte.
»Sie haben ein gutes Herz, Miss Keller, ich hoffe, Sie verlieren es heute Nacht nicht«, sagte ich und fühlte mich aus irgendeinem Grund wie ein Tölpel. Ein Teil von mir fühlte sich glücklich, dass die junge Assistentin uns weiter begleiten würde, ein anderer Teil hatte Angst – um sie und vor ihr.
»Ich bin nicht gut, Mister Caballero. Ich will nur helfen.«
»Sie sehen blass aus. Sind Sie sich wirklich sicher, dass Sie uns in das Innere der Anlage begleiten möchten?«
Sie blickte mich an und das verlegene Lächeln ihres roten Mundes beschleunigte den Takt meiner künstlichen Pumpe, sodass ich es zumindest spürte. Es war ein lang verloren geglaubtes Gefühl – als wäre ich kein Bluthund auf der Jagd sondern wieder ein Heranwachsender auf der Highschool in German Midwest.
»Ach, Mr. Caballero, Sie müssen sich keine Sorgen um mich machen. Sie haben ja einen breiten Rücken, hinter dem ich mich verstecken kann.«
»Gut… Dann auf zur Verbrennungsanlage. Juhei!«, brummte Decker und überraschend galant bot er der hübschen Assistentin seine Hand an und führte sie aus dem Raum.
Ich wartete noch ein paar Sekunden. Bis ich mir sicher war, dass Lucy nichts mehr sehen und hören konnte. Dann kniete ich mich ein letztes Mal zu Delgado nieder. Ich nahm seinen Kopf in meine Arme, die stumpfen grauen Augen blickten immer noch durch mich hindurch – es schien keine Seele mehr in ihnen zu sein. Er gluckste vergnügt wie ein Kind. Ich wusste nichts von ihm und er nichts von mir, aber er war wohl ein böser Mensch gewesen wie ich. Da war ich mir sicher.
»Mea Culpa, ich kann dir nicht geben, was hier notwendig ist. Aber um dies eine kann ich zumindest bitten: Gott gebe dir die ewige Ruhe – auch wenn du geschlachtet haben solltest«, sagte ich. Und ich brach ihm das Genick.
Ich muss gestehen, mein Herz betrog mich in jener Nacht ein zweites Mal. Falsche Hoffnungen, unsinnige Bilder und eine Vision von einer Zukunft, die niemals sein konnte, wandelten durch meine Brust – Nein, sie rasten wie tobende Ochsen. Quälten mich. Ich lächelte und zog meinen Hut. Ich spürte den Schweiß auf Stirn und Schläfen.
»Ah, Miss, so treffen wir uns wieder«, sagte ich und war froh. Und tatsächlich stand sie wieder da vor mir, Jerika Mun Schoy, wie ein verflossenes und verloren geglaubtes Traumgebilde, das sich nach dem Aufwachen entgegen allen Naturgesetzen wieder zusammengefügt hatte. Ein Materium gewordener Geist. Ihre schimmernden Formen wiegten unbeugsam hin und her, wie ein starker Baum in der stürmischen Nacht. Und auch sie schenkte mir ein kurzes wissendes Lächeln. Ihre kristallblauen Augen leuchteten.
»Hier nehmen Sie das. Ich hoffe, ich habe sie nicht allzu lange warten lassen«, sagte Lucy und reichte mir eine Jacke über die Rezeption, wie sie wohl die Arbeiter in der Anlage trugen. Ich nahm den groben Stoff entgegen. Keine Ahnung, woher sie das Zeug so schnell bekommen hatte. Keine Ahnung, wie sie es geschafft hatte, einen Geist aus dem Tartaros heraufzubeschwören. Doch ich nahm stumm und ehrfürchtig beides entgegen – das Gewandt und den roten Mund Jerikas. War ich verflucht oder gesegnet von den Göttern dieser Nacht? Und endlich sprach sie:
»Ah, Mr. Schick, wie wunderbar. Ihre Pflicht und meine Arbeit – unser Schicksal überschneidet sich in dieser Nacht wohl. Und sie haben Asche auch! Aber nicht für mich… Oh je… jetzt bin auch ich im Dienst… Zu schade! Zu schade… Wir hätten gemeinsam – Asche schnippen können… für eine Weile zumindest…« Diese Stimme, wie geraspelte Schokolade… So sauer wie der Apfel. Ich wusste, dass sie nur mit mir spielte. Sie zeigte mir das siegessichere Blecken einer Raubtierlefze und doch konnte ich nicht anders als mitzuspielen. Denn dies schien das Schicksal von allen Männern: Ein Spiel zu spielen, dessen Regeln von Anfang an unseren Verlust diktierten. Und doch wagte ich es mit vollem Einsatz beizutreten:
»Es gibt eine Zeit für Vergnügen, Miss, und es gibt eine Zeit der Arbeit. Wir beide scheinen noch unsere Hände voll zu haben – für heute Nacht. Aber was morgen ist, kann niemand wissen.«
Jerika strich sich eine ihrer rabenschwarzen Strähnen aus dem Gesicht.
»Ah, der Morgen…«, knisterte ihre Stimme, »wie schön es doch wäre, wenn manche Nächte auf ewig dauern würden. Denken Sie nicht, Mr. Schick?«
»Dem stimme ich nicht zu«, mischte sich Lucy plötzlich ein. Sie lächelte nervös, einmal zu mir dann zu Jerika. »Ich meine…«, erklärte sie hastig, »ich würde gerne… ich… mir ist es schon wichtig… die Wärme und die Sonne. Und die Strahlen auf meinem Gesicht, wenn ich morgens aufwache…«
»Zieh dich um, Caballero, bevor du noch Löcher in das weibliche Geschlecht starrst. Bitte verzeih die rüden Manieren meines Kollegen. Die Behörde hat diesen Tunichtgut ausm Heim für Schwererziehbare rekrutiert. Ah ja, die Segnungen des Gleiche Chancen Gesetzes! Was würden wir Bürger nur ohne die Fürsorglichkeit unseres Staates tun?«
Ich tat, wie Decker geheißen, ich hatte keine Lust auf erneute elektronische Erziehungsmaßnahmen durch die Hirnrinde. Da war Decker tatsächlich ganz hart. So wie es das Handbuch für Handler vorschrieb: Sei ein hartes Arschloch.
Ich warf mir die neue Jacke über. Sie war steif und der Stoff rau, aber sie passte erstaunlich gut. Lucy hatte wohl durch einen Blick meine Größe perfekt geschätzt. Die Arbeiterkluft hatte, sobald übergeworfen, nun eine seltsame Wirkung auf mein Gemüt. Ich fühlte mich nun weder wie ein Beamter, noch wie ein Jäger oder ein Bluthund – ich war nun ein Rad im Getriebe des Systems: ein Arbeiter unter vielen schmutzigen Gesichtern. Es ließ mich an Fort Blackthane zurückdenken. Kleidung ist nichts rein oberflächliches – wir werden erst durch die Kleidung, die wir tragen, zu demjenigen, der wir sind.
Decker klatschte in die Hände:
»Gut, mein Kollege entspricht nun der neuesten Mode. Dafür danken wir herzlich. Aber jetzt geht’s an die Arbeit: Missy, ich brauche eine Liste aller Schichtarbeiter – die jetzige Schicht. Dann führen Sie mich und meinen Kollegen zum Raum A7 – bitte.«
Lucy zögerte. Ihr Blick wanderte für einen Moment hastig zwischen uns und ihrer Vorgesetzten hin und her, wie ein Reh, dass einen Fluchtweg vor den Hunden suchte. Schließlich sagte sie:
»Ich… ich weiß nicht… ich glaube, nun ja, die Liste können Sie sicherlich haben, Mr. Decker, aber ich muss das wohl erst mit dem jetzigen Schichtleiter besprechen. Bevor ich Sie auf´s Gelände lassen kann… meine ich… vielleicht?«
»Keine Sorge, Miss Keller«, sagte ich. »Das ist bereits alles mit dem Schichtleiter, Mister Roth, abgesprochen. Er hat das Gelände zwar vor kurzem verlassen, aber uns vor seinem wohlverdienten Feierabend in Ihre kompetenten Hände gegeben.« Ich positionierte mich zur Sicherheit so, dass meine breite Gestalt zwischen Herrn Roths ohnmächtigen Körper und Lucys Blickwinkel stand. Die junge Assistentin wirkte auf mich – verständlicherweise – trotz ihrer Professionalität unsicher. Doch schließlich nickte sie.
»Natürlich. Hier: Das sind alle sechs Mitarbeiter, die bei uns in der Frühschicht arbeiten und nicht krank, auf Geschäftsreise oder aus sonstigen Gründen abgemeldet sind.«
Lucy reichte Decker die Liste, der diese stirnrunzelnd überprüfte.
»Sie haben tatsächlich einen regen Betrieb um vier Uhr morgens. Wie viele Angestellte arbeiten insgesamt für Ihr Unternehmen?«
»Mit den Zeitarbeitern haben wir… ich meine… 33 Mitarbeiter. Die meisten Büroangestellten arbeiten aber mittlerweile von zu Hause aus. Nur wenige können sich den Panzerwagen durch die Stadt leisten, verstehen Sie? Und die neuen… kommunalen Betreiber legen sehr großen Wert auf Arbeiterfreundlichkeit, weshalb das auch – glücklicherweise – in Ordnung geht.«
»Die Straßen und die Rejects… das alte Problem«, murmelte Decker geistesabwesend, während seine stechend blaugrauen Augen die Liste überflogen. Ich fragte mich, nach was er suchte. Wir hatten bereits konkrete Verdächtige… eine stand direkt vor uns. Doch dann wiederum: Die Techniker der Behörde waren unter dem Von-Neumann-Melder vor dem Gebäude verschwunden, direkt an der Eingangstür. Das Verschwinden wurde dabei von einer Realitätsverschiebung begleitet, die in ihrem Ausmaß zwischen katastrophal und Kataklysmus pendelte. Es machte von einem gewissen Blickwinkel aus durchaus Sinn anzunehmen, dass eine solch immense Wirkung von älteren Wurzeln genährt werden musste.
Ich runzelte die Stirn. Ich dachte nach: Lucy Keller… sie entspricht nicht dem charakteristischen Beuteschema. Aber wir wissen auch nichts über sie. Vielleicht hat doch etwas an ihr ihn angelockt… Ich nahm sie aus den Augenwinkeln noch einmal ins Visier: … Hochgewachsener Bau – für eine Frau zumindest. Rothaarig, professionell, gut erzogen. Schüchternaber auch strebsam und sehr große Brüste…
Ihr roter Mund, das professionelle und doch ehrliche Lächeln, ihre Augen und der Eindruck ihres Arsches brannten sich förmlich in meine geistige Retina, aber ich kam einfach zu keinem Ergebnis: Opfer oder Täter? Irgendetwas in mir drinnen weigerte sich jedoch, überhaupt die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass dieses bleiche, sommersprossige Gesicht die Maske von Tod und Wonne sein könnte.
»Dürfte ich fragen, wen ihre Behörde denn konkret sucht?« Lucy sprach zu Decker, aber ich spürte, dass sie meinen aufdringlichen Blick bemerkt hatte und nun den Gefallen zurückgab.
»Nein, das dürfen Sie nicht«, erwiderte mein Kollege, faltete den Datenscreen und steckte ihn in seine Jackentasche. Ein wenig überzeugendes Lächeln spiegelte sich auf dem faltigen Gesicht. »Solange die Ermittlungen laufen, stellen wir hier die Fragen. Und Sie antworten brav, höflich und vor allem kurz, Missy. So wie Sie es gelernt haben. Also gut: Auf zum Raum A7. Ihre Freunde von der Schicht erwarten uns dort bereits sicherlich ganz sehnsüchtig, verstehste?«
»Ja, sicher, Mister Decker. Raum A7… das ist der Recreation-Bereich nahe der Verbrenner-Anlage. Die Schichtarbeiter machen dort Pause und halten Kurzzeit-Hypnos zur Erholung.« Lucy nickte hastig. Ihre weißen schlanken Finger strichen fahrig durchs rote Haar. Sie konnte ihre steigende Nervosität nur schlecht verbergen. Vielleicht hatte sie auch einfach nur Angst vor meinen angeschalteten Augen und ihrem Starren.
»Ich werde sie begleiten«, raspelte Jerika Mun Schoys Stimme.
Die schwarzhaarige Schönheit umarmte Lucy von hinten und küsste ihrer jüngeren Kollegin auf die Wange. Ihr Lächeln und ihr Blick schienen aber mir zu gelten. Beide Frauen starrten mich an. Die eine tief errötend die andere verspielt blinzelnd. Ich stellte mir nur für einen Moment vor, ich wäre Lucy und die spitzen Brüste Jerikas würden in meinen Rücken drücken. Und außerdem stellte ich mir noch andere Sachen vor. Ich schüttelte den Kopf.
