Eine Cyberpunk-Noir-Geschichte
»Oh, Sie sind hoffentlich nicht böse auf mich, Mister Schick.« Jerikas blaue Augen blitzten auf wie Kristalle im Mondlicht. Sie paffte eine von den Synths – aber eine edlere Marke.
»Madam«, sagte ich. »Warum sollte ich böse auf Sie sein?«

»Ich bin nicht mutig, wie mein süßes Mäuschen. Nein, nein, Mister Schick – große Männer gehen mit schweren Waffen in dunkle Räume, da… ich habe mich lieber versteckt…«
»Sie sind wohl um ein gutes Stück schlauer als ihre Kollegin, das ist alles«, erwiderte ich. »Werden Sie uns ebenfalls weiter begleiten? Ich kann es nicht empfehlen. Wie Sie sicherlich gemerkt haben, ist unsere Gegenwart gefährlich.«
»Ich bin immer da, wo Lucy-Mäuschen ist. Ich bin ihre Vorgesetzte«, insistierte Jerika, als ob dies irgendetwas erklären würde. Der würzige Rauch der Synth gemischt mit einer Note ihres Parfüms stieg in meine Nase. »Ich kann sie nicht mit Männern wie ihnen alleine lassen. Nein, ganz bestimmt nicht.«
»Das ist ihre Pflicht.« Ich nickte und Jerika nahm die schluchzende Lucy erneut in ihre Arme. Sie tätschelte ihre Schulter und streichelte durch das rote Haar. Ein gehauchter Kuss auf eine glühend heiße Stirn – ich fragte mich zum zweiten Mal in dieser Nacht, ob diese beiden Frauen etwas zu drehen oder zu wenden hatten oder ob es sich dabei nur um die typische Hand-basierte Zärtlichkeit zwischen diesem Geschlecht handelte, auf die wir Männer manchmal neidvoll blickten. »Alles ist gut, Lucy-Maus. Alles ist gut. Alles… gut. Tut dein Magen immer noch weh?«
»Caballero, lass das Weib stehen und komm hier rüber.«
»Jawohl, Sir.«
Ich schritt hastig zu Decker. Dieser musterte gerade stirnrunzelnd den Korridor, der tiefer in die Büroanlage führte. Graue Böden, weiße Wände, graue Türen und ein subtil flimmerndes Licht. Was mochte uns noch erwarten? Die Umgebung war so nichtssagend, dass ich beinahe das Gefühl hatte, sie schwieg mit voller Absicht und wollte uns nichts verraten.
»Wir müssen da rein.«
»Jawohl, Caballero, was für ein scharfes Köpfchen du doch hast… wenn du nicht gerade einem gewissen fetten Wackelarsch hinterher starrst.«
»Ich bin voll einsatzbereit«, insistierte ich über die Gehirnrinde.
»Wie oft haben wir mittlerweile zusammengearbeitet? Vier Mal, fünf Mal?«
»Sieben Male«, sagte ich.
»Der Punkt ist: Ich kenne dich. Du starrst, Caballero, daran ist nicht´s böses, mach ich auch, bin ja auch ein Mann und die Behörde ist kein Mönchskonvent, verstehste? Aber das hier… das ist etwas anderes.«
»Ich bin nicht kompromittiert, falls Sie das meinen, Sir.«
»Genau dasselbe hörte ich auch in Fort Red. Nicht von dir… aber der selbe Blick, verstehste?«
Ich erwiderte nichts. Für eine Weile blickten wir den stickigen Korridor entlang: das Licht flackerte müde an und aus und wieder an. Der Morsecode schien uns in die Dunkelheit locken zu wollen. Ich dachte nach: Es waren letztlich nicht die Laute, die Wörter und Sätze ergaben, sondern die Pausen dazwischen. Was war also die Dunkelheit denn mehr als eine Pause zwischen Licht und Licht? Decker hatte Recht. Ich war kompromittiert – infiziert, das Schlimmste, was einem im Einsatz passieren konnte. Man mochte sich für immun halten – ich hatte es wie alle Agenten auch getan – bis es dennoch einen traf und man vollkommen wehrlos war gegenüber diesem Lächeln, der schmelzenden Stimme und selbst ihr Parfüm schien sich wie ein Leichentuch über die ganze Welt zu liegen, sodass man nur noch mit allen Sinnen Sie wahrnehmen konnte. Ich seufzte. Das durfte mir nicht passieren.
Ich hatte den Abschlussbericht von Fort Red gelesen – auch sie war eine Butcherin gewesen und er zum Verräter geworden. Mein Herz aus Blut und Fleisch hatten sie im Rahmen der Majestifizierung herausgerissen – nun hatte ich eines aus Stein. Ich sollte auch so handeln. Ich war ein Bluthund auf der Jagd, kein streunender Köter auf der Suche nach einer läufigen Hündin. Decker klopfte mir auf die Schulter.
