Eine Cyberpunk-Noir-Geschichte
Der Anruf kam 3 Uhr Morgens. Der Nervschalter in der Hirnrinde schrillte und ich erwachte aus einem vagen, diffusen Traum. Fetzen und Schemen und die imaginierte Wärme von weißen Schenkeln verflüchtigten sich wie der Rauch einer Zigarette in der kalten Winternacht. Stattdessen: Verwirrung, Schmerz und Chaos – zuerst war mir gar nicht bewusst, was mir geschah, was aber noch im Rahmen des Standardprotokolls lag. Agenten im REM brauchten etwa zwei Minuten, bis die Nervschaltung den Körper auf Höchstleistung brachte – zwei Minuten Fegefeuerpause, sozusagen – bevor man ins Inferno geworfen wurde.

Mein Kopf dröhnte, als hätten zwei Hämmer ihn von zwei Seiten gleichzeitig bearbeitet und der Schweiß brach mir aus allen Poren, während das Schrillen der Nervschaltung beständig über meine Gehirnrinde kratzte wie Fingernagel auf einer Schultafel. Doch schließlich drang eine Stimme durch all die Verwirrung und den abrupten Schmerz:
»Caballero, du bist wach.«
»Ja.«
»Deine Werte sind im Arsch.«
»Du hast mich nicht aus dem Hypnos geholt, um mir vom Rauchen abzuraten.«
»Ich sag´s nur: der neue Job – der wird haarig werden, Caballero. Der Chef sagte, ich könnte auch Halger anklingen.«
»Halger?«, ich lachte. Meine Kehle war so trocken wie Schleifpapier. Ich hustete. »So fertig bin ich noch nicht. Schieß los.«
»Gut. Zieh dich dick an. Du wirst die großen Dinger brauchen. Es geht um nen K/464.«
Urplötzlich war jeder Schmerz verschwunden. Meine Sinne waren nun so scharf gespannt, als hätte ich ne Panzerschokolade mit drei Tassen Kaffee und einem Schuss NarcCola runtergespült. Ich richtete mich Kerzengerade im Bett auf und meine Finger quetschten leicht das linke Ohrläppchen. Leiser als zuvor aber eindringlicher sprach nun die Stimme direkt in meinem Kopf:
»Gut, du hörst nun richtig zu: Die Meldung kam vor ner Stunde. Ist noch richtig frisch. Die zwei Bürotürme in Old-Light-Town, 3. Ecke, kennst du die?«
»Das ist in den Hopes. Bin schon unterwegs«, brummte ich. »Sag mir den Rest unterwegs. Keine Zeit zu verlieren.«
Ich brauchte keine Lampe, um mich im Zwielicht des Zimmers zurechtzufinden – das grelle Licht hätte meinen angeschalteten Augen nur geschadet. Ich schlüpfte in meine Kramer-Unterhosen und den grauen Socken vom letzten Tag, holte meine bequeme Cargo-Jeans aus dem Schmutzsack und warf mir schließlich Hemd, Panzer und Kragenjacke über. Nicht falsch verstehen: Normalerweise hasste ich es, ohne kalte Dusche zur Jagd aufzubrechen, aber bei einem K/464? Da verlor ich keinen einzigen Gedanken an Scheiß Sauberwäsche – was in Griffweite war, war in Griffweite. Ich zog mich an und bewaffnete mich. Die Tür schloss ich mit dem Lichtpunkt ab und marschierte daraufhin hastig die Treppen des heruntergekommenen Apartmentgebäudes hinunter. In dieser frühen Stunde war glücklicherweise noch kaum jemand unterwegs, so musste ich niemand mit meinen Augen schrecken. Ich tastete noch einmal an die Hammerkrag 577, der 5-Schuss Revolver mit dem langen Lauf war selbst zu Zeiten des Akquierirungs-Konzils schon veraltet gewesen, aber die erste Liebe war bei mir die einzige geblieben.