»Ah… Mister Schick… Bitte haben Sie Mitleid und urteilen Sie nicht. Das Onboarding braucht Zeit. Man muss das doch erst lernen – wie das läuft mit den Behörden und den großen starken Männern in Schwarz….« Jerika legte ihren Arm um die Schultern der Jüngeren – ich wusste nicht, ob zum Schutz oder um die Besitzverhältnisse zu klären. Und auch wenn die Schwarzhaarige ihren Pseudo-Transfimmel mittlerweile abgelegt hatte, so war ihre angedeutete Figur unter der hauchdünnen Schicht immer noch die reine geformte Provokation. Sie trug nun die selbe Uniform wie Lucy, doch gebärdete sie sich, als gehörte das Unternehmen und das Universum ihr allein. Die beiden Frauen konnten wahrlich nicht unterschiedlicher sein. Ich nickte:
»Keine Sorge, Miss Keller. Sie machen Ihre Arbeit, wir die unsere und alles wird heute Nacht gut ausgehen. Das verspreche ich Ihnen.«
»Genug Zeit vertrödelt«, sagte Decker. »Je schneller wir die Liste abhacken können, desto weniger müssen wir diese verseuchte Luft hier atmen. Also los! – bitte.«
Das Klackern von Lucys spitzen Absätzen hallte durch verzweigte Bürogänge und trostlose Wartungskorridore, deren nichtssagende Identität nur durchbrochen wurde von gelangweilten Kritzeleien an den Wänden und das aufreizende Lächeln nackter Pin-Up-Girls. Wir waren wahrlich im Herz des hart arbeitenden Amerikas angekommen. Doch niemand schien hier tatsächlich am Werk zu sein. Die Gänge waren verwaist und verlassen. Eine unheimliche Atmosphäre lag über der ganzen Anlage um vier Uhr Morgens. Es war still. Nur das aufdringliche Surren der Deckenlampen über uns und das Schreiten der hochhackigen Schuhe der beiden Frauen durchbrach die Stummheit dieses Ortes. Schließlich öffnete Lucy eine Doppeltür und wir waren draußen.
Der kalte Winterwind schnitt sofort eisig ins Gesicht und brannte die stickige, sauerstoffarme Wärme von drinnen von der Haut und aus dem Gedächtnis. Ein überraschend weitläufiger Platz erstreckte sich nun vor uns und dahinter ragten die rauchenden Schlote der Verbrennungsanlage in den Schatten der Nacht empor. Wir waren wohl direkt auf der anderen Seite der beiden Bürotürme herausgekommen. Trotz der Kälte unterließ ich es aber den Mantel über der Jacke enger um mich zu ziehen. Mit zwei Frauen an der Seite war so etwas gefährlich.
»Wie weit ist es bis Raum A7?«, fragte ich.
»Nicht lange«, erwiderte Lucy. »Es ist gleich dort drüben, im nächsten Komplex.« Ihre rot lackierte Zeigefingerspitze deutete auf die schattenhaften Umrisse, die sich auf der anderen Seite des Platzes emporhoben. »Dahinter liegt die Müllgrube, der große Trichter und die Verbrenner-Anlage mit dem Kran. Wenn Sie Glück haben, machen die Arbeiter gerade Pause. Ansonsten müssen Sie wohl in den wirklich unangenehmen Bereich unseres Unternehmens eintreten… Ich würde in diesem Fall empfehlen, an der Ausgabestation eine Gasmaske zu beantragen. Ansonsten ist die Müllgrube und insbesondere der Bereich direkt um den Trichter herum nicht zu empfehlen…«
»Was macht eine hübsche Frau wie Sie in einer Müllverbrennungsanlage?«, fragte ich. Lucys Absätze stoppten vor mir und in einer einzelnen fließenden Bewegung drehte sie sich um und schenkte mir ein Lächeln, dass ich nicht ganz deuten konnte.
»Was macht ein hübscher Mann wie Sie bei der Ausländerbehörde?«, fragte sie.
»Ich jage Illegale, Miss Keller.«
»Und das ist eine gute Arbeit, Mister Caballero?«
»Ich bin zumindest gut darin«, erwiderte ich.
»Aber macht es Spaß? Sie sehen aus wie jemand, dem es Spaß macht, anderen Leuten wehzutun.«
»Nur wenn sie mir zuvor wehtun, Miss.«
»Ah, Sie sind also Masochist und kein Sadist.«
Ich antwortete nicht. Erst nach einer halben Ewigkeit unterschied ich Jerikas Stimme von Lucys. Ich schüttelte den Kopf.
»Ich bitte um Verzeihung, Miss Keller, ich wollte nicht den Eindruck erwecken, ich würde Ihre Arbeit hier nicht schätzen.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Mister Caballero«, erwiderte Lucy leicht schnippisch. Sie schritt erneut voran. Ihre zierliche Figur, die hypnotisch wippenden Schultern, der wackelnde Arsch, sie führte uns auf dem Weg durch die öde Finsternis – wie ein Leuchtturm in der Nacht. »Ich nahm keinen Anstoß an Ihren Kommentar. Ihre Frage ist wohl berechtigt. Auch ich… muss ich zugeben, hätte bis vor kurzem nicht daran gedacht, jemals im öffentlichen Bereich zu arbeiten.«
»Was haben Sie denn zuvor gemacht? Wenn Sie mir diese Frage noch erlauben…«
»Scheuen Sie sich nicht mit Ihren Fragen, Mister Caballero. Dazu bin ich schließlich da – um alle ihre Sorgen und Nöte anzuhören. Ich war medizinische Assistentin… im Cyalt and Co. Das ist das private am Stadtrand…«
»Ich kenne das Krankenhaus«, erwiderte ich und die hässlichen Schmerzen meiner letzten regulären Wartung stachen urplötzlich in mein Gedächtnis. Ich fragte mich in diesem Moment plötzlich, ob ich mir jemals eine der privaten Behandlungs-Suits leisten könnte. Gerüchte besagten, dass die oberen Zimmer und deren Service angenehmer wären, als in manchen Luxushotels. Automatische Medi-Bench und Anästhetikum, eine Bar voller Rum-Sorten ohne Synth-Kram!, ein Bett so weich und warm wie die Damen im VP und ein Ausblick, der selbst diese Stadt schön malte. Aber um dieses Privileg zu erhalten, musste man schon ein geklonter Undertaker von den Großen Fünf sein. Vielleicht würde ja die Prämie für einen K/464sogar ausreichen…
»Ich hoffe nicht von innen«, lachte Lucy und es war das erste Mal, dass ich bemerkte: sie hatte keine Furcht mehr vor mir. Doch je mehr sich das Mädchen für mich aufwärmte, desto suspekter wurde sie mir. »Die Arbeit dort hat mir eigentlich gut gefallen. Ich helfe gern den Menschen, verstehen Sie?«
»Und dennoch sind Sie weggegangen. Und hierhergekommen.« Ich blickte mich um.
In Lucys Stimme schwang nun so etwas wie Stolz gemischt mit Schmerz. »Es gab… Meinungsverschiedenheiten mit meinem alten Arbeitgeber…«
»Er wollte sie vögeln und sie wollten nicht?«, knurrte Decker von hinten und ich hätte ihn gerne geschlagen.
»Nein! Nein!, Mr… ich… nun ja…«
»Lucymaus will sagen, sie wollte Menschen helfen, die aber kein Geld für Hilfe haben«, sagte Jerika.
»Das ist nobel«, sagte ich.
»Aber auch dumm, meinen Sie.« Lucy konnte ihre Verbitterung nicht ganz verbergen, auch wenn sie sich kläglich Mühe gab. »Das haben meine alten Kollegen auch gesagt. Doch hier…« die junge Frau deutete auf irgendeinen imaginären Punkt vor ihr, »hier sagt man das nicht. Es ist wie eine Familie hier. Ich war… tatsächlich froh, als mich das Arbeitsbeschaffungsprogramm letztlich hierher transferiert hatte.«
Meine Augen verengten sich.
»Sie meinen das Programm für Extraterritoriale… Sie kommen aus Midwest?«, fragte ich misstrauisch.
»Jawohl.«
»Sie sind ein Flüchtling.«
»Und Sie sind ein Soldat, Mister Caballero… zumindest waren Sie es einstmals.«
Ich stockte.
»Sie sehen erstaunlich viel, Miss Keller.«
»Ich beobachte nur: Die Art, wie Sie reden, Ihre Haltung. Ich komme tatsächlich aus German-Midwest, wie Sie richtig festgestellt hatten, Mr. Caballero. Sie sind Soldat.«
»Und ich habe das Blut auf Ihrer Jacke gesehen, Mr. Schick. Ah, was haben Sie nur getan?«, flötete Jerika irgendwo hinter mir – wie es schien – zutiefst belustigt.
»Ich habe es versucht«, sagte ich.
»Ich auch«, erwiderte Lucy. Und ich verstand nicht.
»Pass auf!« Die Nervschaltung knirschte auf meiner Gehirnrinde. Der Schmerz entstellte für einen Moment mein Antlitz, doch Lucy hatte mir glücklicherweise den Rücken zugedreht. »Das Luder hat dich um den Finger gewickelt.«
»Ich forsche die Verdächtige lediglich aus, Sir«, erwiderte ich.
»Das tut sie auch. Offensichtlich. Sei vorsichtig mit dem, was du preisgibst, Caballero. Du wirst das hübsche Ding vielleicht noch heute Nacht erschießen müssen.«
Ich antwortete nicht. Decker hatte Recht – wie immer. Ich hätte mir zu gerne nun eine Zigarette angesteckt. Für eine Weile schritt unsere kleine Gruppe schweigend dahin. Ich blickte mich um. Der Platz schien bereits eine Müllgrube zu sein, ich sah ausgeschlachtete Jeeps und Trucks und die verrosteten Skelette von Baggern und anderem Industrie-Gerät. Ihre nächtlichen Schatten ragten zu unseren Seiten empor – ein Elefantenfriedhof am Ende der Welt – so schien es mir.
Ein leichter Nieselregen setzte nun ein und der Wind heulte stärker denn je. Meine angeschalteten Augen konnten jedoch selbst in dieser Dunkelheit sehen, wie sich Lucys feine Nackenhaare aufstellten. Ihre bloße Haut schimmerte unter den durchsichtigen Beinstrümpfen. Ob ein Mutant die Kälte spürt?, fragte ich mich.
»Sie haben sie mir gegeben, aber ich denke, Sie brauchen sie mehr als ich.«
Bevor Lucy reagieren konnte, hatte ich ihr die Jacke von hinten übergestülpt, als wäre sie eine Anziehpuppe und ich ein spielendes Mädchen. Wohl aus Reflex schlüpfte sie sofort in die Ärmel, bevor sie schließlich sich umdrehte und vehement protestierte:
»Nein, nein, Mister Caballero. Das geht doch nicht. Und außerdem… ich komme ja aus Midwest. Ich bin harte Winter gewöhnt…«
Auch Winterblumen brauchen also Schutz vor Frost, dachte ich mir.
»Ich insistiere, Miss Keller. Ihr Zittern kann doch wirklich niemand mitansehen.« Ich nickte ihr zu.
»Nun ja, wenn Ihnen mein Zittern so furchtbar auf die Nerven geht, kann ich wohl nicht nein sagen… Vielen Dank… Caballero.«
Und da lächelte Sie mich tatsächlich an. Und ja, ich muss mein Geständnis von zuvor wiederholen: Zum zweiten Mal in jener Wacht wurde mein Herz betrogen. Ich sah sie und die Freude floss von dem süßen Blick auf mich. Lucy Keller, die mich anlächelte, Lucy Keller die mit einer verlegenen und eleganten Drehung ihrer Finger sich eine feuerrote Strähne aus dem anmutigen Antlitz strich. Ihr Parfüm war Weihrauch und Schwefel und Frühlingswetter im Winter. Ich war nun auf ewig verloren – zum zweiten Mal.
»Können Sie uns etwas über diesen Frank Delgado sagen, Missy?« Deckers Stimme schnitt schroffer durch die Luft als die Kälte und trennte unser beider Geister wie das Klopfen von Eltern die Lippen zweier verliebter Teenager auf dem Zimmer. Zumindest fühlte ich so. Was Lucy in mir sah – Mann, Monster oder Hund – das wusste ich nicht. Sie drehte mir wieder den Rücken zu – ihr Nacken leuchtete mir aber noch wie eine weiße Wolke am Tag und ihr Haar brannte wie eine Feuersäule in der Nacht. Ich schüttelte den Kopf. Je länger die Nacht dauerte, desto stärker überlappten die Bilder meine Augen und desto tiefer sanken ihre Wurzeln in meinen Geist.
