Switch Head!! Switch On!!! Teil 8

Eine Cyberpunk-Noir-Geschichte


Der Weg zurück verlief in Schweigen gehüllt und größtenteils ohne Zwischenfall. Nur einmal schrie Lucy – oder vielleicht war es auch Jerika –, ihre Stimme hallte spitz von den Wänden wieder und für einen Moment sah ich eine weiße Hand aus einem der komprimierten Müllwürfel ragen.

Doch ich wusste nicht, ob ich mich getäuscht hatte und Decker trieb uns weiter. Ich ging wieder vorne, denn ich war von allen nun der langsamste, auch wenn der Overclock-Modus mir einflüsterte, ich könnte die ganze Welt mit meiner Faust zerquetschen. Ein sicherlich abscheuliches Grinsen verzerrte mein Gesicht. Ich war froh, dass Lucy es nicht sehen konnte. Was mochte wohl eine Frau anderes erblicken, wenn sie in das Herz des Gegenübers sah, außer Gewalt und Einsamkeit und was sah ein Mann in den Augen einer Frau weniger mehr als unerfüllte Begierden? Letztlich wussten wir ja so wenig voneinander und doch gab es jemanden, der wusste, dass wir mehr waren als das. Und das gab mir Hoffnung. Ich schleppte mich weiter und unterdrückte mit dem zweiten Ki-Bewusstsein jedes schmerzvolle Stöhnen.

Schließlich erreichten wir wieder das Foyer des ersten Turmes. Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, seitdem ich durch die Glastür geschritten war und zum ersten Mal Lucy mit meinen Augen erblickt hatte. Ich sah mich um: Niemand war hier. Ich hatte das seltsame Gefühl, dass in der Zwischenzeit hier sich kein Staubkorn bewegt hatte – ein eingefrorenes Standbild einer früheren Realität – oder vielleicht mehr die Kopie eines Originales, das mittlerweile unter den heißen Feuerwinden von Qliphoth verbrannt war.

Wie auch immer, es schien nach all dem was vorgefallen war, beinahe sicher und behaglich zu sein: gelbe Tapeten, unscheinbare Gemälde und der Rezeptionstisch, der als Vorhof jedes Büros fungieren musste. Aber es war falsch. Wir durften hier nicht bleiben. Wir mussten nach oben. Und ich sah nun, dass sich tatsächlich etwas geändert hatte.

»Unser El Jefe hat sich befreit.«

»Vielleicht der Gastgeber?«

Wir beide waren uns unsicher.

»Ich bringe Sie beide in die oberen Stockwerke«, sagte Lucy.

»Du musst das nicht tun«, erwiderte ich und modulierte meine Stimme künstlich nach unten.

»Was ich tun muss, entscheide weder ich noch Sie und mich bindet meine Pflicht.«

»Warum?«

»Ich wollte Sie zuerst in den Tod führen.« Lucy lächelte und es war das traurigste, was ich jemals gesehen hatte. »Jetzt habe ich mich anders entschlossen.«

»Sie haben nichts gutzumachen, was nicht passiert ist, Miss Keller.«

»Auch Absichten hinterlassen Narben, Mr. Caballero.«

»Wir sind doch alle Neugierig auf das Ende«, flunkerte Jerika und setzte sich mit ihrem Hintern auf den Tisch, ihre Beine lasziv übereinanderschlagend. Aber sie hatte keine Augen mehr für mich. Ihre vollen roten Lippen öffneten sich für Decker.

»Streite niemals mit Weibern, Caballero. Zeitverschwendung. Lass uns weitergehen.«

Der Aufzug schloss seine Türen und zusammengequetscht in der engen Kabine ging es nach oben. Der Magen sackte in meinen Schritt. Ich hasste Aufzüge. Sie waren widernatürlich. Der Mensch musste Treppen steigen. Ich blickte in die Spiegel und sah viele verschiedene verzerrte Gesichter, aber nur eines von ihnen lächelte mir zu und das ließ mein Herz höher schlagen. Der Aufzug hielt und ich ging durch die Tür.

»Willkommen, verehrte Herren und Damen… Oh, Lucy, was machst du hier? Führst du etwa Gäste vom Chef durch die Büros? Davon wurde ich gar nicht in Kenntnis gesetzt…«

Es war immer wieder seltsam nach einer Begegnung mit den Kräften des Qliphoth ein menschliches Angesicht zu sehen, dass nicht vor Schmerz verzerrt war. Lucy besprach irgendetwas mit der Sekretärin oder Empfangsdame, oder was auch immer diese junge Frau hier im 14. Stock arbeitete und ließ uns zwei Männer sowie Jerika wie Kinder in der Spielabteilung eines Supermarktes stehen. Das Gespräch dauerte länger, offenbar gab es Probleme. Ich fand es nicht verwunderlich. Gäste brauchten einen Ausweis und diese Firma hier hatte offenbar viel zu verbergen. Ich hörte kaum zu.