»Das ist die richtige Einstellung, Caballero. Es gibt Arbeit zu erledigen und wir Armen schließlich kennen keinen Feierabend.« Er lachte trocken seine Spinnweben von der Kehle.
»Meine Herren!«, erklang von hinten die helle und doch so kraftvolle Stimme Lucys. Wir drehten uns beinahe synchron um. Decker hatte das Glück, dass das schummrige Licht im Gang seine weiten Pupillen verdeckte, aber ich mit meinen angeschalteten Augen hatte nicht das selbe Privileg. Der Trieb war der Trieb und selbst in diesem Krieg kann der Mann nichts anderes tun, als dem weh zu tun, was er liebt. Doch Lucys strenges Antlitz verriet nichts von ihrer weiblichen Schwäche. Nur ihre leicht geröteten Augen bewiesen, dass das Vorgefallene nicht spurlos an ihr vorübergegangen war und dass ich mir ihre Tränen nicht eingebildet hatte – ähnlich wie man an der Öffnung einer ausgeschütteten Vase noch den duftenden Inhalt riechen konnte. »Meine Herren, ich werde Sie nun zur hinteren Verbrenneranlage führen. Wir müssen dafür um den Bunker und den Kessel außen herumgehen. Das ist sicherlich sicherer.«
Decker nickte. »Wie Sie wollen, Missy, aber ich muss Sie – um meines guten Gewissen Willen – noch einmal darauf hinweisen, dass Sie hier Ihr Leben auf´s Spiel setzen. Vielleicht mehr als das.«
»Sie jagen einen bösen Mann, das weiß ich«, sie nickte entschlossen. »Aber auch ich muss zu dem stehen, was ich sagte: Ich kann nicht zulassen, dass noch mehr Menschen hier heute Nacht ein Leid geschieht.«
»Genau deshalb sind wir hier«, log ich ihr schamlos ins hübsche Gesicht.
»Dann will ich Sie beide mit voller Kraft unterstützen.« Sie deutete nach vorn. »Wir müssen diesem Korridor folgen. Erste Abbiegung rechts. Nächste Links. Dann sind wir an der Ostseite der Mülltrennung.«
Jerika ergriff die zitternde Hand, als wir losgingen. Da ich nun keinen Grund mehr hatte, die Hammerkrag zu verbergen, nahm ich sie hervor und schritt voran, während Decker sich nach hinten fallen ließ. Er wollte wohl die Mädchen und mich im Auge behalten. Ich war hingegen nur froh, dass Lucy das tat, was sie vorher versprochen hatte und sich brav hinter meinem Rücken versteckt hielt. Fünf Arbeiter waren tot. Schlimmeres mochte hier lauern. Meine angeschalteten Augen wichen nicht vom Weg ab.
Das Bürogebäude vor der Verbrenneranlage erwies sich indessen als ein wahres Labyrinth aus eintönig grauen Gängen und verwaisten Büros. Hätten wir Lucys Führung nicht gehabt, so musste ich zugeben, wären wir schnell in die Irre gekommen. Und je länger wir unterwegs waren, desto schwerer schlug die Stille und Einsamkeit der nächtlichen Schicht auf das Gemüt. Nur die Töne und das Fiepen schwerer Bildschirme drang aus den Büros und das eintönige Summen der Frischluftversorgung wummerte hypnotisch über unseren Köpfen.
»Während der Frühschicht sind eigentlich alle Büroangestellten in den zwei Türmen… so nennen wir… ehm… die beiden Bürogebäude am Eingang, wissen Sie? Aber an der Verbrennungsanlage müsste eigentlich stets eine Rumpfcrew von sechs Kollegen sein. Die Anlage darf niemals stillstehen, müssen Sie wissen«, erläuterte Lucy zu keinem Bestimmten.
