Eine Cyberpunk-Noir-Geschichte
Ich muss gestehen, mein Herz betrog mich in jener Nacht ein zweites Mal. Falsche Hoffnungen, unsinnige Bilder und eine Vision von einer Zukunft, die niemals sein konnte, wandelten durch meine Brust – Nein, sie rasten wie tobende Ochsen. Quälten mich. Ich lächelte und zog meinen Hut. Ich spürte den Schweiß auf Stirn und Schläfen.
»Ah, Miss, so treffen wir uns wieder«, sagte ich und war froh. Und tatsächlich stand sie wieder da vor mir, Jerika Mun Schoy, wie ein verflossenes und verloren geglaubtes Traumgebilde, das sich nach dem Aufwachen entgegen allen Naturgesetzen wieder zusammengefügt hatte. Ein Materium gewordener Geist. Ihre schimmernden Formen wiegten unbeugsam hin und her, wie ein starker Baum in der stürmischen Nacht. Und auch sie schenkte mir ein kurzes wissendes Lächeln. Ihre kristallblauen Augen leuchteten.

»Hier nehmen Sie das. Ich hoffe, ich habe sie nicht allzu lange warten lassen«, sagte Lucy und reichte mir eine Jacke über die Rezeption, wie sie wohl die Arbeiter in der Anlage trugen. Ich nahm den groben Stoff entgegen. Keine Ahnung, woher sie das Zeug so schnell bekommen hatte. Keine Ahnung, wie sie es geschafft hatte, einen Geist aus dem Tartaros heraufzubeschwören. Doch ich nahm stumm und ehrfürchtig beides entgegen – das Gewandt und den roten Mund Jerikas. War ich verflucht oder gesegnet von den Göttern dieser Nacht? Und endlich sprach sie:
»Ah, Mr. Schick, wie wunderbar. Ihre Pflicht und meine Arbeit – unser Schicksal überschneidet sich in dieser Nacht wohl. Und sie haben Asche auch! Aber nicht für mich… Oh je… jetzt bin auch ich im Dienst… Zu schade! Zu schade… Wir hätten gemeinsam – Asche schnippen können… für eine Weile zumindest…« Diese Stimme, wie geraspelte Schokolade… So sauer wie der Apfel. Ich wusste, dass sie nur mit mir spielte. Sie zeigte mir das siegessichere Blecken einer Raubtierlefze und doch konnte ich nicht anders als mitzuspielen. Denn dies schien das Schicksal von allen Männern: Ein Spiel zu spielen, dessen Regeln von Anfang an unseren Verlust diktierten. Und doch wagte ich es mit vollem Einsatz beizutreten:
»Es gibt eine Zeit für Vergnügen, Miss, und es gibt eine Zeit der Arbeit. Wir beide scheinen noch unsere Hände voll zu haben – für heute Nacht. Aber was morgen ist, kann niemand wissen.«
Jerika strich sich eine ihrer rabenschwarzen Strähnen aus dem Gesicht.
»Ah, der Morgen…«, knisterte ihre Stimme, »wie schön es doch wäre, wenn manche Nächte auf ewig dauern würden. Denken Sie nicht, Mr. Schick?«
»Dem stimme ich nicht zu«, mischte sich Lucy plötzlich ein. Sie lächelte nervös, einmal zu mir dann zu Jerika. »Ich meine…«, erklärte sie hastig, »ich würde gerne… ich… mir ist es schon wichtig… die Wärme und die Sonne. Und die Strahlen auf meinem Gesicht, wenn ich morgens aufwache…«
»Zieh dich um, Caballero, bevor du noch Löcher in das weibliche Geschlecht starrst. Bitte verzeih die rüden Manieren meines Kollegen. Die Behörde hat diesen Tunichtgut ausm Heim für Schwererziehbare rekrutiert. Ah ja, die Segnungen des Gleiche Chancen Gesetzes! Was würden wir Bürger nur ohne die Fürsorglichkeit unseres Staates tun?«
Ich tat, wie Decker geheißen, ich hatte keine Lust auf erneute elektronische Erziehungsmaßnahmen durch die Hirnrinde. Da war Decker tatsächlich ganz hart. So wie es das Handbuch für Handler vorschrieb: Sei ein hartes Arschloch.
