Eine Cyberpunk-Noir-Geschichte
Ich war sinkendes Schiff und ertrinkender Passagier. Der Sturm – schwarze Wolken und grelle Blitze… ich kenterte. Ich fiel ins Meer und erwachte. Blendendes Licht stach in meine Augen. Drei besorgte Augenpaare blickten auf mich herab und erst nach einer Weile der Verwirrung kam ich zu dem Schluss, dass ich wohl zum zweiten Mal ohnmächtig geworden sein musste – wie peinlich.
»Du lebst noch.« Deckers stinkender Atem weckte mich in der Tat auf.

»Was ist passiert?«
»Du bist umgekippt – offensichtlich. Das Gift in deinen Adern… Schläuchen ist wohl stärker als gedacht. Oder deine Hardware ist ruiniert und funktioniert nicht mehr im Overclock. Ich hab ihn zur Sicherheit ausgeschaltet. Heißt aber auch: mehr Schmerzen für dich.«
»Ich liebe Schmerzen.« Ächzend richtete ich mich an der Wand auf. Mein Kopf war schwindelig und alles drehte sich, aber ich schien tatsächlich noch zu leben. Ich sah Lucys besorgtes Gesicht, ich sah den misstrauisch starrenden Blick der Sekretärin und Deckers runzlige Rübe… aber Jerika war nirgendswo zu sehen. Und in diesem Augenblick war mir das mehr als recht, es war nur ein Traum gewesen, doch wollte ich nicht der Frau in die Augen schauen, die ich gerade vergewaltigt hatte. Jeder einzelne Handgriff hatte sich real angefühlt. Aber trotzdem musste ich fragen:
»Wo ist Jerika?«
»Du ruhst dich besser aus. Das hat so keinen Sinn mehr, mein Junge. Ich ruf Halger an. Der soll den Rest der Frühschicht übernehmen.´Das ist wohl das beste.«
»Das dauert zu lange. Schalt den Overclock wieder an. Ich bin einsatzbereit.« Es fühlte sich an, als ob ein Blitz in meinem Kopf explodierte. Ich hatte es einmal gesehen: der Baum war mitten entzwei gespalten und die Splitter lagen auf der Straße – noch fünfhundert Meter weit. Ich sackte in die Knie und Decker musste mich wieder nach oben ziehen.
»Ich weiß nicht, was in deinem System alles drin is, Caballero. Das könnte dich umbringen.«
»Tu´s einfach. Dann bringen wir´s hinter uns.«
»Nah gut, wie du meinst. Es ist dein Leben, das du wegwirfst. Hauptsache du erledigst noch zuvor deine Arbeit. Du kennst ja die Strafen für Zeitversäumnis…«
Ich spürte ein kurzes Ziehen im Magen und ein Stich im Herzen, als die Pumpe begann, die Flüssigkeiten durch die Schläuche schneller denn je zuvor zu treiben.
Lucy schüttelte nur wortlos den Kopf. Sie wusste nicht, was passierte. Sie sah aber mein grässliches Grinsen. Ihre Augen waren gerötet. »Du wurdest doch so viele Male gewarnt. Drei Schüsse vor dem Bug. Warum willst du weitergehen?«, sagte mir ihr stummer Blick.
»Ich habe auch noch etwas zu tun, heute Nacht, genau wie Sie.«
Ich wusste nicht, ob ich laut geantwortet hatte oder nicht.
»Es ist schon Morgen«, sagte sie und wendete sich ab.
Die drei ließen mich an der Wand stehen und steckten ihre Köpfe an der Empfangstheke zusammen. Mittlerweile war mir egal, was verhandelt wurde, ich wollte nur noch schnell weiter. Die Krag schmiegte sich kalt an meine Brust, sie hatte heute noch nicht genug gesungen. Noch nicht genug gedonnert. Der K/464 bat zum Duett. Alles stand in Flammen und die ganze Welt brannte.