»Was verbrennen Sie hier eigentlich?«
»Restmüll natürlich. Also Asche, Keramik, benutzte Alufolie und Hygiene-Artikel und Hinterlassenschaften von Klontieren vornehmlich.«
»Das ist alles?«
Decker lachte. »Sicher! Gibt nichts sauberes als eine Müllverbrennungsanlage im Slum.«
»Mister Decker, ich verbitte mir solche Anschuldigungen!«
»Sagen Sie, was Sie wollen, Missy, aber es gibt einen Grund, warum wir heute Nacht ausgerechnet hier – in ihrem geschätzten Establishment – den Kammerjäger spielen müssen. Gewalt lockt Gewalt an und Lügen folgen immer Lügen.«
»Der Teufel geht hier um, da stimme ich meinen Kollegen zu«, sagte ich und sicherte den nächsten Korridor ab. »Wir sorgen dafür, dass Gott heute Nacht das letzte Wort behält.«
»Mr. Schick, Sie wissen doch, dass Nennung von religiösen Artefakten durch das Gute-Glauben-Gesetz strickt verboten ist! Oh je, noch einmal so ein Fauxpas und ich muss die Behörden verständigen!« Jerikas rauchige Stimme streichelte meinen Nacken. Ich drehte mich nicht um. »Den Teufel mag es geben – man weiß es nicht – aber Gott fällt nur durch seine Abwesenheit auf. Oder sind sie etwa schlauer als selbst die Großen Vordenker?«
»Den Teufel gibt es, Miss – und ich glaube, niemand, der dem tatsächlich Bösen jemals gegenübergestanden ist, wird dies verleugnen. Ich selbst habe den Teufel gesehen. Und wenn es den Teufel gibt, dann muss auch Gott sein. Eine ätzende Säure greift gewisse Güter und Materialien an, doch sie löst sich nicht selbst auf. Also muss es einen Unterschied zwischen Säure und Nicht-Säure geben – zwischen dem was angreift und zersetzt und dem was einfach ist. Man kann über vieles streiten Miss, aber die Existenz von Teufel und Gott sind so sicher, wie Sonnenaufgang und Sonnenuntergang.«
»Ruhe jetzt«, bellte Decker. »Wir sind hier nicht im Erstsemester Philosophie. Augen nach vorn und weiter!«
»Und halt gefälligst dein blödes Maul«, funkte er noch über die Hirnrinde hinterher.
Ein Schatten war urplötzlich über mich gekommen.
Sie hatten uns aus den Lüftungsschächten angegriffen – das begriff ich noch wie betäubt und mein Gehirn von einem gleißenden Blitz umnebelt. Ein Spitzer Schrei – ich glaubte Lucys – hallte in meinen Ohren wider und riss mich aus der Schockstarre, bevor der Schatten und die Dunkelheit mich vollends umfassen konnten.
Ein heftiger Schlag traf meinen Rücken und schleuderte mich nach vorn.
»Runter!« Deckers Beatrice knallte und ein Lichtblitz erhellte den Gang und in diesem Licht sah ich sie zum ersten Mal. Es waren die vier Schichtarbeiter. Sie hatten ihre Särge verlassen und waren uns gefolgt.
Sie kletterten an den Wänden und schlängelten sich an der Decke – was man ihren Körpern angetan hat, davon kündeten als treue Boten die zur wilden Agonie verzerrten Augen. Ich presste mich vom Boden ab, sprang empor und betätigte den Abzug. Einer der mutierten Freaks fiel zu Boden, sein Mund formte grässliche Schreie, während der Körper in grellen Farben verbrannte. Er knirschte mit den Zähnen und heulte und konnte doch nichts tun. Er hätte in seinem Sarg bleiben sollen, doch falsche Versprechungen hatten ihn hervorgelockt und so erlitt er den schlimmsten aller Tode, den zweiten Tod.
Meine Hammerkrag knallte noch zwei weitere Male, einer fiel zu Boden. Doch da hatte der nächste mich erreicht, er packte mich und gegen die Macht eines wütenden Mutanten war selbst der majestifizierte Körper nicht gefeit. Er rang mich zu Boden, der Vierte kroch an der Decke hinweg – in meiner Panik dachte ich, er hätte es auf Lucy abgesehen. Ich hörte Decker irgendetwas rufen und brüllen. Doch ich hatte meine eigenen Probleme zu lösen. Ich hob meine Ellbogen und versuchte zumindest mein Gesicht vor den Fäusten und Krallen und Zähnen der Mutierten zu schützen. Jede einzelne Sekunde prasselten auf meinen Armen und meine Brust Schläge von einer Wucht nieder, die selbst der Stoizismus von Stahl nicht hätte ignorieren können. Und es wäre wohl aus mit mir gewesen, wenn Decker nicht den Freak mit einem einzigen sauberen Schuss geköpft hätte. Hitze, die direkt aus einem Schmelzofen zu kommen schien, schlug mich für einen Moment nieder und der Mutant der auf meiner Brust kniete, verging im jämmerlichsten Geheul, das ich jemals gehört hatte. Doch schließlich hatte ich genug Freiheit. Ich trat den brennenden Menschen mit meinem Stiefel in den Magen, rollte mich herum, packte meine Hammerkrag und schoss. Und der Freak verstummte.