»Ich muss gestehen, Mister Decker, ich bin neu hier in diesem Unternehmen. Ich weiß noch nicht allzu viel über meine Kollegen. Aber ich denke… auch Mister Delgado ist erst vor kurzem unserer Familie beigetreten.«
»Das ist uns bereits bekannt. Haben Sie aber einmal persönlich mit ihm gesprochen? Wenn ja, wie war Ihr Eindruck von ihm? Scheuen Sie sich nicht über Details zu sprechen. Alles wichtig, verstehste? Für unsere Arbeit brauchen wir jede Information, die wir kriegen können.«
»Nun ja, wenn sie so fragen…« Lucy zögerte und ich wusste, dass sie mit sich rang. Letztlich entschied sie sich dafür, uns nichts zu sagen: »Ich würde sagen… er ist Idealist.«
»Wie Sie, Miss Keller?«, fragte ich
»Wie wir alle. Ich denke, jeder Mensch sucht letztlich das Gleiche, Mister Caballero, auch wenn jeder von einem anderen Blickwinkel aus anfängt.« Lucys Stimme klang wesentlich kühler als zuvor. Diese zarte Blume hatte ich wohl zertreten. Ich grinste und stumm folgten wir weiter der Führung der jungen Frau, die ich nun als Butcherin erkannte.
Letztlich durchquerten wir die Schatten der beiden Verbrennungstürme ohne Zwischenfälle und wir hatten den niedrig geduckten Komplex am anderen Ende des weiten Platzes erreicht. Ein flackerndes Licht fiel durch eine Glastür in die dunkle Nacht und stoppte vor unseren Fußspitzen. Lucy blieb stehen. Ich straffte meine Muskeln und rechnete mit allem.
»Ich muss mich für die Unannehmlichkeiten entschuldigen, meine Herren. Für die Dunkelheit meine ich. Die Lampe ist leider noch nicht repariert worden. Bitte achten Sie deshalb im Gang auf ihren Tritt. Sie wollen ja nicht in der plötzlichen Dunkelheit irgendwo anstoßen. Das Licht kann auch manchmal ganz ausgehen.«
Mit einem überraschend kräftigen Schwung, den ich der zierlichen Lucy nie zugetraut hätte, öffnete sie die Tür und ein Schwall von stickiger Wärme und Heizungsluft begrüßte uns. Decker musste laut niesen. Wie Entenkinder schritten wir hinter Lucy hinein in den schummrig erleuchteten Korridor. Die junge Assistentin stand vor uns und deutete auf eine unscheinbare weiße Tür zu unserer Rechten. Das Licht flackerte erneut und ließ ihre weißen Zähne aufblitzen. Mir fielen zum ersten mal ihre etwas großen Eckbeißer auf.
»Hinter dieser Tür befindet sich die Recreation- und Psycho-Wartungsanlage für unsere Schichtarbeiter.«
»Gut«, sagte Decker und drängte sich neben mir nach vorne. Doch erstaunlich mutig stellte sich Lucy vor die massige Gestalt meines Kollegen und versperrte die Türe.
»Bitte… meine Herren… wenn ich so forsch sein darf, diesen… Vorschlag zu machen: Würden Sie mir bitte gestatten mit den Herren Kollegen zu sprechen, bevor Sie Ihr… Verhör beginnen. Das wäre mir äußerst wichtig.«
»Warum das?« Decker schien ganz und gar nicht begeistert und ich machte mich bereit, die zierliche Frau so forsch wie nötig aber so sanft wie möglich aus dem Weg zu räumen.
»Nun ja, Sie verstehen doch sicherlich… ihre Erscheinung könnte meine Kollegen sicherlich erschrecken und einige von uns… nun ja… sie sind überzeugt von dem, was sie glauben und viele denken nun mal… dass ihre Behörde gegen ihre Überzeugungen steht…«
»Denken Sie auch so, Miss Keller?«, fragte ich.
»Ich versuche Ihnen und meinen Kollegen nur zu helfen. Das ist meine Überzeugung«, erwiderte sie kühl.
»Gehen Sie rein. Sie haben zwei Minuten. Dann kommen wir mit den dicken Dingern.« Decker tippte demonstrativ auf seine gefälschte Rolex-Armbanduhr. Lucy nickte hastig, öffnete die Tür und verschwand dahinter. Ich drehte mich entgeistert zu Decker und vergaß darüber, sogar über Nervschaltung zu funken.
»Warum?«
»Ihr Argument war einleuchtend. Wir sind hier in Feindgebiet, Caballero. Vergiss das nicht.«
»Ist sie nicht ebenso der Feind?«
»Ja. Sie wird offensichtlich die Butcher warnen und das wird wiederum die Aufmerksamkeit unseres eigentlichen Gastgebers auf sich ziehen. Ich habe den Plan geändert, Caballero. Wir brauchen Konflikt.«
»Du willst ihn provozieren.«
»Ich will Ihn aus der Deckung locken.«
»Du denkst, der Mutant wird tatsächlich kommen… zu uns.«
»Mach dich bereit, Caballero. Gleich darfst du Fass machen.«
Decker grinste, im schummrig flackernden Licht wirkte sein Antlitz wie eine aufgedunsene Wasserleiche neben den wundervoll gemeißelten Zügen Jerikas.
Ich nahm meine Hammerkrag in die Hand. Der Stahl fühlte sich so wuchtig und verlässlich wie immer an, der silberne Lauf schimmerte wie eine Schwertklinge in Mondeslicht getaucht.
»Oh, ist das eine dicke Kanone.« Ich spürte Jerikas feuchten, warmen Atem in meinem Nacken. »Nur eine reine Vorsichtsmaßnahme, Miss, keine Sorge. Bitte bleiben Sie zu Ihrer Sicherheit zurück«, murmelte ich.
»Sicherheit? Wo ist es denn sicherer, als hinter Ihrem breiten Rücken?«, seufzte Jerika. Mein Herz schlug schneller. Mein Blutdruck erreichte innerhalb weniger Momente nach meiner Aktivierung abnormale Höhen, die tödlich für jeden normalen Menschen gewesen wären. Ich konnte es kaum erwarten, dass Decker das Zeichen gab. Der ganze Körper unter der Nanopanzerschicht war zum Zerreißen gespannt, als die Muskeln ruckartig anschwollen. Ich war eine Pistole mit gespanntem Hahn, ein Bluthund, der an dem Käfig rüttelte.
»Noch T-30 Sekunden«, knirschte Deckers Stimme in der Nervschaltung.
Das Licht ging aus. Die Glühbirne über uns summte wütend und zerplatzte. Von einer Sekunde auf die andere wurden wir in Schwärze und Blindheit getaucht. Ein spitzer Schrei erschallte. Er war nicht aus Jerikas Mund entflohen.
Ihr Haar war das Schwarz von Raben und tief in Erde verborgener Kohle, es umfloss das schimmernde und glänzende Gesicht wie die dunklen Fluten, die die alte Welt verschlungen hatten. Ihre langen Beine trotzten nackt der eisigen Winterkälte, ein Apex-Predator auf der Lauer. Ihre rotlackierten Schuhe mit spitzen Absätzen schienen den Schnee um sie herum zum Schmelzen zu bringen und die dunklen Augen lächelten mir zu, obwohl sie mich – hinter der geschwärzten Scheibe – sicherlich nicht sehen konnten.
Ich hatte mein Ziel erreicht. Im Rücken der Fremden, die sich wie eine Sphinx vor mir erhob, türmten die beiden rostigen Nadeln des Old-Light-Komplexes empor – deren zweckgebundene Ödnis und Schlichtheit bestärkten nur die transzendente Schönheit der glimmenden Winterblume unter ihr. Zwei abservierte Trottel blickten geschlagen auf eine aufregend begehrliche Beute. Als ich sie sah, da wusste ich sofort, ich würde der dritte im Bunde der Rindviecher sein.
Ich würgte den Wagen des Fords ab und stieg aus. Ich schlenderte zu der Fremden hinüber – als hätte ich nichts getan oder als hätte ich nichts vor – und das Licht der Straßenlaterne, in dem sie sich badete, gab mir Ausrede und Gelegenheit, sie noch näher zu betrachten. Erst als ich kurz vor ihr stand, bemerkte ich, dass es sich bei dem angeblichen Lichtspender um den getarnten Von-Neumann-Melder handelte. Die winzigen Kabelfortsätze unter den Schirmen markierten den Unterschied für den praktischen Kenner.
Meine Augen waren aber schon längst gefangen von illustren Formen und formvollendeten gezeichneten Kurven, die den so meisterhaft wie idiosynkratischen Künstlerhänden des REM-Zyklus entstiegen zu sein schienen. Die Fremde trug eine dieser neumodischen Pseudotrans-Jacken – der neueste Schrei im Veiled Passions. Quälende Illusionen, die mit Enthüllung lockten aber gekonnt das warme, weiche weiße Fleisch darunter unter milchigen Schlieren und Halbdurchsichtigkeit verbargen. Sie war eine nackte Tänzerin hinter Glas und Wasserdampf. So gekonnt war dieser Trick und so pervers vollkommen in der Vollendung, dass mich alle meine leiblichen Sinne anschrien: komm nur ein bisschen näher, neige deinen Hals etwas tiefer und schiebe deinen Kopf in diesen Dornenstrauch, um die leuchtende Rose darunter zu bewundern.
Ich stand nun vor ihr.
Ihre eisblauen Augen musterten mich für den Bruchteil einer Sekunde nur. Von Kopf bis Fuß, von den Zehen bis zu den wirr abstehenden blonden Haarsträhnen unter dem braunen Hut prüfte der Blick der Löwin ihr Ziel. Ich hatte offenbar ihr Interesse gewonnen. Sie lächelte mit ihren vollen roten Lippen und ein Glanz von Schalk glimmerte in den gleichmütig glühenden Augen. Ich war mehr als einen Kopf größer. Ich war von Beruf Jäger, aber sie hielt nun meine Flinte. Ich war ihre Beute, nicht sie die meine. Und dann passierte etwas, womit ich nicht gerechnet hätte – womit Männer wie ich nie rechnen in kalten dunklen Winternächten. Sie sprach mich an. Ihr Atem kristallisierte sich in der klirrenden Luft. Der warme, fruchtige und süße Duft ihres Parfüms umschmiegte meine frierende Nasenspitze.
»Hey, Mister Schick! Bock auf Asche stampfen? Vielleicht Asche schnippen?« Ihre Stimme mit diesem seltsam fremden Akzent war so dunkel wie die geheimnisvolle Nacht und strahlte die selbe raue Faszination aus wie die Nordseite des Mondes. Ich zückte ein Streichholz und schob ihr die Synth-Zigarette in den vollen roten Mund. Sie ließ es geschehen. Ihre schwarz geschminkten Augen flackerten auf – die stürmische See unter Kanonenbeschuss – als ich ihr die Zigarette entzündete. Weißer Rauch stieg zum Himmel empor und weißer Schnee fiel auf ihre spitze Nase und schmolz auf der weißen Haut.
»Nur zu gerne, Ma´am. Angenehm, Ma´am. Dürfte ich um Ihren Namen fragen?«
Sie nickte leicht und der rote Mund öffnete sich, zeigte weiße spitze Zähne und den Eingang zur Hölle.
»Jerika, Miss Jerika Mun Schoy«, sie inhalierte tief und blies mir spielerische Trugbilder von Rauch und Wasser ins Gesicht. Durch den Nebel sah ich für einen fliehenden Moment ihr selbstsicheres Grinsen. Die wunderschön gemeißelten Züge, die elegant geformten Wangen und Stirn und Nase und Kinn. Ein Schleier zwischen meinem Herzen und der Eucharistie. »Freut mich, guter Mann. Großer, starker Mann! Ein Neuzugang und Feuer und Asche! Ah, jetzt wird es aufregend, Mr. Schick!«
»Freut mich auch, Miss… Mun Schoy.« Ich wollte noch etwas sagen. Wollte einen guten Witz reißen oder eine schlaue Bemerkung fällen, aber mir fiel nichts ein. So blieb ich stumm und betrachtete sie, wollte sie mustern, wie sie mich gemustert hatte, aber mein Blick war der Blick eines Schafes vor dem Schlächter. Schließlich schüttelte ich den Kopf und wandte mich ab.