»Deine Süße drängt sich gerne nach vorn. Mutig, aber dumm. Du wirst deine Hände voll zu tun haben«, funkte Decker über Nervschaltung.

»Deine Süße hält sich hingegen arg zurück«, erwiderte ich halb im Scherz halb im Ernst. Ich rechnete schon mit einer bioelektrischen Züchtigung. Doch Decker drehte sich lediglich mir zu. Ein gänzlich verwirrter Ausdruck überlagerte sein rotes wülstiges Gesicht. Doch bevor er etwas erwidern konnte, zupfte Jerika mich urplötzlich am Arm. Ihr Blick war kühl.

»Bellen tun Sie nicht – meinen Freund an, Mr. Schick. Ansonsten muss ich das Hündchen treten, wo es weh tut.«

»Meine Herren«, rief Lucy. Ihre Stimme war laut und kräftig und es klang falsch und hohl. Sie spielte nur. »Ich werde Sie nun als nächsten Schritt unserer Führung durch die Administration unserer Anlage führen. Ich muss Sie wiederum bitten, keine Fotos zu machen oder sonstige Audio- oder Visuelle Kopien von den hiesigen Arbeitsplätzen und Geräten anzufertigen.«

Ich reite mich hinter Lucys zierlicher Figur ein und hinter uns gingen Decker und Jerika. Ich wagte es nicht, mich umzudrehen, denn ich wollte der schwarzhaarigen Schönheit keinen Grund zum Vergnügen geben, aber ich meinte zu hören, wie sie leise tuschelten und sich gegeneinander schmiegten. Decker, so weit ich wusste, hatte schon öfters seine Frau betrogen, doch niemals während der Arbeit. Vielleicht wurde er einfach alt.

Eine Glastür öffnete sich und wir waren in den Büros des 14. Stocks. Die meisten von Ihnen waren zu dieser frühen Zeit noch verwaist. Hinter ein paar Türen hörte man jedoch das Klacken von Tastaturen und leise Stimmen telefonierten. Wohin man auch die Blicke warf, es schien alles gewöhnlich zu sein, keine Spur des fremden Einflusses, der die Müllverbrennungsanlage durchtränkt hatte. Langsam fragte ich mich, ob wir hier tatsächlich richtig waren, aber es so musste so sein. Der Feind hatte dieses Schlachtfeld diktiert. Es wäre unhöflich, nicht zu erscheinen.

»Mr… Caballero… Darf ich Sie etwas persönliches fragen?« Lucys hohe Absätze auf dem Holzboden klackerten spitz – ich musste an das Galoppieren eines edlen Pferdes denken.

»Solange Sie keine Antwort erwarten.«

Lucy hielt nicht inne, als sie weitersprach.

»Ich weiß, Sie halten mich für… so etwas wie eine Schurkin.«

»Tue ich das?«

»Seien Sie ehrlich. Ich bin der Spielchen überdrüssig. Ich bin eine Butcherin… so nennen Sie doch mich und meine Familie.«

Ich legte auf ihre Schulter meine Hand und wollte sie zum innehalten zwingen, doch Sie entzog sich meinem Griff. Ich stolperte und fiel beinahe, doch fing ich mich an der Wand ab.

»Das ist keine persönliche Frage, Miss Keller. Das ist eher ein Fakt.«

»Sie sind ehrlich. Gut. Dann frage ich also: Haben Sie schon jemals in den Büchern von… Gnade gelesen? Ich weiß, dass Sie auch aus Midwest kommen – wie ich. Wie halten Sie´s also mit der Gnade?«

»Gnade?« Ich schnaubte.

»Ja, Gnade.«

»Falls das Ihre Frage ist, so muss ich diese leider mit Nein beantworten: Ich kann nicht verzeihen.«

Eine tief verwurzelte Wut schoss urplötzlich empor, brachte Früchte und bittere Galle in meinem Innern hervor. »Nein. Weder Ihnen noch dem Bösen, das wir jagen. Mein Kollege und ich – wir sind hier, um das Gesetz zu vollstrecken. Mehr kann ich nicht versprechen.«

Lucy hielt nun doch inne. Sie seufzte und von hinten sah ich, wie sie ihre Schultern hängen ließ. Ihr rotes Haar zitterte unmerklich wie Laub im sanften Wind.