Ich warf mir die neue Jacke über. Sie war steif und der Stoff rau, aber sie passte erstaunlich gut. Lucy hatte wohl durch einen Blick meine Größe perfekt geschätzt. Die Arbeiterkluft hatte, sobald übergeworfen, nun eine seltsame Wirkung auf mein Gemüt. Ich fühlte mich nun weder wie ein Beamter, noch wie ein Jäger oder ein Bluthund – ich war nun ein Rad im Getriebe des Systems: ein Arbeiter unter vielen schmutzigen Gesichtern. Es ließ mich an Fort Blackthane zurückdenken. Kleidung ist nichts rein oberflächliches – wir werden erst durch die Kleidung, die wir tragen, zu demjenigen, der wir sind.
Decker klatschte in die Hände:
»Gut, mein Kollege entspricht nun der neuesten Mode. Dafür danken wir herzlich. Aber jetzt geht’s an die Arbeit: Missy, ich brauche eine Liste aller Schichtarbeiter – die jetzige Schicht. Dann führen Sie mich und meinen Kollegen zum Raum A7 – bitte.«
Lucy zögerte. Ihr Blick wanderte für einen Moment hastig zwischen uns und ihrer Vorgesetzten hin und her, wie ein Reh, dass einen Fluchtweg vor den Hunden suchte. Schließlich sagte sie:
»Ich… ich weiß nicht… ich glaube, nun ja, die Liste können Sie sicherlich haben, Mr. Decker, aber ich muss das wohl erst mit dem jetzigen Schichtleiter besprechen. Bevor ich Sie auf´s Gelände lassen kann… meine ich… vielleicht?«
»Keine Sorge, Miss Keller«, sagte ich. »Das ist bereits alles mit dem Schichtleiter, Mister Roth, abgesprochen. Er hat das Gelände zwar vor kurzem verlassen, aber uns vor seinem wohlverdienten Feierabend in Ihre kompetenten Hände gegeben.« Ich positionierte mich zur Sicherheit so, dass meine breite Gestalt zwischen Herrn Roths ohnmächtigen Körper und Lucys Blickwinkel stand. Die junge Assistentin wirkte auf mich – verständlicherweise – trotz ihrer Professionalität unsicher. Doch schließlich nickte sie.
»Natürlich. Hier: Das sind alle sechs Mitarbeiter, die bei uns in der Frühschicht arbeiten und nicht krank, auf Geschäftsreise oder aus sonstigen Gründen abgemeldet sind.«
Lucy reichte Decker die Liste, der diese stirnrunzelnd überprüfte.
»Sie haben tatsächlich einen regen Betrieb um vier Uhr morgens. Wie viele Angestellte arbeiten insgesamt für Ihr Unternehmen?«
»Mit den Zeitarbeitern haben wir… ich meine… 33 Mitarbeiter. Die meisten Büroangestellten arbeiten aber mittlerweile von zu Hause aus. Nur wenige können sich den Panzerwagen durch die Stadt leisten, verstehen Sie? Und die neuen… kommunalen Betreiber legen sehr großen Wert auf Arbeiterfreundlichkeit, weshalb das auch – glücklicherweise – in Ordnung geht.«
»Die Straßen und die Rejects… das alte Problem«, murmelte Decker geistesabwesend, während seine stechend blaugrauen Augen die Liste überflogen. Ich fragte mich, nach was er suchte. Wir hatten bereits konkrete Verdächtige… eine stand direkt vor uns. Doch dann wiederum: Die Techniker der Behörde waren unter dem Von-Neumann-Melder vor dem Gebäude verschwunden, direkt an der Eingangstür. Das Verschwinden wurde dabei von einer Realitätsverschiebung begleitet, die in ihrem Ausmaß zwischen katastrophal und Kataklysmus pendelte. Es machte von einem gewissen Blickwinkel aus durchaus Sinn anzunehmen, dass eine solch immense Wirkung von älteren Wurzeln genährt werden musste.