»Hey, Mr. Schick. Großer starker Mann! Bleib doch hier. Noch eine Weile… Hier ist es kalt und einsam und es ist gerade Schicht im Schacht… so wie die großen Männer sagen. Lass uns ein bisschen Asche schnippen, Asche stampfen. Gemeinsam…«
Hätte ich mich umgedreht, ich hätte ihrem Blick sicherlich nicht standgehalten.
»Das Angebot ist mir eine Ehre, Miss, aber ich bin dienstlich hier«, sagte ich.
Ich hätte mich nur zu gerne für diese Worte erwürgt, aber die Pflicht drängte mich in der Tat. Ich war nicht auf Freigang. Ich hatte eine Mission. Und so schmerzte es mich fürchterlich, als ich mich von der mysteriösen Fremden abwandte und meine weiteren Schritte die Treppe im Schatten der Old Light Towers hinauflenkte.
»Ah, Mr. Schick! Du bist ja wie all die andern! Langweilige Männer! Allesamt!«, kicherte sie hinter mir her und ich musste wiederum alle Kraft aufwenden, um mich nicht mehr umzudrehen. Ich löschte stattdessen ihren Anblick aus meinem Gedächtnis – oder zumindest versuchte ich dies zu tun. Ich holte tief Luft und konzentrierte mich wieder auf die anstehende Arbeit. Über Hundert Prozent… Der K/646 hat Vorrang. Ich knackte mit meinen Knöcheln. Ich war wütend, frustriert und wollte irgendetwas töten oder vögeln.
Die automatischen Glastüren öffneten sich vor mir und ein warmer Luftzug schlug mir ins Gesicht. Ich trat ein und blickte mich um. Es war ein hundsgewöhnliches Foyer wie es in jedem x-beliebigen Bürogebäude einen begrüßte: Ein Rezeptionstisch mit abgerundeten Kanten, anonyme Wartestühle und eine grelle, subtil flackernde Lampe, die künstlich wachhielt, aber den Geist ermüdete. Nichts hier deutete daraufhin, dass heute Nacht ein Kampf um Realitäten hier stattfinden würde. Menschen arbeiteten hier, wie an jedem anderen Tag. Sie standen auf, putzten ihre Zähne, duschten sich, zogen sich an, schlangen widerliches High-Protein zum Frühstück hinunter und machten sich gestresst und deprimiert auf zur Arbeit – entweder in irgendeiner Rostbüchse oder im überfüllten verdreckten stinkenden niemals pünktlich ankommenden Nahverkehr und obwohl dies alles genau wie eh und je abgelaufen war, waren sie nun zu Geiseln geworden. In irgendeinem Stockwerk, in irgendeinem Büro – vielleicht hinter irgendeinem Bildschirm kauernd und auf Wiregrid-Tabellen starrend – saß ihr Verhängnis. Es lauerte etwas in den Schatten dieser beiden Türme. Und es hatte wahrscheinlich bereits begonnen zu jagen.
Ich musste mich nicht lange umblicken. Die Glatze Deckers leuchtete mir von der Rezeption her entgegen. Er winkte mir zu. Ein Ausdruck von nur mühsam kontrollierter Wut und Ungeduld stand auf seinem Gesicht geschrieben, was aber nicht viel heißen mochte. Das war die Standard-Mine des Kollegen. Ich ging zu ihm rüber. Er packte mich am Revers und zog mich zu ihm herab. Der Geruch von scharfem Zitronenkautschuk schlug mir aus seinem Atem entgegen und ich musste beinahe würgen. Ich verzog demonstrativ mein Gesicht, um zumindest wortlos meinen Unmut auszudrücken.
»Wo zum Henker bleibst du, Caballero?«, sagte Decker in einem gedämpften Ton, der jedoch nicht ganz seinen Zorn verbergen konnte. Er blickte sich dabei um, als fürchtete er allzu weit aufgesperrte fremde Ohren. Auch das war Standardprozedur bei ihm – kam wohl mit dem Job, wenn man in OpSec arbeitete.
»Das war dein Vorschlag mit den Ki-Übugen. Zudem musste ich vor dem Tatort an einem Zivilisten vorbei. Konnte nicht einfach so an ihr vorüberstürmen, ohne mich verdächtig zu machen.«
»Ihr? Wen meinst du? Wen hast du um diese Uhrzeit hier gesehen?«
Ich erzählte ihm von meinem Rendezvous mit der seltsamen Fremden, wobei ich das Geheimnis ihrer Schönheit eifersüchtig für mich behielt. Als ich geendet hatte, knetete der Alte seine unförmige Nase und besah mich kritisch:
»Entweder du lügst mich an oder du hast das dümmste Weib in den New Hopes aufgetrieben… Nachts auf der Straße und Mutterseelenallein in diesem Drecksloch unterwegs – und nach deinem Blick zu Urteilen, waren ihre Möpse nicht von schlechten Eltern… Ah, schau nicht so, du bist zu einfach zu durchblicken, Caballero. Ich kann mir schon vorstellen, warum du bei ihr festgenagelt warst. Wie auch immer: Ich hoffe für deine… Zivilistin, sie verzieht sich ins Innere und zwar schnell. Bevor sie diese Metzger von Aztec Revived finden. Erst neulich ham diese Reject Hurensöhne eine wieder unten am Fluss geschlachtet und…«
Decker stoppte mitten im Satz und blickte sich um. Seine Augen blieben an der Eingangstür hängen und sahen wohl etwas, was meine angeschalteten Kunstwerkzeuge nicht wahrnehmen konnten. Er seufzte. Ein Ausdruck von angehender Migräne verzerrte kurzzeitig das schlaffe Gesicht und verengte die tief sitzenden Augen. Schließlich fuhr er leiser fort:
»Genug damit. Du siehst absolut beschissen aus, verstehste, Caballero? Wie aus einem verdammten Schlitzer-Streifen. All das Blut und dann die Augen… Jede Frau – und ganz besonders sone scharfe Ausländerin wie du beschreibst – würde doch sofort Reißaus nehmen.
So ramponiert kannst du auch nicht arbeiten. Wir müssen schließlich unter die Zivilisten hier: Da hinten!«, er deutete zu einem Punkt in meinem Rücken. Der fettige, von Adern durchzogene Finger zitterte vor meinen Augen – von einem Gichtanfall gebeutelt. »Da isn House de Shit, wie die Franzosen so schön sagen. Wasch dir zumindest das Gesicht und die Pranken – ich besorg dir unterdessen neue Kleider. Mucho pronto, Caballero!«
Decker hatte Recht. Als ich in den Spiegel blickte, sah mir ein Monster entgegen, dass ich nicht kannte. Verkrustete Blutspritzer befleckten meine Jacke, mein Gesicht und färbten meine Hände tiefrot. Reste von Fleisch und Knochen besudelten meine Ärmel. Die Reptilienaugen glühten in einem animalischen Gelb, in meiner Hast hatte ich ganz und gar meine Kontaktlinsen im Schneematsch vor dem 7/11 vergessen. Doch am schlimmsten war dieses seelenlose Grinsen, über das ich keinerlei Kontrolle hatte. Über Hundert Prozent… So siehst du auch aus. Selbst die Bettler unter der 3. State Bridge, aufgebläht mit purem Narc und sonstigem Teufelszeug, hatten wohl bessere Aussichten auf ein Date als ich heute Nacht.
Ich spritzte mir kühles Wasser ins Gesicht und wusch meine Hände gründlich, aber die Flecken auf der Jacke würde ich so nicht wegbekommen. Ich konnte also nur hoffen, dass Decker tatsächlich irgendwie neue Oberkleidung auftrieb. Wie auch immer er das in dieser kurzen Zeit anstellen mochte. Aber auf Decker war Verlass. Das wusste ich.
Wenn ein K/464den öffentlichen Frieden gefährdete, wenn das Schicksal von vielen auf Messersschneide stand, dann zogen alle ihren Kopf ein: Die Polizei, die Marines, die 7. Kavallerie und die Rats-Exekutive – aber der alte Decker? Der war da, mit mir im Schützengraben sozusagen, in all seiner glatzköpfigen und hakennasigen Pracht. In all seiner schmierigen Eleganz. Decker konnte man nicht loswerden – war genauso treu wie Herpes und Fibromyalgie.
Als ich die Toilette verließ, sah ich, wie mein Kollege angeregt mit jemandem diskutierte. Die Person hatte mir den Rücken zugedreht, doch die zierliche Gestalt und der gefaltete Rock entdeckten die weibliche Form sofort. Die schlichte aber elegant geschnittene marinblaue Uniform ließ darauf schließen, dass sie wohl eine höhere Angestellte war – wenn auch nicht zur Chefetage selbst gehörend. Ich tippte auf eine Assistentin oder die persönliche Sekretärin eines hohen Schreibtischtäters. Ich musterte eindringlich ihr Profil, während ich mich näherte. Große Brüste – gefielen mir sofort – drahtiges langes rotes Haar – gewöhnungsbedürftig aber dennoch mit Faszinationskraft – und schließlich der perfekt rundliche Mond, der sich mir förmlich entgegenzustrecken schien. Sie bückte sich zu Decker hinunter, der immer noch auf seinem Stuhl saß und gestikulierte irgendetwas auf einem altmodischen Klippbrett herum. Natürlich bemerkte Decker meinen Blick sofort.
»Ah, unser Caballero, der fromme Held der Stunde gesellt sich endlich zu uns. Hier, das ist… ehm, Schätzchen, wie war noch gleichmal ihr Name?«
»Ah, hallo, mein Name ist… oh!« In ihren jadegrünen Augen stand – nur für einen Moment – ein schreckliches Entsetzen. Sie hielt ihren Atem an, ihre schlanken Finger bedeckten ihre schneeweißen Zähne und ihren vollen roten Mund. Schweißperlen brachen zwischen den zahlreichen Sommersprossen hervor. Oh ja, sie hatte Angst. Aber sie hielt sich erstaunlich gut. Nur für diesen Bruchteil einer Zehntel Minute verlor sie die Kontrolle, verlor die höfliche Herablassung, die jedem Angestellten vom ersten Arbeitstag an eingedrillt wurde und wurde stattdessen ein gejagtes Kaninchen. Schließlich straffte sie aber ihren Körper und ihre sanfte, helle Stimme verriet keine Furcht. Ihre grünen Augen visierten die meinen und da war sie wieder: diese nichtssagende Höflichkeit und subtile Verachtung, die jeden Mitarbeiter im Service wie ein Schutzpanzer oder eine Art von abweisendes Miasma umgab.
»Mein Name ist Lucy. Lucy Keller! Freut mich Sie und Ihren Kollegen kennenzulernen. Und dürfte ich noch ihren Namen erfahren? Für mein Protokoll… Es ist mir auf alle Fälle eine große Ehre, Ihnen und Ihrem hohen Amt behilflich sein zu dürfen!«
»Ah, das da ist nur unser Caballero«, rief Decker, zwickte mich am Arm und führte mich vor, als ob ich sein begriffsstutziger Enkel wäre. »Hier, sieh ihn an, den unglücklichen Tölpel! Fährt zur Arbeit und kommt unter die Räder von irgendwelchen Rejects! Zum Glück für unsere Behörde hatte er aber Glück im Unglück, wie sie sehen. Er lebt noch. Was mich aber zu meiner vorherigen Bitte zurückführt: Wie sie sicherlich ebenso sehen, braucht mein Kollege einen neuen Anstrich, zumindest eine Arbeitsjacke oder etwas in die Richtung könnte behilflich sein. Immerhin… Wir wollen ihn ja nicht in diesem wüsten Auftritt ihre Kollegen schrecken lassen, verstehste Schätzchen?«
»… Nein… nein, das… eh… wollen wir sicherlich nicht«, stotterte das arme Ding. Sie tat mir irgendwie Leid. Ich war schon im normalen Zustand wahrlich kein schöner Anblick. Und jetzt mit meinen abgerissenen Kleidern, dem ganzen Blut und die angeschalteten Augen hätte ich es ihr wirklich nicht übel genommen, wenn sie wild schreiend davongelaufen wäre. Aber sie lächelte einfach nur. Lediglich ihr Blick verriet leicht einen Schimmer von Unsicherheit und Furcht. »Aber… ihre Augen, Mister«, sagte sie. »Sie… Sie sehen wirklich nicht gesund aus, wenn sie mir diese Bemerkung gefallen lassen. Von Rejects überfallen… das ist ja furchtbar. So schrecklich! Was für ein Glück, dass sie mit ihrem Leben davongekommen sind! Sollten wir sie aber nicht sofort in ein Krankenhaus bringen? Was auch immer sie hier zu tun haben, kann doch sicherlich warten, bis die Behörde einen anderen Mitarbeiter schickt… Und sie wollen doch sicherlich zuerst gesunden.«
»Gesunden?«, Decker lachte dreckig. »Ach, der Caballero sieht immer schlechter aus, als es ihm geht. Sie sehen ja: er steht aufrecht. Und die Augen? Nun ja, seine Eltern waren näher verwandt, als die Kirche erlaubt. Aber Liebe ist nun halt Liebe… verstehste?«
Die blutjunge Assistentin blickte noch verwirrter als zuvor. Und in diesem Moment hätte ich das zierliche Ding gerne in den Arm genommen. Aber ich wusste, dass es das nur schlimmer gemacht hätte – viel schlimmer.