Der Kampf war vorüber. Nur rauchende Aschehäufchen und bestialischer Gestank von verbranntem Fleisch und Knochen kündeten von dem schrecklichen Überfall. Irgendwo hinter mir hörte ich Lucy schluchzen.
»Alles in Ordnung bei euch?«, fragte ich und bereute es sofort. Meine Brust fühlte sich an, als hätte ein übereifriger Arbeiter eine Wellblechplatte mit einem Stahlhammer bearbeitet, was irgendwie auch der Wahrheit entsprach. Ich zog mich an der Wand hoch.
»Ging mir nie besser, als ob ich direkt ausm Wellness-Urlaub komme«, brummte Decker. »Zwei von diesen Scheißkerlen sind davongekommen.«
»Meinst du, der K/464 war darunter?«
»Nein. Die Gesichter kannte ich alle.« Ich hörte eine dumpfe Erschütterung. Decker betrachtete verwirrt seine Hand, als müsste er erst entscheiden, ob er den Schmerz und den harten Widerstand der Wand verspürt hatte. »Verdammich, Caballero, du hast geschafft, was ich nicht konnte. Dein blödsinniges Geschwafel hat unseren gemeinsamen Freund zur Weißglut gebracht.«
»Es war kein überlegter Überfall«, stimmte ich ihm zu. Ich fingerte nach einer Zigarette.
»Kein überlegter Überfall, sagt er…«, Decker stieß Luft durch die Nase aus. Es hörte sich an, als würde der Staub und Nikotinabsatz von Äonen aus seiner Kehle hinausbefördert. »Das war ein Verzweiflungsangriff – das Zähnefletschen eines in die die Ecke gedrängten Tieres! Er ist offenbar in der Nähe, dieser verdammte Reject. Mit irgendetwas scheinen wir ihm Angst gemacht zu haben. Wir müssen jetzt schnell weiter! Den Druck nicht nachlassen. Dann begeht er wieder einen Fehler… seinen letzten Fehler…«
Ich gab auf, zu suchen. Ich glaube, ich hatte meine letzte Synth in Jerikas roten Mund geschoben. Eine Ewigkeit schien es her zu sein. Oder hatte ich zwischendurch doch noch eine geraucht?
»Beruhige dich, Mäuschen. Die Männer haben sie verjagt«, hörte ich ihre Stimme nun – ein schmelzender Gletscher, dessen Wasser sich über meine Seele ergoss. Sie kniete und streichelte über Lucys bleiche Wangen, die ohne die zahlreichen Sommersprossen wohl so weiß wie Schnee gewesen wären. Zu meiner Erleichterung schienen beide unverletzt zu sein.
»Was… was ist mit ihnen? Was… was ist passiert. Warum schreien sie so? Warum… Was passiert nur mit uns? Oh mein…Magen tut so weh. Ich glaube…« Lucys Stimme brach. Sie riss sich an ihren Haaren.
»Miss Keller, Sie sind unter Schock. Ich werde Sie zurückbringen.«
»Caballero! Aus!«
»Nein… nein… das geht nicht. Noch nicht. Ich… ich kann das nicht… Ich muss es rauskriegen! Oh, Sie dürfen nicht gehen. Sie brauchen Hilfe.« Lucy hob ruckartig ihren Kopf, ihre geröteten Augen blitzten mich an. »Sie… ich darf Sie nicht alleine… Sie verirren sich… ohne mich.«
»Wir finden den Weg auch alleine – In diesem Zustand ist sie nur Ballast für uns. Ich werde Miss Lucy nun aus diesem Gebäude geleiten. Wir haben sie genug Gefahren ausgesetzt, das war schrecklich unverantwortlich von uns gewesen.«
»Sie kann den Weg zurück selbst finden. Wir dürfen jetzt nicht nachlassen, Caballero! Dein Teufel ist auf dem Rückzug. Gute Arbeit!«
»Er nimmt nur Anlauf«, erwiderte ich. »Und außerdem, sie ist unter Schock. Sie wird in diesem Zustandnicht den Weg zurückfinden. Nein, ich kann sie nicht alleine gehen lassen. Nicht mit einem frei herumlaufenden K/464und seinen Horden.«
»Der hat´s auf uns abgesehen, Caballero. Wenn sie ihre hübschen Beinchen in die Hand nimmt, wird sie´s schon machen.«
»Ich werde Lucy zurückbegleiten. Ich bin ihre Vorgesetzte.« Jerika erhob sich. Sie verschränkte ihre Arme und verbarg ihren Busen, die stahlblauen Augen musterten uns fordernd. »Sie gehört mir… zu.«
Decker seufzte geschlagen.