Ich runzelte die Stirn. Ich dachte nach: Lucy Keller… sie entspricht nicht dem charakteristischen Beuteschema. Aber wir wissen auch nichts über sie. Vielleicht hat doch etwas an ihr ihn angelockt… Ich nahm sie aus den Augenwinkeln noch einmal ins Visier: … Hochgewachsener Bau – für eine Frau zumindest. Rothaarig, professionell, gut erzogen. Schüchternaber auch strebsam und sehr große Brüste…
Ihr roter Mund, das professionelle und doch ehrliche Lächeln, ihre Augen und der Eindruck ihres Arsches brannten sich förmlich in meine geistige Retina, aber ich kam einfach zu keinem Ergebnis: Opfer oder Täter? Irgendetwas in mir drinnen weigerte sich jedoch, überhaupt die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass dieses bleiche, sommersprossige Gesicht die Maske von Tod und Wonne sein könnte.
»Dürfte ich fragen, wen ihre Behörde denn konkret sucht?« Lucy sprach zu Decker, aber ich spürte, dass sie meinen aufdringlichen Blick bemerkt hatte und nun den Gefallen zurückgab.
»Nein, das dürfen Sie nicht«, erwiderte mein Kollege, faltete den Datenscreen und steckte ihn in seine Jackentasche. Ein wenig überzeugendes Lächeln spiegelte sich auf dem faltigen Gesicht. »Solange die Ermittlungen laufen, stellen wir hier die Fragen. Und Sie antworten brav, höflich und vor allem kurz, Missy. So wie Sie es gelernt haben. Also gut: Auf zum Raum A7. Ihre Freunde von der Schicht erwarten uns dort bereits sicherlich ganz sehnsüchtig, verstehste?«
»Ja, sicher, Mister Decker. Raum A7… das ist der Recreation-Bereich nahe der Verbrenner-Anlage. Die Schichtarbeiter machen dort Pause und halten Kurzzeit-Hypnos zur Erholung.« Lucy nickte hastig. Ihre weißen schlanken Finger strichen fahrig durchs rote Haar. Sie konnte ihre steigende Nervosität nur schlecht verbergen. Vielleicht hatte sie auch einfach nur Angst vor meinen angeschalteten Augen und ihrem Starren.
»Ich werde sie begleiten«, raspelte Jerika Mun Schoys Stimme.
Die schwarzhaarige Schönheit umarmte Lucy von hinten und küsste ihrer jüngeren Kollegin auf die Wange. Ihr Lächeln und ihr Blick schienen aber mir zu gelten. Beide Frauen starrten mich an. Die eine tief errötend die andere verspielt blinzelnd. Ich stellte mir nur für einen Moment vor, ich wäre Lucy und die spitzen Brüste Jerikas würden in meinen Rücken drücken. Und außerdem stellte ich mir noch andere Sachen vor. Ich schüttelte den Kopf.