»Sehe ich das richtig? Du nimmst nur nen Fünfer Hammer für nen K/464?«
»Auch ein K/464 blutet mit ner .577«
»Wird ne lange Nacht. Bei sowas hätte ich lieber nen längeres Magazin, sag´s nur Caballero.«
»Fürn K/464 braucht man dickere Durchschlagskraft. Ne 7mm wie die Neo-Recusants kitzeln die nur. Scheiße, bei diesen Nerfs lachen wahrscheinlich selbst die Hemd-losen Rejects, geschweige denn wirkliches Jagdwild. Gibst du mir jetzt vernünftige Infos?«
»Ich weiß, Dornrösschen is grad aus ihrem feuchten Traum erwacht, aber kein Grund so zickig zu deinem alten Kumpel zu werden, Caballero.« Die andere Seite lache trocken. »Aber gut: Ich sag dir, wie´s ist: Um ca 0150 meldeten zwei Von-Neumann-Meldestellen an der Ecke Kensington ne Realitätsverschiebung um 1 Milliardstes Grad in Richtung Qliphoth.«
»Das ist kein K/464.«
»Sagten wir auch… die OpSecs die gerade auf Schicht waren, ham da eher auf einen mittelprächtigen Kalibrierungsfehler getippt und ein paar von den Technikern rübergeschickt – zur routine Wartung. Und da ja Weihnachten is, kannst dir denken, wie lang das gedauert hat, bis man da die Kabeldreher ausm Winterschlaf geklingelt hat…«
»Haben die keinen Bereitschaftsdienst?«
»Doch, aber keine so praktische Nervschaltung wie bei dir. Wenn die aufwachen, brauchen die erst einmal Kaffee und zwei Tabletten Metaamphythamine. Ist halt nicht jeder mit einem Switch Head der nächsten Generation gesegnet.« Ich ballte die Faust. Ich konnte das dreckige Grinsen der Stimme in meinem Kopf geradezu vor mir sehen. »Und du weißt ja, wie die Technik-Fuzzies sind, die schießen selbst auf ihren Toaster, wenn der hüpft. Keine Chance, da irgendwas mit dem Gehirn zu machen, da macht deren Gewerkschaft nich mit. Wie auch immer, der Kontakt mit unseren Kabeldrehern brach Punkt 0253 ab. Zu dieser Zeit maß die Zentrale noch einmal eine Realitätsverschiebung… Dieses mal um 5,08 Milliardstes Grad in Richtung Qulipoth…«
»Scheiße…«
»Das hat dein guter Freund hier auch gesagt… und sofort dich angerufen.«
»Scheiße…«, wiederholte ich. »Decker, wo bist du gerade?«
»Bin gleich am Einsatzort in den Hopes. Im Gegensatz zu dir war ich noch nicht in Aphrodites schöne Umarmung gefallen. Ich hab mich noch vor dir auf den Sprung gemacht.«
Mein roter Ford X160 wartete in der Garage – wie immer war ich zuerst überrascht eine dicke Staubschicht auf der Karosserie meines alten Arbeitskollegen zu sehen, aber schließlich gewöhnte ich mich an den Fakt, dass ich länger schlief als die meisten. Dafür wurde ich aber auch schneller wach. Mein Herz pumpte, die Atmung beschleunigte und die Augen nahmen jegliche Farben so strahlend hell und klar und genau war, als ob sie direkt auf die Linse gedruckt worden wären. In jenen Momenten hätte ich nur zu gerne ein Ross, mit dem ich in die Nacht hinausreiten könnte oder zumindest weiche, warme Schenkel unter mir, aber mein treuer Vierräder war das nächste beste. Der Motor röhrte auf, das Zittern unter meinem Hintern gab mir das Gefühl, mein Wagen wäre genauso erpicht darauf wie ich, endlich wieder zu arbeiten. »Na gut, alter Freund. Lass uns ein Paar Freaks umlegen!« Ich gab Gas.
Der rote Ford peitschte durch die Straßen. Um Punkt 0307 war noch kaum jemand auf den Beinen, so konnte ich die Geschwindigkeit des modifizierten und nicht ganz legalen 6 Zylinders voll ausnutzen. Matschgraue Schneehaufen, blinde Fenster und das Flackern greller Neonlichter rauschten an mir vorbei. Die Reifen quietschten, als ich die Abfahrt zum Intracity-Highway viel zu scharf nahm. Ich drehte den Futuro Jazz im Radio voll auf. Ich muss zugeben, in diesem Moment fühlte ich mich prächtig: ich war wach. Ich war lebendig. Und ich war auf der Jagd. Über der Straße tauchte eine blinkende Neoninschrift auf: ‚Thank you for visitee: New Extraordinaire Hopes!‘ Das ‚S‘ in Hopes war kaputt. Ein schales Lächeln stahl sich auf meine Lippen: Seitdem die Franzosen in der Schlacht um Hudson Bay gewonnen hatten, entdeckten erstaunlich viele Politiker und Stadtplaner ihr Faible für das Französische. Aber selbst der Gestank des feinsten französischen Kaviars konnte nicht das Miasma einer enttäuschten Hoffnung überdecken, die nun an meinen Seitenfenstern vorüberzog.
Kurz gesagt: Die Hopes und insbesondere das Old-Light-Viertel waren ein Drecksloch. Es gab keine Läden, keine schnieken Restaurants, keine Firmen, die Parks waren überwuchert und die Straßen nicht in Schuss. Nichts – absolut gar nichts – schien hier warm und lebenswert. Stattdessen zeigten sich an jeder Ecke die Stigmata von Gewalt und Apathie: Hier ein eingeschlagenes Fenster, dort eine niedergebrannte Ruine und die Straßen waren gesäumt mit ausgeschlachteten Autowracks. Der Müll lag teilweise bergehoch auf den Gehwegen. Alles sprach hier die schrille und zugleich dumpf blechernde Sprache der Verwahrlosung. Von den einstmaligen Investitionen war nichts übrig geblieben. Wenn auch sicherlich durch diese ganze Episode einige wenige Anzüge sehr viel reicher geworden sind. Ich drückte meinen Fuß noch fester aufs Gaspedal. Hier war der perfekte Jagdgrund – mein Revier. Die schrille Stimme in der Nervschaltung riss mich jedoch urplötzlich aus meinen Gedanken und die obsessiven Fantasien von Blut, weißer Haut und weichen Schenkeln verschwanden für einen Moment:
»Caballero, was tust du da? Scheiße, deine Werte würden eine läufige Hündin die Schamesröte ins Gesicht treiben.«
»Ich jage.« Im Rückspiegel reflektierte das bleiche Grinsen eines Totenschädels.
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9 thoughts on “Switch Head!! Switch On!!! Teil 1”