»Mein Kollege scherzt gerne«, sagte ich und versuchte entgegen meines Trainings meine Augen abzuwenden. »Aber ja, es ist wahr, ich leide tatsächlich an einen seltenen Gendefekt… diese Augen habe ich seit meiner Geburt. Ich hoffe, ich schrecke sie nicht allzu sehr.«
»Oh, nein, oh nein, Mister, eh, Caballero! Ganz und gar nicht!«, beeilte sie sich zu erwidern und schüttelte den Kopf heftig. Ich schnupperte dabei die hüpfenden Partikel ihres Parfüms in der Luft – Jasmin von der Smaragdsonne. »Sie schrecken ganz und gar niemanden hier! Es sind ja sie, der verwundet ist.«
Und urplötzlich wurde die helle sanfte Stimme erstaunlich fest und fordernd: »Ich muss deshalb wirklich insistieren – oder zumindest darum bitten – sie ins Krankenhaus bringen zu dürfen. Ich sorge mich wirklich um sie!« Zu meiner Überraschung erkannte ich keine Lüge in ihrer Stimme.
»Krankenhaus? Schätzchen, bei uns armen Kirchenmäusen von der Behörde hat doch keiner eine Krankenversicherung, verstehste? Wollen sie den guten Caballero hier in den Schuldturm treiben?« Decker schnalzte mit der Zunge und klopfte ungeduldig auf den Tisch. »Frische Kleidung ist alles, was wir benötigen. Dann können wir arbeiten und wir werden Ihnen und Ihren Kollegen auch nicht allzu lange zur Last fallen. Das versichere ich Ihnen, Miss Keller.«
»A… aber sicher. Ich werde mich gleich drum kümmern. Doch… falls es ihrem Kollegen doch schlechter gehen sollte, sagen Sie einfach Bescheid. Es würde mir wirklich gar nichts ausmachen, Ihn selbst ins Krankenhaus zu bringen…. Warten Sie hier, ich werde sehen, was ich tun kann und werde den Schichtleiter informieren. So wie Sie wollten, Mister Decker.«
Sie warf uns beiden noch einen letzten Blick zu. Sie zeigte es nicht offen, aber sie musste uns beide wohl für wahre Freaks halten. Schließlich verschwand sie durch die Tür hinter der Rezeption. Wir waren erneut allein im Foyer. Das hielt Decker aber nicht davon ab, über Nervschaltung zu kommunizieren.
»Gut, Caballero, endlich etwas Privatsphäre.«
»Hirnrinden-Kommunikation ist äußerst Ressourcen-intensiv, Sir.«
»Ach, Mäuschen, beschwer dich nicht und halt´s Maul. Es gibt neue Infos… Eine drastische Wendung.«
Drastische Wendung? Ich merkte auf.
Das letzte Mal, als Decker diesen Terminus verwendet hatte, waren wir noch nicht einmal Kollegen gewesen. Ich verrichtete gerade das erste Jahr meines Dienstes als Grunt in Fort Blackthane. Damals hatte ich noch keine Ahnung von der Behörde und den Realitäts-Phoben gehabt. Aber ich erinnerte mich nun an den schmierigen alten Co-Auditoren, der in unsere Baracke kam und im Briefing-Zimmer Massen von Papier auf den Rundtisch knallte. Der Raum stank nach Tabak und Schweiß und man konnte kaum atmen. Überall besorgte Gesichter. »Hören Sie zu, meine Damen und Herren«, hörte ich ihn sagen und schleimig husten. »Drastische Wendung – sie müssen noch heute nach Fort Red.«
Nein, das waren keine besonders schönen Erinnerungen. Meine Augen verengten sich. Ich zündete mir eine Synth an.
»Drastischer als ein K/464?«, fragte ich. Der weiße Rauch stieg zwischen uns auf, aber trotzdem konnte ich durch ihn hindurch jede einzelne Pore, Narbe und Leberfleck auf Deckers schlaffer Haut erkennen.
»Was ist schlimmer, ein Waldbrand oder Benzin?«, fragte er unwirsch zurück. »Ich würde sagen, Arschlöcher benutzen das eine, um das andere zu bewirken… Versprich mir jetzt, dass du nicht gleich durchdrehst. Ich kenne dich, Caballero.«
»Ich bin Profi«, sagte ich.
»Was unterscheidet einen Amateur von einem Profi? Das Blut auf deiner Jacke?« Decker hob die Hand, bevor ich etwas erwidern konnte. »Wie auch immer: Ich hab kurz vorhin nach Hause gefunkt. Wollte mehr Infos über diesen netten Laden hier einholen, bevor wir in den Kaninchenbau eindringen – verstehste… Nun ja, stellt sich heraus: der jetzige Capitano is wohl´n Sympathisant der Societas Nova.«
»Den Butchern gehört der Laden hier?!« Unwillkürlich blickte ich mich um. Meine Augen verengten sich und meine Hand fuhr unbewusst zur Krag unter der Jacke.
»Das hab ich nicht gesagt. Ich sagte nur, dass der Schichtführer gewisse… Kontakte hat.«
»Die kommen niemals allein, Decker, das weißt du.«
»Beruhig dich, Caballero, die werden uns schon nich gleich auseinandernehmen, verstehste. Ich hab hier alles unter Kontrolle.«
»Als was hast du uns ausgegeben, Decker?«
Eine kurze unangenehme Stille erhob sich zwischen uns. Die Lampe summte hörbar. Der Rauch stieg zur Decke empor und die trockene, abgestandene Luft im Foyer ließ mich schwitzen. Decker räusperte sich:
»Offiziell sind wir Agenten der Einwanderungsbehörde. Unsere Aufgabe hier ist es in der Belegschaft nach Illegalen zu suchen… du weißt schon, der Standard-Kram.«
»Beim Unsichtbaren…«
»Wird schon schiefgehen. Die Stadtregierung hat seit längerem einen Waffenstillstandsvertrag mit den Novas. Und ich glaub nich, dass selbst die Butcher scharf auf ein neues German-Midwest sind.«
Ich knirschte mit den Zähnen. Ich hätte gerne mit meinen Augen den Kollegen erdolcht.
»Scheiße, Decker, kein Wunder, dass der K/464ausgerechnet hier aufgetaucht ist… Ein Battle Royale…. Ich hab gesehen, wozu die Gesellschaft in der Lage ist… Das… sind… keine… Menschen!«
»Ich weiß. Ich auch. Ich war auch dort, schon vergessen?«
Ich packte die Hammerkrag, der kalte Griff fühlte sich gut auf der verschwitzten Handfläche an. Mein irres Grinsen spiegelte sich milchig im langen Lauf. Ich drehte leicht meinen Nacken und das Grinsen wurde zum stummen Lächeln von tausend weißen Schädeln in einer tiefen Grube.
»Ich mach sie kalt. Ich mach sie alle kalt. Jeder einzelne von denen muss bluten… ich schwöre, ich mach sie alle kalt«, flüsterte ich heißer und heießr und zielte nach oben zur flackernden Halogenlampe. Ich wollte abdrücken. Dieses Gesicht endlich zerschießen. Manche Narben gingen tief. Zu tief. Ich legte an.
Ein scharfer Schmerz zuckte über meine linke Wange. Mein Kopf drehte sich ruckartig nach Rechts. Verwundert rieb ich mir die Backe.
Decker hatte mir mit voller Wucht übers Gesicht gewatscht.
»Autsch«, sagte ich.
»Wir haben keine Zeit für deine Post-Partum-Psychosen, verstehste. Der Schichtführer kommt gleich durch diese Tür. Du wirst jetzt zwei Dinge tun: 1. Schweigen wie ein Grab. 2. Das verdammte Maul halten. Ich rede und regel das mit den Gesellschaftern. Klar? Du wirst nicht die Kontrolle verlieren wie in Fort Red! Wir brauchen deren Kooperation. Ansonsten werden wir den K/464niemals kriegen. Habe ich mich klar ausgedrückt, Caballero?«
»Jawohl, Sir«, sagte ich. Ich verbarg die Waffe wieder in dem Halfter unter meiner Jacke. Obwohl ich gestehen muss, dass in diesem Moment mein Abzugsfinger gewaltig juckte. Welcher amerikanische Patriot mit Feuer in den Adern würde denn nicht sofort German-Midwest rächen? Aber ich war auch ein Jäger – Deckers Bluthund – und so schwieg ich brav mit zusammengebissenen Zähnen, als der Capitano auftauchte.
»Ich hab es den anderen Handlangern Ihrer Behörde schon Tausend Mal gesagt«, polterte der fette Mann, bevor er überhaupt einen Blick auf unsere gefälschten Ausweise werfen konnte. »Wie oft zwingen Sie mich noch festzustellen: Wir beschäftigen hier in diesem öffentlichen Unternehmen nur einwandfreie Stadtbürger. Alles absolut legal mit den richtigen Dokumenten…« Seine Hand fuhr fahrig durch das schüttere Haar. Die Augen hinter den großen Brillengläsern zwinkerten nervös. Und wann immer er seine graue Krawatte richtete, knisterte der schlecht geschnittene Anzug hörbar. Der untersetzte Schichtleiter schien mir auf den ersten Blick nicht wie ein glühender Fanatiker der Societas Nova, aber solche Eindrücke konnten durchaus täuschen. In Ford Red hatte ich viele von denen umgelegt und manche von ihnen hatte ich einmal für meine Freunde gehalten.
Ich positionierte mich so, dass ich schnell zur Waffe greifen konnte. Unablässig scannten meine angeschalteten Augen die Umgebung ab. Ich wollte Deckers Worten trauen, doch die Butchers mochten zwar intelligenter und zielstrebiger sein, letztlich waren sie aber genauso unberechenbar und brutal wie die Rejects auf den Straßen. Ich dachte an die Grube in Fort Red. Eine Kugel für eine Person. Effizienz angetrieben von Fanatismus. Meine Hand blieb immer in der Nähe der Krag, während die angeschalteten Augen vom schwitzenden Antlitz des Capitanos, über die Tür in seinem Rücken, zum Eingang und schließlich zum Aufzug glitten.
»Decker, mein Name, freut mich auch. Und nun zum Geschäftlichen: Wir kümmern uns nicht um Gesagtes, Mr. Roth, meine Behörde interessiert sich lediglich für kaubare Evidenzen«, emulierte mein Kollege den arroganten pseudofachlichen Behördenton, der keinen Widerspruch duldete. »Also lassen sie mich und meinen Kollegen einmal durch ihr Gebäude marschieren, ihre Akten anschauen und unser Gewissen beruhigen. Dann können wir sie auch schon wieder in Ruhe lassen. Mehr muss heute Nacht nicht passieren.«
»Das sagt ihr immer. Und immer wieder kommt ihr. Ihr Menschenjäger wart doch letzten Monat schon mal auf meiner Schicht. Ihre Kollegen haben nichts gefunden. Und warum? Weil ich ein gesetzestreuer Bürger der Stadt bin. Meine Loyalität gilt den Föderalen Städten, dem Präsidenten, dem Rat und seinen Gesetzen und wir sehen hier das alle so. Also warum können Sie´s nicht unterlassen, mir und meinen Arbeitern auf den Sack zu gehen? Ja, ich muss insistieren: Ihre ständigen Überfälle schädigen mittlerweile die Psyche meiner Angestellten. Meine Familie kann nicht mehr arbeiten, wenn ständig Agenten der Stadt über ihre Schulter blicken. Wenn das so weitergeht, werde ich Beschwerde beim Stadtgericht einlegen! Und ich werde dabei ganz bestimmt Ihren Namen nennen, Mr. Decker!«
»Mr, Roth, Ihnen ist bewusst, dass wir im Auftrag der Stadt hier sind?«
Der Mann schüttelte den Kopf. Und urplötzlich war da dieses gefährliche Glitzern in den Augen – der Blick eines Raubtieres. Diese Fratze kannte ich. Ich spannte meine Muskeln unter der Jacke an.