»Ah… Mister Schick… Bitte haben Sie Mitleid und urteilen Sie nicht. Das Onboarding braucht Zeit. Man muss das doch erst lernen – wie das läuft mit den Behörden und den großen starken Männern in Schwarz….« Jerika legte ihren Arm um die Schultern der Jüngeren – ich wusste nicht, ob zum Schutz oder um die Besitzverhältnisse zu klären. Und auch wenn die Schwarzhaarige ihren Pseudo-Transfimmel mittlerweile abgelegt hatte, so war ihre angedeutete Figur unter der hauchdünnen Schicht immer noch die reine geformte Provokation. Sie trug nun die selbe Uniform wie Lucy, doch gebärdete sie sich, als gehörte das Unternehmen und das Universum ihr allein. Die beiden Frauen konnten wahrlich nicht unterschiedlicher sein. Ich nickte:
»Keine Sorge, Miss Keller. Sie machen Ihre Arbeit, wir die unsere und alles wird heute Nacht gut ausgehen. Das verspreche ich Ihnen.«
»Genug Zeit vertrödelt«, sagte Decker. »Je schneller wir die Liste abhacken können, desto weniger müssen wir diese verseuchte Luft hier atmen. Also los! – bitte.«
Das Klackern von Lucys spitzen Absätzen hallte durch verzweigte Bürogänge und trostlose Wartungskorridore, deren nichtssagende Identität nur durchbrochen wurde von gelangweilten Kritzeleien an den Wänden und das aufreizende Lächeln nackter Pin-Up-Girls. Wir waren wahrlich im Herz des hart arbeitenden Amerikas angekommen. Doch niemand schien hier tatsächlich am Werk zu sein. Die Gänge waren verwaist und verlassen. Eine unheimliche Atmosphäre lag über der ganzen Anlage um vier Uhr Morgens. Es war still. Nur das aufdringliche Surren der Deckenlampen über uns und das Schreiten der hochhackigen Schuhe der beiden Frauen durchbrach die Stummheit dieses Ortes. Schließlich öffnete Lucy eine Doppeltür und wir waren draußen.
Der kalte Winterwind schnitt sofort eisig ins Gesicht und brannte die stickige, sauerstoffarme Wärme von drinnen von der Haut und aus dem Gedächtnis. Ein überraschend weitläufiger Platz erstreckte sich nun vor uns und dahinter ragten die rauchenden Schlote der Verbrennungsanlage in den Schatten der Nacht empor. Wir waren wohl direkt auf der anderen Seite der beiden Bürotürme herausgekommen. Trotz der Kälte unterließ ich es aber den Mantel über der Jacke enger um mich zu ziehen. Mit zwei Frauen an der Seite war so etwas gefährlich.
»Wie weit ist es bis Raum A7?«, fragte ich.
»Nicht lange«, erwiderte Lucy. »Es ist gleich dort drüben, im nächsten Komplex.« Ihre rot lackierte Zeigefingerspitze deutete auf die schattenhaften Umrisse, die sich auf der anderen Seite des Platzes emporhoben. »Dahinter liegt die Müllgrube, der große Trichter und die Verbrenner-Anlage mit dem Kran. Wenn Sie Glück haben, machen die Arbeiter gerade Pause. Ansonsten müssen Sie wohl in den wirklich unangenehmen Bereich unseres Unternehmens eintreten… Ich würde in diesem Fall empfehlen, an der Ausgabestation eine Gasmaske zu beantragen. Ansonsten ist die Müllgrube und insbesondere der Bereich direkt um den Trichter herum nicht zu empfehlen…«
»Was macht eine hübsche Frau wie Sie in einer Müllverbrennungsanlage?«, fragte ich. Lucys Absätze stoppten vor mir und in einer einzelnen fließenden Bewegung drehte sie sich um und schenkte mir ein Lächeln, dass ich nicht ganz deuten konnte.
»Was macht ein hübscher Mann wie Sie bei der Ausländerbehörde?«, fragte sie.
»Ich jage Illegale, Miss Keller.«
»Und das ist eine gute Arbeit, Mister Caballero?«
»Ich bin zumindest gut darin«, erwiderte ich.
»Aber macht es Spaß? Sie sehen aus wie jemand, dem es Spaß macht, anderen Leuten wehzutun.«
»Nur wenn sie mir zuvor wehtun, Miss.«
»Ah, Sie sind also Masochist und kein Sadist.«
Ich antwortete nicht. Erst nach einer halben Ewigkeit unterschied ich Jerikas Stimme von Lucys. Ich schüttelte den Kopf.