»Ach, verdammich. Weiber im Job bringen immer Unglück. Ich wusste es.« Seine Hand fuhr durch das verschwitzte schüttere Resthaar. »Ich begleite die gnädige Mademoiselle vor die Tür«, sprach er schließlich. »Du, Caballero, sicherst derweil die Umgebung. Aber beweg dich nicht zu weit. Wir haben den Feind erschreckt – nicht seine Moral gebrochen.« Ich nickte.
Und zu meiner Erleichterung wehrte sich Lucy nicht, als Jerika sie an der Hand nahm und behutsam den Weg zurück führte. Missmutig stampfte Decker ihnen hinterher.
Ich hatte meine eigenen Gedanken, aber ich tat wie mir geheißen. Ich war der Bluthund, aber ich war nicht der Jäger. Ich war kompromittiert, aber ich tat mein Bestes, meine Aufgabe zu erfüllen.
Als erstes überprüfte ich die näheren Lüftungsschächte – nichts außer Kratzer und Staub, danach blickte ich in die verschiedenen Räume zu beiden Seiten und kundschaftete den Korridor weiter nach vorne aus, doch die Spur der mutierten Freaks verlor sich ins Leere. Sie hatten sich wohl in das Innere der Verbrennung zurückgezogen, vermutete ich. Dort gab es Verstecke und viele schattige Winkel zwischen den stählernen Eingeweiden der Anlage. Meine Hammerkrag senkte ich trotzdem keine Sekunde auch nur einen Millimeter. Der Angriff war zu leicht zurückgeschlagen worden, dachte ich. Ich war nicht so optimistisch wie mein Vorgesetzter, was mich verwunderte, denn normalerweise war das andersherum. Für mich stank hier alles nach einer Falle. Was machte Decker so rastlos? Doch was auch immer in den nächsten Stunden passierten mochte, ehe diese Nacht vorüber war, würde uns ein weiterer blutiger Kampf bevorstehen. Das war sicherer als der nächste Sonnenaufgang. Es war besser, dass die Frauen uns nun verließen, auch wenn dies unseren Weg und unsere weitere Suche erheblich erschweren würde.
Ein Geräusch weckte plötzlich meine Aufmerksamkeit. Meine scharfen Ohren vernahmen das Rascheln von Blättern – irgendwo in der Nähe – doch es gab hier drinnen keinen Wind. Ich öffnete die Tür zu meiner Rechten. Ein verwaistes Büro lag vor meinen Augen: aufgeschlagene Akten und Blätter lagen auf dem Tisch wirr hin und her verstreut, der eingeschaltete Rechner summte vor sich hin. Die Schränke enthüllten nichts besonderes. Hier hatte kurz zuvor noch jemand gearbeitet, ob ich diesen jemand auch kurz zuvor mit der Hammerkrag erwischt hatte, wusste ich nicht. Da ich nichts Verdächtiges vorfand, schloss ich die Türe wieder und hatte das Gefühl, als würde ich eine Gruft versiegeln. Oder hatte ich mich in ihr eingesperrt?
Der öde nichtssagende Korridor lag wieder so vor mir wie zuvor – ehe ich die Klinke ergriffen und die Tür geöffnet hatte und doch war alles anders. Der gleiche vergilbte Putz, die gleichen Türen und der gleiche ausgetretene Teppich – über die Jahre hinweg von vielen schmutzigen Stiefeln versaut. Aber es war etwas gekippt. Das wusste ich sogleich. Ich befand mich nun woanders. Es war, als ob die ganze Welt um wenige Grade anders stand als noch wenige Momente früher – wie ein Uhrzeiger der ruckartig nach vorne gesprungen war. Der Gang erstreckte sich also wie zuvor, doch am Ende dieses langen weißen Tunnels hörte ich nun Maschinen schnaufen und das Zischen von Dampf und das Knistern von Feuer. Ich musste irgendwie näher an die Verbrennung rangekommen sein, sagte ich mir, um meinen Verstand zu schützen.
Ich blickte mich um. Weder Decker, noch Lucy noch die schwarzhaarige Schönheit waren irgendwo zu sehen und ich wagte es nicht, zu rufen. Ich hätte es auch nicht gekonnt. Ich war urplötzlich stumm wie in jenen Albträumen, in denen man aus ganzer Kraft Schreien wollte, aber keine Stimme fand. Wie war ich nur in die Höhle des Löwen geraten? Keine Zeit zu fragen und lange nachzudenken. Mit der Krag im Anschlag schritt ich voran. Das silberne Metall leuchtete in der flackernden Düsternis.
Es stiegen mir nun Gerüche in die Nase, die wenig erbaulich waren: ich roch verbrannte Federn, faulendes Fleisch und beißend brennenden Gummi und die Atemluft selbst schien urplötzlich ätzend zu sein. Ich musste husten. Aber ich wagte es trotz allem weiter voranzudringen. Was auch immer der Feind mit mir gemacht hatte, Zögern und Angst würden ihm nur nützen, so entschloss ich mich trotz der lähmenden Furcht weiterzugehen. Hitze und Gestank schlugen mir dabei wie wütende Fäuste entgegen. Ich war ganz nahe. Die Falle musste nun jeden Moment zuschlagen. Ich wischte mir den schweren Schweißfilm von der Stirn. Und dann erreichte ich das Ende des Korridors und beinahe wäre ich gefallen, aber meine Hände umfassten gerade noch die Reling.
In der Ferne sah ich die gigantische Silhouette des Trichters im Dunst und Nebel verschwinden. Der massive Kranarm schwankte darüber im Wind sachte hin und her, wie ein Betrunkener der seine Schritte suchte. Eine urplötzliche Neugierde übermannte mich, denn ich war ein Mann, so beugte ich mich über die rostige Reling und blickte hinab in das Meer aus Müll und meine Augen verloren sich für eine Zeit in das, was der Mensch dem Feuer überantwortet hatte. Ich sah nichts konkretes, nur Schemen und Formen und Farben und der Gestank war fürchterlich und doch erfüllte mich eine seltsame Art von Traurigkeit. Es war, als ob ich mein eigenes Grab sehen würde. Der Müllbunker erstreckte sich vor mir.
»Brav bist du gefolgt, Hund.«
Ich drehte mich um. Einer der mutierten Arbeiter stand vor mir, sein Mund triefte von Blut, die Augen gelb wie die meinen und seine zum Elfenbein-Dolch geschnitzten Finger zeigten auf mich. Er versperrte mir den Weg zurück.
»Ich gehe dahin, wohin man mich schickt. Das ist alles.«
»Das Band um deinen Hals erfüllt dich mit Stolz. Du bist ein Sklave.« Die kehlige Stimme erstickte beinahe an Abscheu und Verachtung. Ich lächelte und das Lächeln schmolz zu einem schmerzenden Grinsen.
»So ist´s.« Ich nickte und zielte mit dem silbernen Lauf auf ihn. Ich fragte mich, wieso er nicht angriff. Die eigenartig feuchte Hitze dampfte um uns herum, benässte meine trockenen Lippen. »Wir beide dienen – nur unterschiedlichen Herren wie es scheint.«
»Nichts verbindet uns. Rein gar nichts. Ich bin frei. Endlich frei. Ich kann tun, was ich will. Das ist Freiheit.«
»Kannst du das nicht tun, was du tun willst?«
Ich sah den Glanz in den mutierten gelben Augen. Ich sah das Zögern. Etwas war noch da von dem einstmaligen Menschen, ein letzter Überrest des Verstandes, den die Nadel durch das Auge nicht hatte penetrieren können. Und dieser letzte klägliche Rest schien mir etwas sagen zu wollen, hatte ich das Gefühl: Der Mutant wischte sich über das Gesicht, als ob er die Hitze so spüren würde wie ich:
»Ich… will… dich töten. Gnade!…«
Mit unmenschlicher Geschwindigkeit schnellte der Mutant auf mich zu. Ein gewöhnlicher Mensch hätte bei diesem Angriff all seine Eingeweide den gierigen Klauen abgeben müssen, doch ich war so abnormal wie mein Feind. Ich betätigte den Abzug noch in dem Moment, als sich seine Knie beugten. Der Knall hallte durch den weiten Raum. Der leblose Körper schnellte aber von der massiven Kugel ungebremst auf mich zu und beinahe wäre ich mit ihm über die Reling in die Tiefe getaummelt. Mir gelang es, den Schwung und die Wucht des fleischlichen Projektils weiterzuleiten, indem ich mich blitzschnell zur Seite drehte. Der durchlöcherte Leichnam musste ohne mich seinen Weg hinab nehmen – in die vergessene Finsternis, dort wo das schönste unter all den schönen Dingen schlief, die der Mensch schuf, den es war gebraucht worden. Und im letzten Moment, bevor der Leib im Nebel verschwand, sah ich wie das Gelb aus den Augen verblasste.
Ich keuchte. Ich entfernte die leere Hülse und lud eine neue Kugel in die Krag. Das war viel zu knapp gewesen, dachte ich, als ich auf meine zitternden Hände blickte. Noch war die Sonne nicht aufgegangen und ein erneutes Mal war ich auf Messers Schneide dem Tod entronnen.
Ein Brennen durchzuckte urplötzlich meine rechte Wange. Die Kugel fiel mir aus den Händen und klimperte metallisch auf dem rostigen Boden. Ich strich mit meinem Finger über die schmerzende Stelle. Eine Wunde war von den schneeweißen Elfenbein-Klauen des Mutanten geschürft worden. Sie war nicht tief, aber sie blutete und blutete und blutete.
»Verdammter Butcher«, knurrte ich. Der Schmerz dröhnte nun voller Empörung und hörbar protestierend gegen meine eingebauten Inhibitoren, ein normaler Bürger wäre wohl konvulsierend in ein Häufchen Elend zusammengesunken, doch ich schaffte es irgendwie, auf den Knien zu bleiben.
»Caballero, mein Junge, da hast du dich versteckt.« Decker trat durch die Tür, seiner massigen Gestalt folgten zu meiner großen Verwunderung die beiden Damen. »Und du lebst sogar noch. Schön. Steh auf! Der Feierabend liegt noch in weiter ferne.«
»Du… solltest… sie doch zurückbringen. Die Frauen gehören nicht hierher…« Ich knirschte mit den Zähnen. Der Schmerz nahm nicht ab, nein, er wurde immer stärker, immer drängender, ein kleiner Bruder, der nach Aufmerksamkeit quengelte. Decker zuckte mit den Schultern.
»Du kannst dich bei der Missy bedanken. Sie hat sich doch´s anders überlegt und ich hatte keine Zeit zum Diskutieren. Du weißt ja, wie die Weiber sind, Caballero… Nun ja, du weißt es nicht, aber ich weiß es und glaub mir, ich hab in so etwas Erfahrung. Bin immerhin noch verheiratet. Also, steh auf, Faulpelz, oder willst du ewig am Boden bleiben und herumheulen wie ein kleines Mädchen?«
»Mister Decker, sehen sie denn nicht, dass Ihr Kollege verletzt ist?« Lucy, die wunderschöne Lucy – ein zorniger Engel – stürmte an Decker vorbei und kniete sich zu mir herab. Funken schlugen in der Ferne – gleißende Flügel in der Nacht. »Mr. Caballero, sie bluten fürchterlich. Warten Sie, ich habe immer ein Arztpad bei mir… Wo habe ich es denn nur…«
»Missy, mein Kollege ist… ein Mann. Der ist weniger wert als ein Hund. Verschwenden Sie doch nicht ihre hübschen Finger an dem… Der wird schon von alleine wieder, keine Sorge. Kommen Sie lieber wieder zu mir und wir können weitermachen.«
»Mister Decker, ich gebe zu, ich bin eine Frau und verstehe nicht viel von den Dingen, die sie tun müssen, doch ich verstehe auch, dass sie gerade der einzige Mann im Raum sind, der uns beschützen kann. Also gehen Sie, schauen Sie, dass sich nicht noch ein böser Mann im Schatten versteckt, sodass ich Ihren Kollegen in Ruhe verarzten kann. Ein verletzter Hund wird wohl auch nicht ihre Schafe hüten, oder?«
Lucys haselnussbraune Augen funkelten wütend und das Gleißen darin überstrahlte das Zittern und die Furcht in ihren Händen. Und zu meiner Verblüffung tat Decker wie ihm geheißen. Wortlos drehte er sich um und ging hinaus. Jerika folgte ihm. Das hatte ich noch nie zuvor gesehen.
»Der K/464 laugt uns mit seiner Row Zero aus… uns läuft die Zeit davon«, funkte Decker über die Nervschaltung.
Die spitze Nase Lucys und ihre funkelnden Augen schoben sich in mein Sichtfeld, so vergaß ich das Mosern meines Kollegen. Ihre geschickten Finger sprühten Siegelgel auf meine Wunde. Es brannte fürchterlich, aber ich versuchte den Schmerz mit einem Lächeln zu überdecken, was aber letztlich wohl herauskam war eine Grimasse, die Lucy zwang, ihre Augen abzuwenden, während sie die Wunde reinigte und versiegelte. Danach kramte sie aus ihrem Arztkit eine Spritze hervor.
»Ich hab Angst vor diesen Dingern«, sagte ich. Sie rammte mir die Nadel in den linken Arm.
»Ich denke, das hilft gegen das Gift in ihren Adern. Es sollte zumindest die Schmerzen lindern und das Schlimmste verhindern.«
Das Gegengift brannte fast so schlimm, wie das eigentliche Verderben in meinem Blut.