»Im Auftrag der Stadt sagen Sie?« Er schob seine Brülle über die Nase, hauchte die Gläser an und putzte sie mit einem seidenen Tuch, bevor er sie wieder aufsetzte. Der Butcher lächelte. Und der falsche Arbeiterakzent machte einer gelehrten Art von lauernder Grausamkeit Platz: »Mr… Decker, Ihnen ist bewusst, dass diese Stadt kein Monolith ist? Nein, sie ist ein Vogelnest. Sie füttert nur diejenigen Küken, die am lautesten schreien. Alle anderen müssen verhungern oder werden in die Tiefe gestoßen. Ich – zu meinem Glück – kann sehr laut schreien. Wie laut können aber sie rufen? Und wird sie jemand hören? Hier?«
Decker erhob sich von seinem Stuhl. Ich tat es ihm nach. Er stützte sich mit seinen Händen auf die Rezeption und lehnte sich leicht nach vorn. In der Kaserne damals nannten wir diese Position den zurückweichenden Stier. Decker lächelte freudlos. Seine Stimme war hart.
»Ach, lassen wir diese Spielchen, Freund. Sie müssen mir nicht drohen, denn ich bin hier nicht Ihr Feind. Zumindest nicht heute Nacht.«
»Das ist mir bewusst. Sie sind kein Feind. Sie sind Müll. Doch selbst Abschaum wie euch entsorgen wir hier nicht… nein, ihr werdet nicht die Ehre bekommen, der Stadt Wärme zu spenden…«
Ich verengte meine Augen. Gewalt lag nun wie eine schwere Wolke von Schweißpartikeln und Ölgeruch in der Luft. Doch ich sah niemanden außer die untersetzte Gestalt des Butchers vor uns. Er meinte es aber Ernst mit seiner Drohung. Das war klar. Ich tastete nun behutsam mit meiner Hand nach der Krag. Ja, der Griff fühlte sich angenehm kühl an.
»Gut. Sie gewinnen. Wir gehen.«
Mein Training zwang mich, das Arschloch der Societas Nova stets im Auge zu behalten, ansonsten hätte ich einen überraschten Seitenblick zu Decker geworfen. Dieser zuckte mit den Schultern.
»Es ist ihr Grab. Und das was nun heute Nacht passiert, wird man Ihnen anlasten. Alles. Selbst Ihre Familie wird sie verstoßen… und dann sind sie allein.«
Decker schritt, ohne sich noch einmal umzudrehen, zum Eingang. Die Türen öffneten sich und ein kalter Windstoß kam von draußen herein, kühlte die heiße Haut und ließ die künstlichen Haare auf meinem Handrücken zu Berge stehen. Ich blieb sitzen und wandte keine Sekunde meine Augen von dem Butcher. Und endlich seufzte der Capitano. Er putzte erneut seine Brillengläser und blickte zu Boden.
»Wen suchen sie?« Ich konnte das Gesicht meines Kollegen hinter dem breiten Rücken nicht sehen, aber ich wusste, dass er sich ein kurzes Grinsen erlaubte.
»Einen üblen Burschen. Glauben Sie mir: diesen Müll wollen selbst Sie nicht übernehmen.«
»Ach ja? Wir verbrennen hier so ziemlich alles.«
»Er ist ein Schlitzer und ein Stecher. Ich hoffe, Sie haben Ihre Damen in letzter Zeit nicht ohne Aufsicht gelassen.«
»Wenn einer von dieser Sorte hier wäre, wüssten wir´s. Wann sollte denn Ihr Schlitzer und Stecher hier angekommen sein?«
»In den letzten drei Tagen, wahrscheinlich. Schätze ich. Lassen Sie mich raten, es gab tatsächlich Neuanstellungen in diesem Zeitraum…«
Der Butcher blickte auf. Seine Augen verengten sich und ein erneuter Schweißausbruch glitzerte auf seiner Stirn. Ich hielt meine Hand weiterhin nahe bei der Krag. Die Gewalt war noch nicht entschärft. Sie brodelte immer noch… unterschwellig aber unvermeidlich, wie der von Magma verschleimte Rachen Yellowstones.
»Nur drei.«
Deckers Augen leuchteten auf, als er sich erneut umdrehte.
»Ja?«
»Wir hatten eine neue Assistenzposition zu besetzen, der Sektionsleiter war mit der… Leistung der Vorgängerin nicht zufrieden…«
»Namen! Muss ich Ihnen, denn alles aus der Nase herausziehen? Es geht um Menschenleben.«
»Die neue Assistentin heißt Lucy Keller, soweit ich mich recht entsinne.«
Meine Muskeln versteiften sich. Ich grinste unwillkürlich, doch der Capitano konzentrierte sich nun ganz und gar auf Decker, so konnte er den Totenschädel direkt vor ihm nicht sehen.
»Dann gibt es noch einen frischen Zeitarbeiter, den wir von Timehigh Work angefordert hatten. Er fährt den Kran beim Trichter – Der Name… Ach ja… Frank Delgado war das… und dann natürlich – gibt es noch mich…«
»Sie sind der neue Vorarbeiter dieser Schicht?«, fragte Decker.
»Für die letzte. Ich habe Überstunden gemacht und wollte eigentlich gerade gehen.«
»Das können sie streichen. Sie bleiben hier, bis wir unseren ungebetenen Gast gefunden haben.«
»Sie haben kein Recht mich hier festzuhalten. Sie sind die Einwanderungsbehörde, nicht die Polizei. Und meine Papiere sind in Ordnung.«
»Halt´s Maul, Reject. Weißt du, wie viele ich von deiner Sorte in Fort Red umgelegt habe? Wir graben größere Gruben als ihr.«
Ich zog das Revers meiner blutbesudelten Jacke zurück und enthüllte endlich den silbernen Lauf der Hammerkrag. »Du bleibst schön brav hier.«
»Meine angeschalteten Augen nahmen genüsslich das leichte Zittern der Oberlippe war, als er sprach.
»Haben Sie auch nur die geringste Ahnung, wie viele Brüder ich hier an meiner Seite stehen habe? Selbst in der tiefsten Nacht steht die Familie zusammen.«
»Bullshit. Du und deine verkommene Brut seid Ratten. Niemand ist hier, der dich verteidigt. Ansonsten wären wir schon längst tot. Deine Butcher-Kollegen halten sich zurück. Die wissen, was gut für sie ist. Und selbst die haben keine Lust darauf, für einen ehemaligen Reject wie dich draufzugehen.«
»Woher wissen Sie….«
Der Mann wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ein angestrengtes Lächeln verzerrte den Mund und die schwarzen Knopfaugen zu einer starrenden Fratze.
»Natürlich, natürlich. Wie gesagt, wir sind hier alles staatstreue Patrioten. Wir kooperieren immer zu 100 Prozent mit den Behörden.« Der Capitano verbeugte sich steif, als transmogrifiziere er urplötzlich in einen Salaryman aus dem Ostimperium.
»Ich muss Sie bitten, Ihre Kollegen von der Schicht zu kontaktieren und sich zu versammeln – friedlich. Bedenken Sie, wir entsorgen heute Nacht den Müll auch für Sie, verstehste?«, schob Decker hilfreich ein und unter unser beider Blicken brach schließlich der letzte Widerstand des zurückgelassenen Butchers.
»In Ordnung, in Ordnung, in Ordnung. Ich werde Ihnen die Tore aufmachen und meinen Kollegen… Bescheid sagen. Aber Sie machen, dass Sie von hier verschwinden, sobald Sie ihre Beute haben.«
»Wir könnten schon wieder weg sein, wenn Sie von Anfang an etwas kooperativer gewesen wären«, insistierte Decker.
Der Butcher schoss Dolche aus seinen Augen ab, doch zog er schließlich einen Musen von Takedo Industries hervor. Das Knacken und Rauschen des Sprechers erfüllte die Lobby.
»Eric hier, es kommen gleich zwei Männer zu euch durch… von der Behörde… ja, mal wieder. Alle Kollegen von der Schicht haben sich sofort und unverzüglich im Raum A7 einzufinden… zur Befragung.«
Der Blick des Vorarbeiters traf den Deckers. Er räusperte sich: »Und… ach ja… wascht eure Hände gefälligst vorher.«
Ich lächelte. »Danke«, sagte ich.
Mit meiner Linken packte ich den Vorarbeiter am Kragen, während die Rechte auf das Kinn zielte. Der Schlag war so milde wie möglich gewesen, trotzdem knackte das Kiefer hörbar. Der Capitano verdrehte die Augen und erschlaffte wie ein umfallender Sack Kartoffeln, doch bevor er zu Boden sacken konnte, zog ich ihn mit einer fließenden Bewegung über den Rezeptionstisch. Ich band dem Ohnmächtigen zuerst Hände und Füße und schleifte ihn schlussendlich zu einer dunkleren Ecke des Foyers, wo er etwas geschützt vom Eingang und vom Rezeptionstisch aus war. Nach getaner Arbeit setzte ich mich wieder neben Decker.
»Etwas voreilig«, sagte er.
»Er hätte versucht bei der ersten Gelegenheit abzuhauen… die Butcher unter den Angestellten zu warnen. Ich will heute Nacht kein Blutbad. Und außerdem können wir ihn somit schon einmal von der Verdächtigenliste streichen.« Mein Blick wanderte zum gebundenen Vorarbeiter, der im Schatten aussah, wie ein abgestellter und niemals abgeholter Müllsack. »Der K/464hätte sich nicht ausknocken lassen…«
»Wahrscheinlich«, erwiderte Decker und sah aus, als ob er sich ebenfalls gerne eine Zigarette angezündet hätte. Zu Blöde, dass er nach der dritten Scheidung damit aufgehört hatte und ich war zu höflich und zu gut erzogen, ihn erneut der Gefahr der Sucht auszusetzen.
»Effiziente Polizeiarbeit unter höchstem Risiko. Deshalb habe ich dich aus dem Hypnos geweckt und nicht Halger«, fuhr der Kollege fort. »Trotzdem… wer führt uns nun zu Raum A7?«
»Still!«, flüsterte ich. »Es kommt jemand.«
Tatsächlich vernahmen meine scharfen Ohren hastige Schritte hinter der Tür zur Rezeption. Ich rechnete damit, dass Lucy Keller gleich wieder auftauchen würde – aber was ich sah, war stattdessen das Schwarz von Rabenfedern und von tief in Erde verborgener Kohle.
Die schwere Missbilligung in der darauffolgenden Stille entging mir nicht. Trotzdem tat ich so, als ob ich Deckers Unmut nicht wahrnehmen würde. Stattdessen kurbelte meine Linke das manuelle Autofenster herunter und der klirrend kalte Winterwind wusch für einen Moment über mein vom Schlaf teigiges Gesicht wie tausend kleine Nadeln. Erneut knirschte die Nervschaltung. Ich schloss das Fenster.
»Jagen? Hältst du dich für einen Revolverhelden?«, spottete Deckers Stimme. »Trittst die Tür vom Salon ein, ja, marschierst in die Höhle des Löwen, legst den Bad Boy um und spazierst mit nem Mädchen unterm Arm wieder raus? Ist das der pubertäre Wahnsinn, der dich drückt?«
»Das war zumindest der Plan«, sage ich.
»Bei den heiligen Gründervätern, Caballero, hast du nichts aus Fort Red gelernt? Deine Werte sprengen den Toleranzbereich. Mal wieder…
Verdammich, so können wir nicht weiterarbeiten. Such dir´n Fleckchen zum Anhalten, Junge. Du musst erst einmal runterkommen. Trink ne NarcCola oder rauch ne Synthie, aber bring gefälligst den verfickten Kreislauf in Kontrolle. Ich brauch hier keinen Ochsen auf Hormontrip.«
»Da sagen die Mädchen in Veiled Passions etwas anderes.«
Ein Schatten fiel über meine Augen. Wie ein Falke über eine fliehende Maus kam der Schmerz hinter meiner Stirn – blitzartig und ohne Vorwarnung. Ich ächzte und für einen Moment musste die Wagenautomatik die Steuerung übernehmen, denn meine Finger gruben sich unbewusst in die Schläfen, aber natürlich konnten diese den grässlichen Splitter nicht finden. Es gab keinen Splitter. Es gab keinen Verursacher dieser Pein. Mein Gehirn selbst erzeugte dieses unsägliche Pochen und Stechen. Es fühlte sich an, als ob tausend Rosendornen von allen Seiten in den grauen Schwamm bohrten. Wunderbar. Und dazu kam noch Deckers zerknitterte Stimme, die mich ermahnte.