»Ich bitte um Verzeihung, Miss Keller, ich wollte nicht den Eindruck erwecken, ich würde Ihre Arbeit hier nicht schätzen.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Mister Caballero«, erwiderte Lucy leicht schnippisch. Sie schritt erneut voran. Ihre zierliche Figur, die hypnotisch wippenden Schultern, der wackelnde Arsch, sie führte uns auf dem Weg durch die öde Finsternis – wie ein Leuchtturm in der Nacht. »Ich nahm keinen Anstoß an Ihren Kommentar. Ihre Frage ist wohl berechtigt. Auch ich… muss ich zugeben, hätte bis vor kurzem nicht daran gedacht, jemals im öffentlichen Bereich zu arbeiten.«
»Was haben Sie denn zuvor gemacht? Wenn Sie mir diese Frage noch erlauben…«
»Scheuen Sie sich nicht mit Ihren Fragen, Mister Caballero. Dazu bin ich schließlich da – um alle ihre Sorgen und Nöte anzuhören. Ich war medizinische Assistentin… im Cyalt and Co. Das ist das private am Stadtrand…«
»Ich kenne das Krankenhaus«, erwiderte ich und die hässlichen Schmerzen meiner letzten regulären Wartung stachen urplötzlich in mein Gedächtnis. Ich fragte mich in diesem Moment plötzlich, ob ich mir jemals eine der privaten Behandlungs-Suits leisten könnte. Gerüchte besagten, dass die oberen Zimmer und deren Service angenehmer wären, als in manchen Luxushotels. Automatische Medi-Bench und Anästhetikum, eine Bar voller Rum-Sorten ohne Synth-Kram!, ein Bett so weich und warm wie die Damen im VP und ein Ausblick, der selbst diese Stadt schön malte. Aber um dieses Privileg zu erhalten, musste man schon ein geklonter Undertaker von den Großen Fünf sein. Vielleicht würde ja die Prämie für einen K/464sogar ausreichen…
»Ich hoffe nicht von innen«, lachte Lucy und es war das erste Mal, dass ich bemerkte: sie hatte keine Furcht mehr vor mir. Doch je mehr sich das Mädchen für mich aufwärmte, desto suspekter wurde sie mir. »Die Arbeit dort hat mir eigentlich gut gefallen. Ich helfe gern den Menschen, verstehen Sie?«
»Und dennoch sind Sie weggegangen. Und hierhergekommen.« Ich blickte mich um.
In Lucys Stimme schwang nun so etwas wie Stolz gemischt mit Schmerz. »Es gab… Meinungsverschiedenheiten mit meinem alten Arbeitgeber…«
»Er wollte sie vögeln und sie wollten nicht?«, knurrte Decker von hinten und ich hätte ihn gerne geschlagen.
»Nein! Nein!, Mr… ich… nun ja…«
»Lucymaus will sagen, sie wollte Menschen helfen, die aber kein Geld für Hilfe haben«, sagte Jerika.
»Das ist nobel«, sagte ich.
»Aber auch dumm, meinen Sie.« Lucy konnte ihre Verbitterung nicht ganz verbergen, auch wenn sie sich kläglich Mühe gab. »Das haben meine alten Kollegen auch gesagt. Doch hier…« die junge Frau deutete auf irgendeinen imaginären Punkt vor ihr, »hier sagt man das nicht. Es ist wie eine Familie hier. Ich war… tatsächlich froh, als mich das Arbeitsbeschaffungsprogramm letztlich hierher transferiert hatte.«
Meine Augen verengten sich.
»Sie meinen das Programm für Extraterritoriale… Sie kommen aus Midwest?«, fragte ich misstrauisch.
»Jawohl.«
»Sie sind ein Flüchtling.«
»Und Sie sind ein Soldat, Mister Caballero… zumindest waren Sie es einstmals.«
Ich stockte.