»Ich denke… es ist einfach nur ein schöner Gedanke… Und wenn er schön ist, muss er dann nicht ebenso wahr sein?«

Ich hielt ebenso inne und Jerikas spitzer Busen rammte in meinen Rücken. Sie stöhnte auf – übertrieben laut.

»Ah, Mr. Schick, verzeihen Sie«, seufzte sie. »Und verzeihen sie Lucy-Maus, sie ist jung und nicht so alt wie wir. Das Mädchen weiß nicht, dass das Gesetz so… unbeugsam und hart und… steif und unveränderlich ist…«

»Ihr Mitgefühl ehrt Sie, Miss Keller«, sagte ich schließlich und versuchte Jerikas feucht kitzelnden Atem im Nacken zu ignorieren. »Das meine ich mit voller Aufrichtigkeit.«

»Dann versprechen Sie mir nur eines: Ich hätte Sie töten können. Erinnern Sie sich daran. Egal was an diesem heutigen Morgen noch passieren mag.«

Ich versprach es und wir gingen durch die zweite Glastür hindurch. Hinter diesen erschien eine weitere Rezeption und allmählich fragte ich mich, wie viele Abteilungen alleine in diesem Stockwerk arbeiteten. Auch dieses Mal schritt Lucy voran, um ein gutes Wort für uns bei den Wächterinnen des Vorhofs einzulegen. Ich wollte mich an die Wand lehnen und zum ersten Mal und vielleicht auch zum letzten Mal für diesen frühen Morgen meine Zigarre anzuzünden, aber Jerikas Hand ergriff mein Revers – sie war erstaunlich stark – und sie zerrte mich in einen schattigen Winkel. Sie hielt meine schwielige Hand in ihren zarten, marmorweißen Fingern und führte sie an ihre Brust. Unter der Pseudotrans-Jacke schimmerte ihr Fleisch verheißungsvoll – verzerrte Andeutungen von niemals einhaltbaren Versprechungen. Ich lächelte gequält. Ihr roter Mond formte sich zu warmer feuchter Luft und seidenen Worten. Davon hatte ich geträumt, seitdem ich sie zum ersten Mal gesehen hatte – und vielleicht schon zuvor.

»Gute Dame«, sagte ich und hustete. »Das ist hier nicht die Zeit.«

»Es ist immerzu Zeit, um das zu tun, was einem gefällt. Ich muss gestehen, Mr. Schick, ich bin eine Frau, die dazu steht, das zu tun, was einem das Herz befiehlt.«

»Und was ist… ehm… mit meinem Kollegen.«

»Ah, der alte Knochen«, Jerika lachte und ihre spitzen weißen Zähne blitzten im fluoreszierenden vibrierenden Büro-Neonlicht auf. »Sie waren heiß, aber Sie haben noch nicht gekocht. Sie müssen verstehen, man muss die Männer triezen, nur dann verwandeln sich Hunde in Eroberer. Und ich will Eroberung sein. Jetzt. Ihre. Nur deins. Also halt den Mund und nimm mich!« Sie zwang meine Hand, ich konnte sie nicht zurückziehen, so war ich gezwungen, ihren festen Busen zu massieren. Selbst unter der dicken Jacke, fühlte ich ihre Wärme, ihre Hitze.

Ich muss gestehen. Es war keine Moral, die mich zurückhielt, weiteres zu tun – kein Gut, das nun höher in diesem Moment in meinem Kopf stand, als das schimmernde Fleisch unter der dicken Jacke. Es war die Logistik, die mich störte. Es gab keinen Weg, diese brennende Begierde zu stillen und dabei zu tun, als ob es niemand sehen würde. Da war Decker, da war die Empfangsdame und außerdem war da noch Lucy… Sie mochten vielleicht nicht in unser schattiges Versteck sehen, aber sie würden es hören. Meine Kehle war trocken. Meine Stimme brach als ich sprach:

»Ich kann… nicht… Sie müssen doch verstehen – Lucy und…«

»Mr. Schick – es ist wahr, was ihr Kollege gesagt hatte. Sie sind ein Bluthund! Gewalttätig, böse, gemein! Welche Paarung wäre besser für den Bluthund… als mit einer Hure?« Ihr voller Mund lächelte, ihre schwarz geschminkten Augen blitzten beinahe mit einem jungenhaften Schalk.