Und dann kam sie. Sie schlüpfte aus dem schattigen Bereich, in den sie mich gezogen hatte und ich wusste nun, dass es kein Traum gewesen war. Und sie lachte. Ihre Augen glühten auf, kurz, ganz kurz, niemand sonst hatte es bemerkt. Aber ich hatte es gesehen. Und in diesem Moment fiel es wie Schuppen von meinen Augen. Dieser Hass, diese Feindseligkeit gegenüber jeglicher Ordnung und Leben und ein kompromissloser Vernichtungswille, der nur noch Zerstörung kennt. Diese Verzweiflung verzerrte ihr Gesicht. Ließ es schmelzen und in Obsididanform erstarren und dieses Schmelzwerk sah ich. Ich sah, das was ich begehrt hatte, ohne Maske. Enttäuschend? Vielleicht – doch was nützt es, eine Lüge zu erzählen? Denn es ist wahr: Es war nicht meine menschliche Intelligenz, meine Bildung oder mein Geist und Verstand, der den Feind offenbarte, aber sein unmenschlicher Stolz.
Meine Hand griff zuerst daneben. Meine Kehle war trocken und ich konnte nicht rufen – als ob ich immer noch in diesem Traum gefangen wäre. Doch schließlich umklammerten meine Finger den kalten Stahl und ich rief:
»Sie ist ein Mutant!«
Decker war tot. Der alte Mann hatte auf Lucy gezielt, doch Jerika stand hinter ihm und sie öffnete seinen Rücken. Sie schlüpfte hinein und es begann nun ein Prozess, den ich nur als eine groteske Heirat von Fleisch mit Fleisch beschreiben konnte. Der Bi-Mutant sprang auf den Tisch und streckte seine Klauen aus. Ich hörte die Stimme Deckers – verzerrt, dunkel und unmenschlich – aber es war seine Stimme, die durch den Raum grollte:
»Ich lebe.«
Die Empfangsdame schrie, ihr Kreischen zerfetzte beinahe meine angeschalteten Ohren und so zitterte meine Hand, als ich den Abzug betätigte. Die Wand hinter dem Mutanten explodierte in Splitter und Mörtel und Staub. Die Kugel der Hammerkrag ließ keinen Stein auf dem anderen, aber sie hatte nicht ihren tatsächlichen Feind gefunden. Dieser sprang mit unmenschlicher Geschwindigkeit auf die junge Frau. Ich konnte nichts tun; noch bevor ich den Lauf meiner Waffe neu ausgerichtet hatte, hatte er den zierlichen Leib schon von allen Knochen und dem Mark darinnen entkernt. Ich wusste nicht, wer sie gewesen war, – selbst ihr Name war mir unbekannt – aber sie starb wie ein Marder, der sich in der Elektrik eines Motors verbissen hatte – vollkommen unverständig gegenüber den Kräften, die sie aus dem Leben rissen – von einer Nanosekunde zu anderen. Jetzt lebte sie. Nun war sie tot. Ich hatte keine Zeit für Entsetzen, für Mitleid und zum Beten.
Das irre Grinsen des Decker-Mutanten triefte von Blut und grässliche gelbe Augen schienen wie zwei grelle Scheinwerfer durch den Raum. Sie fanden mich. Hätte ich an den Männer-mordenden Ares geglaubt, er wäre nun vor mir gestanden und Mars selbst hätte mir Sterblichen gedroht:
»Du bist bereits tot.«
Ich drückte ab. Doch der K/464 war schnell, viel zu schnell, ich hatte noch nie ein solch grässliches und doch geschmeidiges Wesen gesehen, alle seine Bewegungen waren formvollendet, effizient und zielgerichtet und mit spielerischer Leichtigkeit wich er der Kugel der Hammerkrag aus. Glas splitterte, Holz verbrannte und der Geruch von Schießpulver schwängerte den Raum. Jerika entledigte sich endlich von Decker, seine Haut fiel auf den Boden wie eine beschmutzte Arbeitsjacke nach einer langen Nachtschicht. Nun stand Athene vor mir. In all ihrer schrecklichen Verderbtheit, ihre Weisheit nur auf Zerstörung und Vernichtung gerichtet. Jerika lächelte und ihre spitzen Zähne blitzten im Licht der Neonlichter auf.