»Sie sehen erstaunlich viel, Miss Keller.«
»Ich beobachte nur: Die Art, wie Sie reden, Ihre Haltung. Ich komme tatsächlich aus German-Midwest, wie Sie richtig festgestellt hatten, Mr. Caballero. Sie sind Soldat.«
»Und ich habe das Blut auf Ihrer Jacke gesehen, Mr. Schick. Ah, was haben Sie nur getan?«, flötete Jerika irgendwo hinter mir – wie es schien – zutiefst belustigt.
»Ich habe es versucht«, sagte ich.
»Ich auch«, erwiderte Lucy. Und ich verstand nicht.
»Pass auf!« Die Nervschaltung knirschte auf meiner Gehirnrinde. Der Schmerz entstellte für einen Moment mein Antlitz, doch Lucy hatte mir glücklicherweise den Rücken zugedreht. »Das Luder hat dich um den Finger gewickelt.«
»Ich forsche die Verdächtige lediglich aus, Sir«, erwiderte ich.
»Das tut sie auch. Offensichtlich. Sei vorsichtig mit dem, was du preisgibst, Caballero. Du wirst das hübsche Ding vielleicht noch heute Nacht erschießen müssen.«
Ich antwortete nicht. Decker hatte Recht – wie immer. Ich hätte mir zu gerne nun eine Zigarette angesteckt. Für eine Weile schritt unsere kleine Gruppe schweigend dahin. Ich blickte mich um. Der Platz schien bereits eine Müllgrube zu sein, ich sah ausgeschlachtete Jeeps und Trucks und die verrosteten Skelette von Baggern und anderem Industrie-Gerät. Ihre nächtlichen Schatten ragten zu unseren Seiten empor – ein Elefantenfriedhof am Ende der Welt – so schien es mir.
Ein leichter Nieselregen setzte nun ein und der Wind heulte stärker denn je. Meine angeschalteten Augen konnten jedoch selbst in dieser Dunkelheit sehen, wie sich Lucys feine Nackenhaare aufstellten. Ihre bloße Haut schimmerte unter den durchsichtigen Beinstrümpfen. Ob ein Mutant die Kälte spürt?, fragte ich mich.
»Sie haben sie mir gegeben, aber ich denke, Sie brauchen sie mehr als ich.«
Bevor Lucy reagieren konnte, hatte ich ihr die Jacke von hinten übergestülpt, als wäre sie eine Anziehpuppe und ich ein spielendes Mädchen. Wohl aus Reflex schlüpfte sie sofort in die Ärmel, bevor sie schließlich sich umdrehte und vehement protestierte:
»Nein, nein, Mister Caballero. Das geht doch nicht. Und außerdem… ich komme ja aus Midwest. Ich bin harte Winter gewöhnt…«
Auch Winterblumen brauchen also Schutz vor Frost, dachte ich mir.
»Ich insistiere, Miss Keller. Ihr Zittern kann doch wirklich niemand mitansehen.« Ich nickte ihr zu.
»Nun ja, wenn Ihnen mein Zittern so furchtbar auf die Nerven geht, kann ich wohl nicht nein sagen… Vielen Dank… Caballero.«
Und da lächelte Sie mich tatsächlich an. Und ja, ich muss mein Geständnis von zuvor wiederholen: Zum zweiten Mal in jener Wacht wurde mein Herz betrogen. Ich sah sie und die Freude floss von dem süßen Blick auf mich. Lucy Keller, die mich anlächelte, Lucy Keller die mit einer verlegenen und eleganten Drehung ihrer Finger sich eine feuerrote Strähne aus dem anmutigen Antlitz strich. Ihr Parfüm war Weihrauch und Schwefel und Frühlingswetter im Winter. Ich war nun auf ewig verloren – zum zweiten Mal.
»Können Sie uns etwas über diesen Frank Delgado sagen, Missy?« Deckers Stimme schnitt schroffer durch die Luft als die Kälte und trennte unser beider Geister wie das Klopfen von Eltern die Lippen zweier verliebter Teenager auf dem Zimmer. Zumindest fühlte ich so. Was Lucy in mir sah – Mann, Monster oder Hund – das wusste ich nicht. Sie drehte mir wieder den Rücken zu – ihr Nacken leuchtete mir aber noch wie eine weiße Wolke am Tag und ihr Haar brannte wie eine Feuersäule in der Nacht. Ich schüttelte den Kopf. Je länger die Nacht dauerte, desto stärker überlappten die Bilder meine Augen und desto tiefer sanken ihre Wurzeln in meinen Geist.
»Ich muss gestehen, Mister Decker, ich bin neu hier in diesem Unternehmen. Ich weiß noch nicht allzu viel über meine Kollegen. Aber ich denke… auch Mister Delgado ist erst vor kurzem unserer Familie beigetreten.«
»Das ist uns bereits bekannt. Haben Sie aber einmal persönlich mit ihm gesprochen? Wenn ja, wie war Ihr Eindruck von ihm? Scheuen Sie sich nicht über Details zu sprechen. Alles wichtig, verstehste? Für unsere Arbeit brauchen wir jede Information, die wir kriegen können.«
»Nun ja, wenn sie so fragen…« Lucy zögerte und ich wusste, dass sie mit sich rang. Letztlich entschied sie sich dafür, uns nichts zu sagen: »Ich würde sagen… er ist Idealist.«
»Wie Sie, Miss Keller?«, fragte ich
»Wie wir alle. Ich denke, jeder Mensch sucht letztlich das Gleiche, Mister Caballero, auch wenn jeder von einem anderen Blickwinkel aus anfängt.« Lucys Stimme klang wesentlich kühler als zuvor. Diese zarte Blume hatte ich wohl zertreten. Ich grinste und stumm folgten wir weiter der Führung der jungen Frau, die ich nun als Butcherin erkannte.
Letztlich durchquerten wir die Schatten der beiden Verbrennungstürme ohne Zwischenfälle und wir hatten den niedrig geduckten Komplex am anderen Ende des weiten Platzes erreicht. Ein flackerndes Licht fiel durch eine Glastür in die dunkle Nacht und stoppte vor unseren Fußspitzen. Lucy blieb stehen. Ich straffte meine Muskeln und rechnete mit allem.
»Ich muss mich für die Unannehmlichkeiten entschuldigen, meine Herren. Für die Dunkelheit meine ich. Die Lampe ist leider noch nicht repariert worden. Bitte achten Sie deshalb im Gang auf ihren Tritt. Sie wollen ja nicht in der plötzlichen Dunkelheit irgendwo anstoßen. Das Licht kann auch manchmal ganz ausgehen.«
Mit einem überraschend kräftigen Schwung, den ich der zierlichen Lucy nie zugetraut hätte, öffnete sie die Tür und ein Schwall von stickiger Wärme und Heizungsluft begrüßte uns. Decker musste laut niesen. Wie Entenkinder schritten wir hinter Lucy hinein in den schummrig erleuchteten Korridor. Die junge Assistentin stand vor uns und deutete auf eine unscheinbare weiße Tür zu unserer Rechten. Das Licht flackerte erneut und ließ ihre weißen Zähne aufblitzen. Mir fielen zum ersten mal ihre etwas großen Eckbeißer auf.
»Hinter dieser Tür befindet sich die Recreation- und Psycho-Wartungsanlage für unsere Schichtarbeiter.«
»Gut«, sagte Decker und drängte sich neben mir nach vorne. Doch erstaunlich mutig stellte sich Lucy vor die massige Gestalt meines Kollegen und versperrte die Türe.