»Sie passen nicht zu einer Prinzessin, Mr. Schick. Auch wenn sie noch so grausam ist. Geben Sie´s zu. Sie wollen es auch. Tief in Ihrem Inneren spüren Sie auch diese Wahrheit: Sie gehören mir und nicht zu ihr.« Ein Stöhnen entrang sich ihrer Kehle und ihre tiefe dunkle Stimme brach in ein helles Quietschen. Als sie wieder sprach, grinste sie noch breiter. »Lucy-Maus ist ein feines Mädchen. So hat sie natürlich Neugierde an schlimmen Bösewichten wie Sie, aber Sie müssen doch ein schlechtes Gewissen haben, zumindest ist es Ihre Pflicht. Diese Unschuld mit ihrem gierigen – gierigen! – Schlemmermaul zu verschlingen! Sie werden sie zerreißen! Tun Sie das nicht!«

Sie breitete ihre Arme in gespielter Verzweiflung aus und lehnte sich an die Wand. Sie schloss genüsslich ihre eisblau schimmernden Augen. »Aber mit mir? Mit mir können Sie machen was Sie wollen. Es ist mir auch ehrlich gesagt scheißegal, was Sie wollen. Sie wollen mir Gewalt antun? Dann schreie ich und ich kratze und beiße. Ich kann aber auch ihre Mutter sein, mein süßer Babyjunge, hier komm her und still deinen Hunger…«

»Das hier ist Arbeit.«

»Und heute kann es unser letzter Tag im Leben sein. Sollen wir denn nicht jeden Tag leben als wäre es unser letzter? Glauben Sie mir, ich verstehe mich darauf, jeden Anspruch zu erfüllen. Doch Sie? Sie sind am verhungern. Ja, sie hungern und dürsten und viel zu lange haben sie selbstverschuldet verzichtet, auf das was doch so schön und warm und geborgen ist. Und festgehalten werden will… Verzehrt werden will… Deshalb sage ich, Mr. Schick mit den hübschen Augen, sprich nur ein Wort und reiß mich in Stücke! Friss mich. Jetzt!«

Jerika öffnete ihre Jacke – einen Knopf nach dem anderen – und zum ersten Mal sah ich ihre wahren Formen. Speichel lief aus meiner Lefze. Und beinahe hätte ich zugegriffen. Die Stimme Lucys dröhnte in meinen Ohren. Sie stritt immer noch mit der Empfangsdame. Oh, diese unsägliche Stimme! Oh, wie ich wünschte, wir wären tatsächlich nur alleine auf dieser Welt. Ich schüttelte den Kopf.

»Sie liegen falsch, Miss Mun Schoy.«

»Oh, das glaube ich nicht. Ich sehe doch den Hunger in diesen hübschen Augen. Oh, diese Augen! Wusstest du es nicht? Ich habe mich in sie und in dich verliebt. Noch bevor Sie aus dem Wagen gestiegen sind. Ich habe die wundervollen Augen durch das Fenster gesehen. Und ich wollte zu Ihnen steigen und mit IHnen wegfahren. Wollen Sie das denn nicht auch? Hach, wieso noch lügen? Sie sind hungrig. Ich bin hungrig. So hungrig!«

»Man kann nach vielem Hunger haben, Miss Mun Schoy, und die wenigsten Menschen wissen, wonach Sie sich tatsächlich sehnen. Was tatsächlich satt macht. Ich weiß es auch nicht. So entschuldigen Sie mich bitte.« Ich wollte mich entziehen, doch ihre Hand ließ mich nicht los. Sie war stark, stärker als ich in diesem Moment.

»Ah, Mr. Schick. So etwas ist dumm! Dumm! Kein Mann verzichtet immer auf seine Milch und sein Fleisch. Ihr müsst ja groß und stark werden. Komm jetzt, umarme mich. Und wenn die Blicke der anderen Ihnen zu wider sind, dann stürzen wir uns danach einfach aus diesem Fenster hier und wir müssen ihr Geschwätz dann nicht anhören. Denn wir werden fliegen, wie zwei hübsche Engel! Und so erhaben. Komm, lass uns fliegen!«

»Gravität zieht nach unten, Miss, die Naturgesetze existieren aus gutem Grund. Wir beide zusammen fallen schneller.«

»Genug jetzt von dieser langweiligen Philosophie… Ist denn nicht auf Sokrates Rücken die Hure geritten? Komm her, beherrsche mich. Sag mir, Mr. Schick, dass meine Brüste deine Sonne und Mond sind und die Atemluft, jeder Seufzer und jedes Säuseln, ja jedes Wort aus meinem Mund: dein Gesetz!«

Mein Gesicht verbarg sich in ihrem Busen, die Wärme füllte meine Wange und ich weinte.

Links:

Beginn der Geschichte: https://styxhouse.club/2024/03/24/switch-head-switch-on-teil-1/

Vorheriges Kapitel: https://styxhouse.club/2024/07/28/switch-head-switch-on-teil-7/

Nächstes Kapitel: https://styxhouse.club/2024/08/10/switch-head-switch-on-teil-9/

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