»Ah, Mr. Schick, genug von diesem Spiel.«
»Gib die Frau frei! Kämpfe mit mir. Sie hat mit unserem Streit nichts zu tun!« Ich wollte rufen, aber brachte nur ein schrilles Krächzen zustande.
»Du machst dir Sorgen um mein Kleid, Mr. Schick? Ah, dann willst du, dass ich dich stattdessen wieder anziehe? Ah, verleugne es nicht… hübscher, hübscher Mann! Du hast genossen wie ich! Als ich dich genommen habe…«
Sie zeigte – mir – nun alle ihre Formen und sie war das Wunderschönste, was ich jemals in meinem Leben gehofft zu sehen hatte. Die Erhabenheit ihres Fleisches überstieg selbst das, was meine Lust begehrte in dunklen gewaltsamen Träumen. Doch es war keine erhebende Schönheit. Nein, es war eine kalte, brennende Schönheit, grausam und unerbittlich. Die Schönheit des ewig stillgrauen Ozeans, der in die Tiefe lockte, wenn man über die Reling des Kreuzfahrt-Schiffes hinunterschaute. Ich sah nun Jerika, als das, was sie war: Ein Mutant – kein Freak – aber ein Monster. Ich wusste nicht, wie sie mich und Decker all die Zeit getäuscht hatte, aber der Punkt ist: ich war blind gewesen und nun sah ich. Ihre Lockungen fielen auf taube Ohren, nur meine Angst lähmte meine Nerven.
»Du Hure!« Meine Zähne knirschten gegen sie und meine Schwäche. »Du bist es gewesen! Von Anfang an! Du hast meine Augen getäuscht! Eine Illusion! Deshalb konnten dich Lucy und Decker nicht sehen…«
Jerika lachte und massierte spöttisch ihre vollen Brüste.
»Ah, Mr. Schick. Hübsch! Aber nicht schlau! Gen-Mutation hat drei Arten. Ich bin diejenige, die austauscht und ersetzt. Punkteinführung!«
Der Mutant grinste noch höhnischer, als er sah, dass ich nicht verstand.
»Ah… dumme Menschen. So hübsch… aber so dumm. Ich muss es einfach sagen: Hmm… Lucy-Maus… hübsch, hübsch, sie war die Illusion, die du sahst. Deshalb konnte Decker mich nicht sehen. Er sah nur mich. Lucy, das Vergangene, habe ich nur dir gezeigt, um mit dir zu spielen. Änderung aber ist das Ergebnis eines jeden Wettbewerbs!«
»Das ist eine Lüge. Lucy? Lucy! Lucy, komm heraus!«
Doch Lucy war nirgendswo mehr zu sehen. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass Jerika zumindest in diesem einen Moment und in diesem einen Punkt die Wahrheit gesprochen hatte. Lucy war nicht da. Vielleicht hatte es sie auch nie gegeben. Nur ein Gaukelspiel, um mich zu betören und zu manipulieren. Jerika hingegen saß in all ihrer schrecklichen Realität und Tatsächlichkeit auf dem zersplitterten Holz des Empfangthresens wie eine Königin und achtete nicht die Stiche und Schnitte in ihr nacktes Fleisch. Es war ja nicht ihr eigenes. Genüsslich leckte sie sich das Blut von ihrem Mittelfinger. Ich fühlte mich allein. Und so verlassen.
»Es ist wahr. Lucy ist gegangen. Vergangen… mutiert. Ich bin hier. Diese ist gewesen, nun bin ich. Warum zurückblicken? Auf das was war! Hach, ist es nicht schön, diese Verzweiflung! Zu sehen und zu vergleichen? Niemand kann zurück. Änderung geht nur in eine Richtung, Mr. Schick!«
»Du bist also tatsächlich Lucy«, sagte ich und ich konnte nicht mehr schießen. »Du warst zumindest es gewesen… einstmals.«
»Ein Bild… aus Vergangenheit. Die Statuen der Ahnen sagen doch uns heute Lebenden nichts mehr. Sie sind stumm und wir hören nicht zu. Nie im Museum?«
Jerika schritt auf mich zu. Ich konnte nichts tun. Sie war ja Lucy. Und Lucy nahm meinen Kopf in ihre sanften Hände und schmetterte ihren Kopf in den meinen. Meine Nase brach hörbar und die Wucht des Angriffes schleuderte mich zu Boden. Schmerz, Verwirrung und eine alles umfassende Lähmung ergriffen mich. Ich kroch auf dem Boden wie ein Wurm, suchte mehr von Instinkt getrieben als alles andere, nach meiner Waffe. Ein Blutschleier lag über meinen Augen. Jerika trat hingegen mit ihren langen Beinen in meine Seite. Ich schrie auf. Das Metall unter dem Fleisch verbog sich wie die Knautschzone eines Kleinautos unter der Macht eines herandonnernden Zehntonners. Lucy lachte laut auf und reckte ihre Arme zum Himmel empor:
»Seht her: Ich war schwach unter den Männern und nun fresse ich Löwen!«
Ihre Schläge prasselten auf mich nieder, die zierlichen Frauenhände, denen man nicht einmal zutraute, ein Glas Gurken zu öffnen, brachen Knochen, verbogen Metall und Stahl und ihre langen Fingernägel bohrten sich wie Krallen in das weiche Fleisch darunter. Wer hatte dieser Frau, dieser jungen Krankenschwester, eine solche Macht gegeben? Ich spuckte Blut und Schleim. Und ich war verzweifelt, denn ich wusste irgendwie, dass dieses grässliche Monster ja doch irgendwie die eigentliche Lucy war und dass diese eigentliche Lucy all diesen Aktionen irgendwie zustimmen musste. Die Liebe meines Lebens wollte meinen Schmerz.
»Lucy… warum.« Ich keuchte. Ich hatte keinen Atem mehr. Es schien ein Wunder, dass meine Lunge überhaupt noch funktionierte. Erst in den Stunden unseres Mangels wird uns der vergangene Reichtum bewusst. Ein Glas Wasser in der Wüste. Ein Hauch des kühlen Windes in der bräsigen Sommerhitze. Luft unter Wasser.
»Ah, du willst wissen, warum ich dich nicht gleich getötet habe.« Jerika kicherte und kratzte sich am Hinterkopf. »Mr. Schick, sei jetzt nicht schüchtern! Ich brauche deinen Samen!«
Ich versuchte wegzukriechen, doch sie hielt mich an den Füßen fest. »Inzucht ist der Abscheu der Evolution! Ich brauche meine Vielfalt. Ah, ich hungere nach dem Neuen! Ja, ich will dich fressen! Dich genießen. Aber nicht gleich… Du bist doch ein großer starker Mann. Steh zur Verpflichtung. Zuerst das wärmere Vergnügen…« Ihre spitzen Krallen bohrten sich in meine Schenkel.
»Nein, nein, lieber Mr. Schick. Nicht schüchtern! Nicht schämen! Ich habe nicht gelogen, als ich sagte: ich will mit dir zu den Himmeln fliegen! Zu den Sternen reisen! Wir werden sein wie Götter, du wirst sehen! In mir!«
Ich lachte. Da musste ich lachen. Die Absurdität dieser ganzen Situation – mein Körper, das Werk der perfektionistischen Wissenschaft, verdroschen von einer kleinen Frau – drängte mich in die Hysterie. Lucys spitze Nase rümpfte sich, als ich ihr mein Blut ins Gesicht spuckte. Selbst durch all den Gestank, durch all das bleierne Blut, den Brand von Pulver und Schweiß und Gewalt, konnte meine gebrochene Nase noch Reste ihres Parfums riechen – der Duft von Rosen. Ich blickte ihr in die schwarzen Augen.
»Es gab viele Menschen, die sich selbst zu Göttern machten. Aber es gibt nur einen Gott, der zum Menschen wurde. Was ist beeindruckender? Deine Hände nach den Sternen auszustrecken – für ewig unerreichbar? Oder dich selbst so klein zu machen, dass du durch ein Nadelöhr passt? Tu es also: Mach dich klein wie ein Atom. Verringere deine große Gestalt. Zeige mir das und ich glaube dir.«
Jerika stand auf, ihre nackte Gestalt ragte über meinen zerschmetterten Leib wie das erhobene Henkersschwert.
»Ach… Mr. Schick. So dumm… Dieses alte Gerede.« Und sie wollte mir ihren Absatz durch das Auge bohren. Ich rollte mich nach rechts, irgendwie fand ich durch den roten Schleier meiner Augen hindurch das silberne Blitzen. Ich packte die Krag und schoss blind dorthin, wo ich sie vermutete. Ich hatte mein Leben gerettet – für den Moment – aber von Lucy war nichts zu sehen. Sie war verschwunden in den Schatten. Nur ihr höhnisches Gelächter klang in meinen Ohren. Der Kampf war noch nicht vorbei. Vor Schmerzen keuchend und dabei jeden meiner kreischenden Nerven verfluchend zog ich mich an der Wand hoch. Ich wischte das Blut aus meinen Augen. Das Empfangszimmer war verwüstet. Über der zerschmetterten Theke hing wie ein hinweggeworfener Mantel die Haut meines alten Freundes, das Blut der zerfetzten Sekretärin klebte an Wand, Decke und Böden und an mir selbst, nur ihre Eingeweide fehlten, verschwunden in Lucys hungrigem Magen. Ich erschauderte. Mich hätte wohl das gleiche Schicksal getroffen, wenn ich damals unter dem Von-Neumann-Melder Jerikas Zigarette angenommen hätte – gesegnet sind die Unwissenden und ich war nun verflucht.
»Lucy!«, rief ich in die Schatten. »Ich weiß, dass du da bist.«
»Auch ich weiß, wo du bist«, sang Jerikas rauchige Stimme in meinem Ohr. Ich wirbelte herum, aber nur ein fliehender Schemen versank hinweg in die Schatten, viel zu schnell, als dass ich hätte reagieren können.
»Das bist nicht du! Wehr dich! Ich weiß nicht… von wem du das Mutanten-Gen bekommen hast. Aber es gibt Heilung!«
»Heilung?« Ein Hammerschlag traf mich in den Rücken. Mein über 200 Pfund schwerer Körper flog durch die Luft, als wäre es ein unter Langeweile hinweggeworfenes Mädchenspielzeug und ich krachte in die Splitter des zertrümmerten Tisches. Spitze Pfähle bohrten sich durch den Körper, dort wo noch Fleisch und kein Metall war. Die Splitter versanken in Hände, Schenkel und Hüfte. Ich schrie auf. »Ich brauche keine Heilung. Ich bin stark und du bist schwach.«
»Und hat dich deine neue Stärke glücklich gemacht?«, fragte ich und Verzweiflung und Todesangst brachen mir die Stimme entzwei. »Fühlst du dich nun besser? Du hast deine Kollegen getötet, deine Freunde gefressen. War es das wert?«
»Oh, ja!«
Selbst im Overclock-Modus brauchte es meine ganze Kraft und meinen ganzen Willen, mich wieder aufzurichten. Der Schmerz trieb mich schier in den Wahnsinn. Ich sah verschwommene fraktale Schemen und Fragmente von Farben, die nicht existierten, blitzten durch meinen Geist. Der Körper würde es nicht lange mehr machen, dachte sich irgendein abgetrennter Teil meines Bewusstseins, der wie ein unbeteiligter Beobachter über den Dingen schwebte. Ich sah mich in der Tat von oben und ich sah, wie meine zitternden Finger neue Kugeln in die Krag luden. Meine Lippen bewegten sich wie von selbst, ich sprach, doch war es meine Stimme?