»Bitte… meine Herren… wenn ich so forsch sein darf, diesen… Vorschlag zu machen: Würden Sie mir bitte gestatten mit den Herren Kollegen zu sprechen, bevor Sie Ihr… Verhör beginnen. Das wäre mir äußerst wichtig.«
»Warum das?« Decker schien ganz und gar nicht begeistert und ich machte mich bereit, die zierliche Frau so forsch wie nötig aber so sanft wie möglich aus dem Weg zu räumen.
»Nun ja, Sie verstehen doch sicherlich… ihre Erscheinung könnte meine Kollegen sicherlich erschrecken und einige von uns… nun ja… sie sind überzeugt von dem, was sie glauben und viele denken nun mal… dass ihre Behörde gegen ihre Überzeugungen steht…«
»Denken Sie auch so, Miss Keller?«, fragte ich.
»Ich versuche Ihnen und meinen Kollegen nur zu helfen. Das ist meine Überzeugung«, erwiderte sie kühl.
»Gehen Sie rein. Sie haben zwei Minuten. Dann kommen wir mit den dicken Dingern.« Decker tippte demonstrativ auf seine gefälschte Rolex-Armbanduhr. Lucy nickte hastig, öffnete die Tür und verschwand dahinter. Ich drehte mich entgeistert zu Decker und vergaß darüber, sogar über Nervschaltung zu funken.
»Warum?«
»Ihr Argument war einleuchtend. Wir sind hier in Feindgebiet, Caballero. Vergiss das nicht.«
»Ist sie nicht ebenso der Feind?«
»Ja. Sie wird offensichtlich die Butcher warnen und das wird wiederum die Aufmerksamkeit unseres eigentlichen Gastgebers auf sich ziehen. Ich habe den Plan geändert, Caballero. Wir brauchen Konflikt.«
»Du willst ihn provozieren.«
»Ich will Ihn aus der Deckung locken.«
»Du denkst, der Mutant wird tatsächlich kommen… zu uns.«
»Mach dich bereit, Caballero. Gleich darfst du Fass machen.«
Decker grinste, im schummrig flackernden Licht wirkte sein Antlitz wie eine aufgedunsene Wasserleiche neben den wundervoll gemeißelten Zügen Jerikas.
Ich nahm meine Hammerkrag in die Hand. Der Stahl fühlte sich so wuchtig und verlässlich wie immer an, der silberne Lauf schimmerte wie eine Schwertklinge in Mondeslicht getaucht.
»Oh, ist das eine dicke Kanone.« Ich spürte Jerikas feuchten, warmen Atem in meinem Nacken. »Nur eine reine Vorsichtsmaßnahme, Miss, keine Sorge. Bitte bleiben Sie zu Ihrer Sicherheit zurück«, murmelte ich.
»Sicherheit? Wo ist es denn sicherer, als hinter Ihrem breiten Rücken?«, seufzte Jerika. Mein Herz schlug schneller. Mein Blutdruck erreichte innerhalb weniger Momente nach meiner Aktivierung abnormale Höhen, die tödlich für jeden normalen Menschen gewesen wären. Ich konnte es kaum erwarten, dass Decker das Zeichen gab. Der ganze Körper unter der Nanopanzerschicht war zum Zerreißen gespannt, als die Muskeln ruckartig anschwollen. Ich war eine Pistole mit gespanntem Hahn, ein Bluthund, der an dem Käfig rüttelte.
»Noch T-30 Sekunden«, knirschte Deckers Stimme in der Nervschaltung.
Das Licht ging aus. Die Glühbirne über uns summte wütend und zerplatzte. Von einer Sekunde auf die andere wurden wir in Schwärze und Blindheit getaucht. Ein spitzer Schrei erschallte. Er war nicht aus Jerikas Mund entflohen.
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Beginn der Geschichte: https://styxhouse.club/2024/03/24/switch-head-switch-on-teil-1/
Vorheriges Kapitel: https://styxhouse.club/2024/06/18/switch-head-switch-on-teil-3/
Nächstes Kapitel: https://styxhouse.club/2024/07/15/switch-head-switch-on-teil-5/
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und
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