Ich weiß nicht, ob es ihre missbilligende Miene war, die ehrliche Sorge und vielleicht so etwas wie Zuneigung verhüllte, oder das seltsam vertraute Parfüm, das in meiner Nase selbst den Geruch von Blut und Müll überlagerte; aber irgendwie erinnerte mich diese wundersame Erscheinung an eine gewisse Begebenheit in meiner Kindheit. Ein heulender Junge in den Armen seiner schimpfenden Mutter. Ich lag mit dem Rücken an der Reling und ließ wortlos ihre Prozedur über mich ergehen, denn es war doch manchmal schön, einfach so behandelt zu werden, anstatt handeln zu müssen.
»Mister Caballero, die Blutung ist gestoppt und die Wunde gereinigt. Ich hoffe, es entzündet sich nicht. Ich hoffe auch, dass das Gegengift wirkt… Es ist nur ein universales Mittel und kein spezifisches… Wer weiß, was dieser… böse Mensch ihnen verabreicht hat – .«
»Sie machen so viel Aufriss. Und das für jemanden, der heute Nacht vielleicht sterben wird.« Ich genoss es, dass Lucys Miene noch zorniger wurde.
»Wissen Sie was? Ihr Kollege hat Recht, Mister Caballero, Sie heulen wirklich zu viel. Ich bin eine ausgebildete medizinische Assistentin. Misstrauen Sie meiner Kunst?«
»Ich meine nicht das…« Ich hustete und Blut und von Gift getränkter Schleim spritzte auf mein Hemd und meine Hose. Lucy wandte sich nicht ab. Sie konnte den grässlichen Anblick meiner angeschalteten Augen überraschend lange ertragen. Sie saß vor mir auf ihrem Hintern nun und hatte die Hände um ihre Knie geschlungen. Doch sie blickte dabei unverwandt in mein Antlitz. »Es ist eine wilde Jagd heute Nacht, Miss Keller. Und Ich bin ein Jagdhund, verstehen Sie? Solange ich das Raubtier nicht gestellt habe, solange vergönnt man mir keine Ruhe…«
»Herr… Caballero, Sie sind kein Hund.« Sie nahm mit ihren zarten Fingern meinen Kopf in ihre Hände – als wäre es ihr Spielball oder ihre Vase.
»Spürst du denn nicht das Metall unter der Haut?«
Sie legte ihr Ohr an meine Brust.
»Ich spüre da ein Herz schlagen. Ein Herz aus Fleisch und Blut und nicht aus Stein. Also müssen Sie ein Mensch sein.«
»Caballero… Miss… Keller.« Ich dachte, Lucy würde sofort aufspringen, als hätte Decker uns wie ein Teenager-Pärchen beim Knutschen erwischt. Doch sie blieb auf mir sitzen und nahm mein Kinn in ihre Rechte. Sie sagte nichts und ich wusste nichts zu sagen. Das funkeln ihrer grünen Augen wirkte beinahe hypnotisch auf meinen Verstand und schien den Schmerz zumindest für eine Weile zu betäuben – mehr als das Gegengift.
»Das ist nicht die feine englische Art, Caballero, ihr beiden seit noch nicht einmal verheiratet«, schrillte meine Gehirnrinde auf und die grimmig amüsierte Stimme Deckers dröhnte schwer auf meinem Gewissen, obwohl ich gar nichts wirklich getan hatte, außer in meinen fiebrigen Gedanken vielleicht.
»Hast du was herausgefunden?«
»Ja, ich denke, ich weiß jetzt, wo sich unser Freund versteckt hält.«
»Wo?« Der Schmerz Lucys floss von dem süßen Blick auf mich.
»Ich hab nachgedacht. Der K/464 – so sagen die Weißkittel und Eierköpfe zumindest – ist letztlich nichts mehr als ein Magen-Darm-Parasit.«
»Ähnliches sagen auch die Sonntags-Metzger«, erwiderte ich.
»Und wir sind nun ganz nah am Scheidepunkt, Caballero, zwischen Magen und Darm der Menschheit. Sozusagen. Verstehste?«
Mein Blick riss sich endlich von Lucys glitzernden Augen los und verfing sich stattdessen am Mülltrichter. Die massive zylindrische Gestalt ragte wie ein ferner Riese im Nebel auf, ein Riese mit einem weit aufgesperrten Maul, das beständig vom Greifhaken des Krans gefüttert wurde. Ein drohender Schatten auf dem Reich des Vergessens. Ich blickte zu Decker. In meinen Augen muss wohl der Unglaube gestanden haben.
»Jawohl, Caballero, das ist unser K/464.«
Links:
Beginn der Geschichte: https://styxhouse.club/2024/03/24/switch-head-switch-on-teil-1/
Vorheriges Kapitel: https://styxhouse.club/2024/07/15/switch-head-switch-on-teil-5/
Nächstes Kapitel: https://styxhouse.club/2024/07/28/switch-head-switch-on-teil-7/
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