»Du lügst«, sagte ich. Und ich wusste nicht, woher diese Sicherheit kam. »Du hast mir Lucy gezeigt. Doch wie ist das möglich? Irgendetwas von ihr muss noch da sein. Ansonsten hättest du diese Illusion nicht hervorrufen können. Der Künstler braucht ein Model vor sich, nicht wahr?«
Nur Stille antwortete mir. Ich grinste.
»Du hast die Wahrheit gesagt: Ich bin nur… ein dummer Mann. Ich kenne mich mit solchen Dingen nicht aus. Aber ich vermute, dass du Lucy nur deshalb zeigen konntest, weil sie tatsächlich hinter dir steht. Du hast dich für einen Moment durchsichtig gemacht, sodass sie zum Vorschein kommen konnte, nicht wahr?«
Der Wind heulte durch die zerschmetterten Fenster, Regen tröpfelte auf die heiße, brennende Haut. Ich fuhr mit der Hand durch das verschwitzte Haar. Ich erhielt keine Antwort. Ich sprach weiter:
»Du hast gesagt, dass Veränderung unweigerlich ist. Ich denke hingegen, da ist ein Kern in uns – in mir und Lucy und allen Menschen – der nicht dem Diktat der zeitlichen Mode unterliegt. Diesen hast du mir gezeigt, nicht wahr? Wie das zersplitterte Fragment eines zerbrochenen Spiegels. Du bist nicht Lucy. Du bist… eine Zwangsjacke. Oder so etwas wie eine Schmutzschicht, die den Spiegel darunter unkenntlich macht.«
Ich wusste, dass Lucy nun hinter mir stand. Doch ich konnte mich nicht umdrehen. Weitere Gewalt hätte hier keinen Sinn mehr gemacht. So endete ich meinen wohl vergeblichen Sermon:
»Was ich sagen will: Ich werde dich hinwegschrubben. Schicht für Schicht.«
Jerikas Augen glitzerten schwarzen Opalen gleich über mir. Das Mutanten-Gen spaltete die Iris entzwei. Sie setzte sich auf meine Brust, ihr zierlicher Frauen-Körper schien so schwer wie ein Schiffsanker. »Sei jetzt still, Mr. Schick. Verbrauch dich nicht. Du darfst nicht sterben, bis ich dich genommen habe.«
»Das ist keine Liebe«, keuchte ich.
»Es gibt keine Liebe auf dieser Welt. Nur Starke und Schwache und nun bin ich stark und du bist schwach. Hach, wie schön es ist, du kannst dir nicht vorstellen wie gut es tut, einem Mann Gewalt anzutun.« Lucy seufzte in Ekstase und legte ihre Krallen um meinen Hals. Und doch zögerte sie noch. Das verriet ihren Kampf. Hoffnung, ein letztes Aufbäumen legte ich in meine Worte, denn ich wusste, dass ich dem Mutanten in ihr nicht durch Körperkraft gewachsen war:
»Du lügst«, sagte ich. »Die wahre Lucy… ich hab sie gesehen. Die Wahrheit.«
»Was ist denn schon die Wahrheit?«, fragte sie und ihr Gesicht beugte sich herab zu mir, als wollte sie mich küssen, aber sie tat es nicht. Stattdessen fühlte ich ihre schlanken Finger enger um meinen Hals.
»Du kannst mich nicht töten. Du willst helfen. Du willst heilen… das ist, was du willst. Das ist die Frau, die du bist.«
»Ich bin keine Frau. Ich bin nicht Lucy. Ich bin jetzt Löwe und kann deshalb Männer fressen.«
»Du kannst mich nicht töten… weil ich dich liebe.«
Lucy drückte meine Kehle zu, die Luft entschwand so schnell aus meinen Lungen wie das Leben flüchtig war. Schwarze Schatten umfingen meinen Verstand und nur noch wie getrennt von meinem Körper wurde ich gewahr, wie dieser heftig strampelte und ankämpfte. Vielleicht hatten wir genau deshalb ihn bekommen, denn es war unser Körper der das Leben nicht aufgab, selbst wenn uns der Geist schon längst verraten hatte. Dies war der einzelne Vorzug des Leibes gegenüber dem Geist. Und Lucy beugte sich herab zu meinem Mund, ihre braunen Augen voller Sehnsucht und Bedauern und sie küsste mich. Ich zögerte nicht: Ich sog ihr das Gift aus der Wunde. Meine Zähne bissen auf ihre Zunge – nun eine schlängelnde Schlange – und diese musste in meinen Mund und Rachen hinein.
Sofort fühlte ich die Macht und die Stärke, von der Jerika gesprochen hatte. Ich rief verzweifelt, bevor der Wurm meine Stimme ersticken konnte und mich vollkommen in die tiefe der Ekstase riss:
»Lucy! Lucy! Zieh… raus! Raus! Zieh ihn heraus! Ich kann… nicht…« Ich wusste nicht, ob sie mich verstand. Ihre verwirrten Augen blickten ängstlich hin und her und ich konnte es nur zu gut verstehen: Es musste wohl der furchtbarste Kater ihres Lebens sein, plötzlich davon aufzuwachen, ein Monster gewesen zu sein. Und sie blickte mich an. Ich deutete nur auf meinen Mund und meinen Rachen. Ich flehte sie innerlich an: Zieh ihn heraus! Bitte, Lucy! Ich… ersticke!
Und ich fiel in den Stern. Gleißende Helligkeit blendete meine Augen und ich spürte die Hitze von tausend Schmelzöfen. Und ich wurde umfangen. Ich sah, die Ebenen und Bergesgipfel zu der Zeit, bevor das Nass alle Welt wie ein Leichentuch überdeckte, ich hörte die kampfeslustigen Stimmen der Riesen rufen und ich vernahm das Geschrei des ersten geborenen Kindes. Und ich wusste, dass dieser Stern noch älter war, seine Geburt lag so viel weiter zurück, als das des Menschengeschlechts, dass verglichen dazu, ich den ersten Menschen meinen Bruder in der Zeit hätte nennen dürfen. Alt und erhaben und mächtig war jenes grausame Licht, eine höhere Existenz als selbst der größte Eroberer, schöner als meine verflossene Liebe und gleichzeitig so viel weiser als alle Forscher und Sucher zusammengerechnet. Und dieses Licht sprach zu mir und sagte zu mir: All die Welt und die gesamte Zeit gehörte mir, solange diese schreckliche Flamme in mir brennen würde.
Ich war entzückt. Ich schwebte über den Wassern und stand auf dem höchsten Berg des Himalayas und ich saß auf der Zinne des alten Tempels und ich genoss die ganze Schönheit dieser Welt mit meinen Augen, als ob diese jene essen könnten. Das schimmernde Morgenrot und die seufzende Trägheit der Abenddüsternis, alles was diese berührten, lag nun in meinem Schoß wie die Spielzeugrassel im Schoß des stammelnden Kindes. Und ich hätte zugesagt, wenn nun nicht eine Hand auf meinem schreienden Mund gelegen wäre. Ja, ich wollte ja rufen, doch die zarten Hände bedeckten meine Zähne und schließlich griffen sie in meinen Rachen. Ich sah Lucy – feuerrotes Haar gekrönt vom Gleißen der Sonne in ihrem Rücken – und sie zog mir den Wurm aus der Kehle.
Ich hustete. Urplötzlich war ich zurück in dem zerstörten Büro in den zwei Türmen in den Hopes und verschwunden war jene Halluzination, hervorgerufen durch die Gifte des Mutanten-Gen. Lucy hielt die sich windende Schlange in den Händen, ein panischer Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Ich hustete:
»Töte es!«, keuchte ich. Meine letzte Kraft. »Vernichte es!«
Lucy schleuderte den Wurm auf den Boden und ihre Absätze bohrten sich in den Kopf der widerlichen Kreatur. Ihr nackter Körper erzitterte. Sie musste frieren, doch sagte sie kein Wort. Sie blickte mich stumm mit weit aufgerissenen Augen an, als ob sie mich nicht kennen würde und schließlich sackte sie zusammen. Der Schock und die Schmerzen all der Verletzungen, die Jerika ihrem Geist und ihrem Leib zugefügt hatte, holten sie wohl auf einen Schlag ein. Ich kroch zu ihrem Körper hinüber, ging sicher, dass sie keine lebensbedrohlichen Verletzungen erlitten hatte und legte ihren Mantel über das entblößte zitternde Fleisch. Einen einzelnen längeren Blick gönnte ich mir auf das schlummernde Antlitz, bevor sich meine Nervschaltung mit der Zentrale verband:
»Hier, P-404, Missionsbericht bezüglich Unterwerfungsauftrag: K/464-0803.«
»Wir hören, P-404.«
»Packet K/464-0803 wurde gesichert. Verluste: Agent H-1308 KIA. Agent P-404 verletzt. Code M/101.«
»Verstanden, Agent P-404. Technikergruppe ist auf dem Weg zum Einsatzort. Halten sie durch. Die Kavallerie kommt.«
Ich musste fast hysterisch lachen. Die OpSecs hatten schon einen eigenartigen Sinn für Humor. Ich blickte zu Lucy. Ihr Antlitz war schmerzverzerrt, ihre Wunden bluteten immer noch stark. Die Brust hob und senkte sich schnell und heftig. Sie war nicht in Lebensgefahr, aber ihr Zustand verschlechterte sich von Sekunde zu Sekunde. Sie brauchte Hilfe. Und zwar schnell.
»…noch etwas.«
»Wir hören:«
»Eine… verletzte Zivilperson. Erbitte um einen Krankenwagen. Zivilistin erlitt tiefe Stichwunden, Unterkühlung und vermutlich schwerwiegenden neuralen Schock durch ausgetriebene Mutanten-Gen-Infizierung.«
»Tut mir leid, Agent P-404, aber Zivilpersonen fallen nicht in unsere Jurisdiktion«, sagte die Stimme in einem Ton, die unumstößlich klar machte, dass es ihr absolut gar nicht leid tat. Ich seufzte. Lucy wandte sich stöhnend hin und her, schließlich drehte sich das vor Schmerzen verzerrte Gesicht mir zu. Sie murmelte irgendetwas, aber ich verstand es nicht.
»Die Prämie?«, fragte ich.
»Packet K/464-0803 wurde gesichert. Auftragshonorierung: 15.399 Neuenglische Kronen… Abzüglich der Strafe für verlorenen Handler 1308 im Einsatz und Zielzeit-Versäumnis. Vorläufig berechnete Endsumme: 1040 Neuenglische Kronen.«
Ich schlug mir gegen den Kopf und hoffte, dass der Schmerz sich durch die Nervschaltung zumindest ein bisschen übertragen würde. Das Knistern auf der anderen Leite bestätigte meinen eitlen Erfolg.
»Das muss genügen. Schicken Sie den verdammten Krankenwagen. 14. Stock. Büro 1408. Old Light Towers in den New Hopes. Sofort.«
Und dann verschwand das Licht aus meinen Augen. Ich schaltete mich ab.
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