»Tut mir leid, Caballero, aber du lässt mir keine Wahl. Du läufst heiß. Zu heiß. Blöder Anfängerfehler. Hätte ich nicht von dir erwartet. Zumindest nicht noch einmal…«
»Ah, fick dich«, sagte ich und bereute es in dem Moment, als die Pein noch einmal drei Stufen zulegte.
»Ruhig Blut, Brauner. Du bist nicht gänzlich bei Verstand – so kurz nach dem Hypnos. Wie oft soll ich dir das noch einbläuen müssen ? Das macht mir keinen Spaß, das weißt du, aber ich werde dich solange braten, bist du wieder klar in der Birne wirst. Also hör jetzt gut zu:
Du bist kein Pistolero. Du bist auch sicherlich kein Held und außerdem bist du viel zu hässlich für die honetten Weiber, die Kredit statt Bargeld nehmen. Nein… Caballero. Wir beide sind nichts mehr als beschissene Frontschweine. Wir stehen knietief im Matsch von Verdun und die Gerrys haben unsere Stellung heute als Zielübung für den großen Karl ausgesucht, kapitsche?«
Ich rollte mit den Augen. Aber ich biss mir auf die Zunge. Ich war von Decker angeschaltet worden, aber genauso gut konnte der Vorgesetzte mich auch wieder ausschalten und dann würde Halger oder irgendein anderer Trottel die Prämie oder zumindest die Ehre des Todes einstreichen.
»Keine Zeit für ne Kontrollübung, Sir. Der 464 wird nicht warten, bis die Hochlaufphase nach dem Hypnos abgekühlt ist«, insistierte ich trotzdem. »Ich habe mich nun unter Kontrolle«, schob ich hastig hinterher, bevor Deckers fettiger Daumen allzu schnell wieder auf den roten Knopf des Nervbrenners rutschen konnte.
»Lüg mich nicht an, Junge, ich seh hier deine Werte klar vor mir, schon vergessen? Die müssen wir runter kriegen. Ansonsten bist du mir so viel Wert, wie ein Fuchs im Hühnerstall. Ich brauche einen Jagdhund für diesen Job und keinen brünftigen Ochsen.«
Ich resignierte und Decker sprach weiter.
»Fünf Ticks – für ne Ki-Einheit – das macht bei unserem Projekt heute Nacht keinen Unterschied mehr. So viel Zeit kriegst du. Du willst jagen? Das wirst du. Und ich verspreche dir, ich werde dich in das dunkelste und dreckigste Fuchsloch des ganzen Waldes schicken. Aber erst, wenn ich pfeife und keinen Tick vorher. Vergiss nicht, Caballero, Contenance ist das Gebot des Jägers. Hehe…«
»… Verstanden. Ki-Kontrolle wird durchgeführt. Ich melde mich in fünf Ticks wieder.«
Und damit wurde die Verbindung stumm. Ich kratzte mich an der Schläfe, dort wo zuvor die Wut des Nervbrenners am meisten gebohrt hatte. Contenance? Den Begriff hatte Decker wohl aus irgendeinem Trainings-Manual für Jäger rausgezogen. Aber mein Kollege hatte auch das seltene Talent, auswendig gelerntes tatsächlich zu verinnerlichen und zu seinen eigenen Schlüssen zu kommen. Das verlieh ihm eine nicht oft gesehene Ehrlichkeit und Autorität in dieser Welt – selbst wenn er die Worte von Theoretikern und Büroaffen Buchstabe für Buchstabe wiederholte. Ich gehorchte also nicht nur wegen des Schmerzes.
Die erste Hitze und Aufregung des Wiedererwachens versiegte allmählich und klarerer Gedanken überschrieben meine simple Tötungslust, als ich meinen Wagen von der Schnellspur des Intracity-Highway lenkte und mich wieder in den normalen Stadtverkehr einfädelte. Ich holte tief Luft, meine Finger umklammerten das Lenkrad und mein Herz schien nun synchron mit dem Kolbenschlag des Motors. Und in diesem Moment dachte ich, ich wäre ganz allein, dass dieser glitzernde und funkelnde Müllhaufen vor mir und im Rückspiegel, dass diese ganze Stadt und der schwarze Himmel über ihr tatsächlich nur für mich geschaffen worden wären.
Ein Gefühl von Verantwortung überkam mich bei diesem Gedanken. Mein angeschalteter Körper war immerhin ein zweischneidiges Schwert. Ein Jäger, der die klammernden Finger des Hypnos nicht abschütteln konnte, war nichts weiter als ein Betrunkener, der an einer scharfen Granate herumfummelte. Dieser Müllhaufen hatte einen besseren Wächter verdient. Ich betete also um den Schutz des Unsichtbaren, denn dieser – so raunte man in dunklen Ecken – favorisierte sogar die weniger Klugen. Und wer sich mitten des Nachts wie ein Dieb in das Revier eines K/464 begab, war definitiv nur selten klug zu heißen.
Ich bog nach rechts von der Hauptverbindungsstraße des Viertels ab. Auf der Suche nach einer geeigneten Ruhestelle, brachte ich schließlich den röhrenden Motor meines Fords auf einem desolaten Parkplatz zu stehen. Ich befand mich vor dem niedrig geduckten Gemäuer eines 7/11. Der Laden war schon vor langer Zeit aufgegeben worden. Die Automaten neben den mit Holzbrettern vernagelten Schiebetüren schienen aber noch zu funktionieren. Das ließen zumindest die grell blinkenden Neonlichter und Aufschriften vermuten: Mr. Thirstkiller et Friends. Ich war milde überrascht, um ehrlich zu sein. Wer auch immer die gute Seele in dieser Wüste war, die Alk- und Spirit-Spender in dieser gottverlassenen Gegend wartete und befüllte, besaß wohl die selbe Treue der Nibelungen auf der Jagd nach Kriemhilde. Ich lächelte bei diesem Gedanken. Auch ich würde heute einem Monster in seiner eigenen Höhle nachstellen müssen. Und auch ich hatte schon längst mein Schiff für den Rückweg verbrannt. Auch ich war jemand, der seine Aufgabe nicht aufgeben konnte, auch wenn sie letztlich nur den Tod brachte. Das teilte ich mit den Nibelungen auf ihrer letzten Reise. Das teilte ich mit dem unbekannten Automatentechniker, der sich in Reject-Gebiet wagte, nur um die einwandfreie Funktionsweise von NarcCola-Spendern sicherzustellen. Der Unsichtbare segne die Arbeiter – in dieser Nacht und auch in jeder anderen – denn es war doch der gewöhnliche Arbeiter undnicht der General und der König, der dein Fleisch vor den Rejects beschützte. So betete ich.
Meine angeschalteten Augen analysierten für eine Weile den verwaisten Platz: Ausgeschlachtete Autokadaver, zersplitterte Bierflaschen, zertretene Kartons, benutzte Spritzen und Pfützen von Öl, eingetrocknetes Blut und sonstige undefinierbare Flüssigkeiten – nichts was meine Sensoren in Alarmstimmung schalteten. Als ich die trockene Wärme und den Schutz des Wagens verließ, blies mir die eisige Kälte eines späten Winters ins Gesicht. Schneeflocken tanzten vor mir, sanken sachte herab und schmolzen auf meiner Haut. Ich prüfte den Sitz meiner Krag unter dem Mantel. Dabei fiel mein Blick auf meine Handknöchel, die sich durch den Exo-Gummi hindurchdrückten. Ich war bleich wie ein Gespenst und mit meinen eingeschalteten Augen musste ich für einen guten Bürger dieser Stadt schrecklich aussehen – man konnte mich leicht mit einem Einwohner des atomar verseuchten Transsylvaniens verwechseln. Das bezeugte auch mein Spiegelbild in einer öligen Pfütze zu meinen Füßen. Ich blickte mich noch einmal um: Niemand war zu sehen – weder gute noch schlechte Bürger. Gut.
Ich holte tief Luft und atmete ein und wieder aus. Ich streckte meine Arme zum Nachthimmel empor, als ob sie die Sterne greifen könnten, die sich hinter den tief hängenden Wolken verbargen. Kochendes Wasser ist gut. Der explodierende Kessel ist schlecht. Dreh die Hitze runter. Brodeln aber nicht überfließen. Ich rief mir die alten Merksprüche aus der Rekrutenzeit in Erinnerung, tat einige schnelle Ki-Atemübungen und spürte letztlich, wie mehr und mehr die Klarheit in meinem Kopf die Oberhand gewann über Lust und Hitze. Die Winterkälte half dabei sehr, um diese lodernden Flammen in meinem Inneren zu ersticken. Ich riss meinen Blick von weißen Schenkeln los und meine Ohren wurden Taub gegenüber den flehenden Stöhnen und Stößen. Auch wenn die inneren Komponenten mit einer Flüssigmetall-Kühlung verbanden waren, so konnte dieser seelische Brand nur durch den schneidend frostigen Wind erstickt werden. Es brauchte dieses ständige Zwicken auf der Haut und im Gesicht – diese ständige Ermahnung der Realität, um die Fantasien zu besiegen. Zum ersten Mal, seitdem ich angeschaltet worden war, nahm ich also meine Umgebung wirklich bewusst war. Das Bild vor meinen Augen war nun mehr als nur ein Theater. Ich hatte einen Körper, dieser war schwer und die Welt zog ihn an sich. Ich war hier verankert, so wie alle anderen auch, ein Teil dieser Natur und nicht nur Beobachter. Ich schüttelte den Kopf. Ich versuchte zu sehen.
In der Ferne hinter dem niedrig gedrängten Flachdach des 7/11 ragten zwei Türme empor. Die Lichter in einigen Büros brannten selbst zu dieser unheiligen Stunde noch. Ein Übergang verband die beiden hässlichen Beton- und Glaskästen – oben irgendwo am 14. Stock, so schätzte ich. Das waren also die berüchtigten Oldlight Towers. Wie von Juwelen und Ringen bereifte Finger ragten sie in die winterliche Nacht empor. Meine angeschalteten Augen verengten sich: Nichts schien an diesen Bürokomplexen auffällig zu sein, die typische glitzernde und gleichzeitig gänzlich glanzlose Corpo-Hölle eines Mittelklasse-Angestellten. Aber heute Nacht trog dieser Anschein ganz und gar. Ein Jäger ging dort um und diesen Jäger zu jagen, war nun bis zum Sonnenaufgang meine Pflicht. Nur wenn der 464 im Staub zu meinen Füßen lag, gab es endlich Feierabend und mit etwas Glück vielleicht sogar extra Freigang dazu. Ah, Freigang. Der Gedanke war unrealistisch aber nett. Nicht schlafen, nicht jagen, sondern einfach nur sich für eine Weile amüsieren und guter Bürger sein. Vielleicht war meine Punkte-Karte für das VP immer noch gültig? Leider hatte ich es versäumt, Decker zu fragen, wie lange ich geschlafen hatte. Solche Fragen und deren Antworten galten aber auch als unhöflich – ähnlich wie Gehaltsgespräche.
Ich begann mir die Beine zu vertreten, um mich von diesen nutzlosen Gedanken abzulenken. Zudem fröstelte ich leicht. Ich blickte auf die Armbanduhr am linken Gelenk. Fünf Ticks waren beinahe vorbei.
Vor dem Aufbruch entschied ich mich aber noch zu den beiden Automaten rüberzuschlendern. Eine NarcCola kurz vor dem Job wäre genau das richtige. Jetzt, wo ich mich weitestgehend abgekühlt hatte, schien mir die vorherige Hast äußerst peinlich. Decker hatte Recht gehabt, wie so oft. Ich hatte mich wie ein Anfänger benommen, wie einer von den Feuerwehr-Rekruten, die mit heulendem Alarm aus der Garage donnerten und dabei das Alarmlicht herunterfuhren. Es war vernünftig gewesen, so sehr es auch schmerzte, dies zuzugeben, mir eine kurze Pause zu verordnen. Manchmal war das alte Arschloch echt für etwas zu gebrauchen. Ich tippte am Automaten die Nummer 3 – wie immer –, seufzte, als das Ding nicht funktionierte und trat schließlich mit meinem Fuß dagegen. Die Maschine war stark, aber mein Fuß war stärker. Letztlich rückten die Innereien aus Draht und Eisen die Dose doch noch heraus. Der Behälter zischte und die bittere Flüssigkeit rann meine Kehle hinab. Ach, NarcCola, was für eine herrliche Pampe! Lange konnte ich mich aber nicht an der ambrosischen Wärme des Synth-Kaffe-Derivats laben. Hinter mir knirschte es. Schwere Fußschritte im Schlamm und Schnee. Ich seufzte. Warum so früh?
Als ich mich umdrehte, hatten die Rejects meinen Wagen schon umstellt. Sie waren zu dritt. Und sie blockierten den Ausgang des Parkplatzes. Einer von ihnen führte eine schwere Kette in den Händen, der andere hatte eine Art von Stahlrohr an seine Schulter gelegt, doch der dritte war gänzlich unbewaffnet. Zumindest oberflächlich gesehen.
»Was tust du hier, Freund? Bist du liegengeblieben? Brauchst du Hilfe?«, sagte derjenige mit leeren Händen. Das Tattoo auf seiner Stirn tanzte dabei hin und her, bewegt durch die filigranen Muskeln unter der Gesichtshaut. Meine angeschalteten Augen konnten es zuvor nicht richtig ausmachen. Erst als er ins Licht eines Scheinwerfers trat, erkannte ich die typische Opferszene: Zwei Männer, eine Frau – zwei Opfer, ein Opfernder. Dieser dort, so erfasste ich sofort, war das Alphatier der Gruppe. Der Reject-Anführer kickte mit seinem Fuß gegen das Heck des Fords. Ein Stich von Zorn überkam mich bei dem dumpfen Geräusch. »Ich und meine Freunde hier können dir gerne Starthilfe geben. Schicker Wagen, übrigens. Gefällt mir über alle Maßen.«
»Gehört der Firma«, sagte ich und nickte leicht. »Danke.«
»Der Firma gehört er«, wiederholte er. Atem kristallisierte an der Luft, als er ein amüsiertes Grunzen ausstieß. Ein bösartiges aber lautloses Grinsen floss dabei über das Gesicht des Tätowierten, ein anderer lachte heißer. Doch es stand auch Nervosität auf ihrem Antlitz geschrieben. Offenbar ahnte die Gruppe von Rejects bereits, dass hier etwas nicht stimmte, denn welcher normale Tropf in dieser Situation würde so gemächlich herüberschlendern, wie ich es gerade in diesem Moment tat. Das Alphatier streichelte mit seinem Finger über die rote Lackierung.
»Es gehört sich nicht, fremdes Eigentum anzufassen. Ich muss Sie schärfstens darum bitten, dies zu unterlassen«, insistierte ich nun etwas lauter. »Ansonsten kann es Probleme mit der Firma geben.«
»Anfassen? Ich fass doch gar nichts an?« Der tätowierte Reject schritt den Wagen entlang, ein schrilles Kreischen hallte über den Parkplatz, als er dabei mit einer abgebrochenen Glasspitze an meiner Karosserie entlangfuhr. Ich grinste, ein unfreiwilliger Muskelreflex, wann immer die Nervschaltung ruckartig meinen Körper in Bereitschaftsmodus umschaltete. Nichtsdestotrotz freute ich mich auf das Kommende. Unmutierte gehörten normalerweise nicht in mein Beuteschema, aber für Monster machte ich gerne eine Ausnahme.
»Wir akquirieren hiermit lediglich Firmeneigentum… eine Geschäftstransaktion unter Freunden, wenn der Herr so möchte: Wir geben dir Starthilfe und wir kriegen das Auto.« Erneut grinste der Mann, aber der schale Glanz falscher Freundlichkeit war aus seinen Augen gewichen. Barbarische Blutlust kochte stattdessen in den schwarzen Kesseln. Auch er war sich nun klar, dass er hier nichts gewinnen konnte ohne Blut. Ich trat nun aus den Schatten. Er sah nun meine Augen. »Einfacher gesagt: wir werden den Karren stehlen. Und du hast das wunderbare Glück dabei, nicht als Zusatzleistung im Kofferraum zu liegen«, sagte er und versuchte seine Unsicherheit vor mir und seinen Bluthunden zu verbergen.
Die drei hochgewachsenen Gestalten umstellten mich in einem Halbkreis. Auch wenn es bitterkalt war, so hatte niemand von ihnen eine Jacke oder ein Hemd. Die nackte Narben-übersäte bleiche Haut, wie eine zerfetzte Kriegsfahne, war das Stammeszeichen der Rejects. In jedem Kampf musste es offen gezeigt werden. Ich tat so, als musste ich husten und führte dabei meine Hand zur Krag, aber im letzten Moment entschied ich mich anders. Die Kugeln würde ich aufsparen. Hier waren sie nur Verschwendung.
»Stehlen? Davon rate ich ab – vehement«, erwiderte ich. »Und außerdem wäre es nur stehlen, wenn der Diebstahl nicht unter meinen Augen stattfinden würde. Somit ist aber das, was sie hier tun, Raub. Und Sie und ihre Gesellen kennen sicherlich die Strafe dafür.«
»Halt´s Maul, Anzugratte! Oder ich schneid dir die Zunge raus, sodass du dein eigenes Arschloch lecken kannst. Dann ficke ich es blutig und du wirst härter stöhnen als die VP-Schlampen!«
Wie unhöflich, dachte ich. Diese Rejects ließen nur allzu schnell ihre Maske fallen, denn es war schwer, eine Illusion aufrechtzuerhalten, wenn man dasjenige nicht kannte, was die Illusion eigentlich darstellen sollte. Ich hob meine Hände.
»Nun gut: Ungeachtet ob Raub oder Diebstahl – wir können uns doch darauf einigen: das was Sie inbegriffen sind zu tun, verstößt in jeglicher Hinsicht und offensichtlich gegen das Gesetz der Acht Gründerväter und noch schlimmer: gegen das Gebot des Unsichtbaren, in dessen Namen sie sprechen… auch wenn diese es selbst natürlich verleugnen würden«, sagte ich. »Und die Lust, die du suchst, steht ebenso gegen den Willen des Herrn, der es doch gut mit uns armen Tropfen hier unten meint. Ich warne Sie also hiermit offiziell: Kehren Sie um! Und tun Sie, als hätten Sie mich nie hier gesehen.«
Der Mann fletschte die Zähne und stieß ein erneutes Grunzen aus.
»Hier gibt’s nur einen Herrn. Ich bin hier der Boss und von nun an dein Herrscher, Himboy. Ich mach hier die Regeln. Und meine erste Regel ist es: Ausziehen! Sofort! Ich will deinen Arsch!«
Mein Fuß trat in die Kniekehle des Rechten, er hatte keine Zeit zu reagieren, bevor meine Linke ihm das Nasenbein direkt ins Hirn prügelte. Knochen, Blut und Gehirnmasse spritzte über den Parkplatz, färbte den matschigen Schnee dunkelrot. Im Rücken hörte ich die Kette rasseln. Ich wich aus und mit dem Folgeschritt beförderte ich mich in die offene Seite des anderen. Ein schneller Schlag gegen die Kehle sandte diesen röchelnd und konvulsierend zu Boden. Der Schnee stöberte auf, als der spastische Körper angelische Formen malte. Ich ließ ihn liegen. Nur noch das Alphatier – nun mehr ein in die Ecke gedrängter Einzelwolf – war übrig. Mit einem seltsam femininen Schrei auf den Lippen stach er zu, die zuvor verborgene Klinge prallte an meinem nackten Ellbogen ab. Funken sprühten als der Mann wie eine Puppe zurückgeworfen wurde. Als ich auf ihn zuschritt, weiteten sich dessen graue Augen panisch. Er hob seine Arme. Er wimmerte. Ekel überkam mich, als ich sah, wie Feuchtigkeit seinen Hosenschritt durchtränkte und den Schnee gelb färbte.
»Halt! Halt! B… Bitte, Freund! Wir wollen doch nichts Überhastetes tun! Sag mir doch zuerst: Wer bist du?«
»Denkst du, meinen Namen zu wissen, würde dich retten?« Der Mann schüttelte den Kopf, in seinem Gesicht stand eine urplötzliche Erkenntnis geschrieben. Seine Kehle krächzte als er flehte und bettelte:
»Du… du bist einer von diesen Switch-Heads nicht wahr? Du… du arbeitest für die Agentur… für die Regierung, ja?«
Ich hob meine Faust.
»Nein, nein, nein! Bitte warte! Warte doch! Du… du bist bei der Regierung! Ihr dürft nicht einfach Leute killen! Das weiß jeder! Du… du musst mich verhaften. Ich habe Rechte! Ich will einen Anwalt!«
»Glücklicherweise gehöre ich nicht zu dieser Sorte Regierung, die sich um Bürgerrechte scheren muss«, sagte ich.
»Du darfst mich nicht umbringen! Bitte! Ich… mich mach alles, was du willst! Ich kann dir sagen, viele Sachen sagen!« Das Gesicht des Gangbangers leuchtete auf – eine neue Hoffnung. »Ich kann für euch arbeiten! Denk doch nur nach, ich bin ne ganz große Nummer bei den Aztec Revived! Ich weiß alle Geheimnisse, ich kenne die ganze Organisation! Von oben bis unten. Ich weiß, wer das Scheißhaus putzt und ich weiß, wer die ganze Asche für das Pulver einsackt. Ich weiß von allem… alles, was man nur wissen kann! Jede schmutzige Wäsche landet in meinem Trog! Komm schon, Mann! Wir können sicher einen Deal machen, Freund!«
»Seh ich aus, als ob ich die Abteilung Kleinkriminalität bin?«
Der Mann schluchzte nun. Er wetzte auf seinen Knien hin und her und faltete die Hände.
»Gnade! Bitte! Gnade!«
Ich blickte mich um. Ich sah die schattenhafte Masse der Männer, die ich mit meinen bloßen Fäusten zerschlagen hatte. Schließlich blickte ich tief in seine grauen Augen, doch ich sah keine Reue.
»Gnade?«
Ich schlug zu. Meine Faust brach den rechten Wangenknochen. Wie eine Puppe wurde der Gangbanger nach links zu Boden geschleudert, ich kniete mich auf den Brustkorb und drosch einfach weiter und mit jedem Schlag stellte ich ihm eine Frage.
Linke Faust: »Hast du Gnade gezeigt, für den Mann auf deiner Stirn?« Blut spritzte auf den weißen Schnee.
Rechte Faust: »Gnade? Hast du Gnade gezeigt, als du deine schmutzigen Finger nach seiner Frau ausgestreckt hast?« Der Mann röchelte und spuckte. Aber noch lebte er.
Linke Faust: »Gnade? Hast du Gnade gezeigt, als du ihre Kinder dem Baron von Nemedi geopfert hast?«
Meine Knöchel drangen tief in die Augen und in die Höhlen darunter. Nein, der Reject lebte nicht mehr. Ich hatte ihn getötet. Ich besah mir kurz mein Werk. Schließlich stand ich auf.
Ohne mich noch ein weiteres Mal umzudrehen, stieg ich in den Wagen und fuhr davon – ließ diesen verwaisten Parkplatz und die drei Leichen hinter mir. Der Neumacher würde in den nächsten Stunden schon kommen und sich um die kaltgefrorenen Überreste kümmern. Ich hingegen kochte erneut voller überschüssiger brodelnder überfließender Energie. Scheiß auf Decker, ich mach´s wie immer, ich geh da rein mit über Hundert Prozent. In der Tat war mein Energielevel nun wesentlich höher als zuvor. Die Schmerzen am linken Ellbogen, dort wo mich das scharfe Messer getroffen hatte, fühlte ich gar nicht mehr. Ich griff an meine Brust und massierte das klobig geschnitzte Kreuz darüber. Ich fühlte mich prächtig. Ich fühlte mich lebendig. Doch natürlich schrillte die Nervschaltung in diesem Moment auf und die altbekannte Stimme Decker brummte mir mürrisch direkt in die Gehirnrinde:
»Ich frag gar nicht erst, was du getrieben hast, Caballero. Ich… Mach einfach, dass du deinen Arsch hier rüberschwingst. Es wird spät.«
»Jawohl, Sir.«
Ein stummes aber dennoch hörbares Seufzen knisterte in der Leitung. Decker entfernte sich höflicherweise aus meinem Kopf. Die Nacht gehörte fürs erste mir alleine, auch wenn es natürlich nur für einen allzu kurzen Moment war. Ich muss gestehen, ich genoss den Weg zur Arbeit. Ich mochte es, meinen Ford wie ein altes Schlachtross durch die verwaisten Straßen zu peitschen, durch die neongrellen Schluchten der Stadt zu düsen, als ob der Teufel selbst hinter mir wäre. Im Rückspiegel reflektierten die Lichter und vorne glitzerten die nassen Pfützen auf der Straße, während aus dem Radio die neue Single von Miss Arcade Mania erklang. Der rauchige Jazz war nicht ganz mein Geschmack, aber für diese Stadt war er perfekt, also ließ ich ihn seufzen und locken, denn so wollte es diese City und ihr Geist. Und so erging ich mich in meinen spätwinterlichen Träumen von Flucht und Freiheit, bis ich schließlich sie sah: